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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Nationalitätskämpfe

Europa in Mitleidenschaft zogen. Die ostgermcinischen Wanderstämme, die sich
schon von den Gestaden der Ostsee bis ans Schwarze Meer ausgebreitet hatten,
durchzogen die Balkanhalbinsel, Italien, Gallien, Spanien; die Vcmdcilen
endeten erst in Afrika. Sie alle gingen nach einer kurzen glänzenden Ge¬
schichte unter in dem sie umgebenden nach Zahl wie nach Gesittung überlegnen
Römertum. Die westgermanischen (deutschen) Stämme waren von so großen
Umwälzungen unter den Völkern Europas nicht unberührt geblieben; Lango¬
barden und Bruchstücke der Sueven und Sachsen wurden vom Strudel erfaßt
und teilten das Schicksal der Ostgermanen bis auf die Sachsenschar, die mit
den Langobarden nach Italien aufgebrochen sich den Rückweg in ihre nord¬
deutsche Heimat wieder erkämpfte. Aber die große Masse der Germanen
deutschen Stammes blieb doch trotz mancher Veränderungen, die auch sie über
sich ergehn lassen mußte, trotz ungeheuern Machtzuwachses einzelner Stämme
in geschlossener, zusammenhängender Masse in Mitteleuropa sitzen. Besonders
waren es nnter ihnen die Franken, die sich durch die Unterwerfung ganz
Galliens und weiterhin durch die allmähliche Vereinigung aller deutschen
Stämme unter ihrer Herrschaft zur größten Macht Europas erhoben. Wie
das fränkische Königshaus der Merowinger, so hatten zwar auch manche
fränkische Edle und Volksgenossen im unterworfnen Gallien, weithin unter
römische Provinzinlen zerstreut, eine neue Heimat gefunden. Sie gingen da¬
durch in ihren Nachkommen dem Stamme und der deutschen Nation verloren.
Aber die große Mehrheit des fränkischen Stammes bewahrte doch einen un-
unterbrochnem Zusammenhang mit den übrigen deutschen Stämmen. Und indem
sich so der salische Zweig der Franken in langsamem Vordringen über das
südliche Holland, Belgien und das angrenzende Nordfrankreich, der ripuarische
Zweig über Luxemburg und Lothringen ausbreitete, wurden weite Gebiete
westlich vom Rhein der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen.

In Oberdeutschland war zu derselben Zeit der Alemannenstamm der
Trüger einer ähnlichen Vorwärtsbewegung, indem er die Ebnen der Pfalz
und des Elsaß und einen großen Teil der heutigen Schweiz mit dichten Sied¬
lungen erfüllte, aus denen sich ebenfalls eine dauernde und beträchtliche Er¬
weiterung des deutscheu Sprachgebiets ergab. Die größte und nachhaltigste
Expansionskraft unter allen deutschen Stämmen haben aber die Sachsen be¬
wiesen. Schon früh hatte sich dieses seefahrende Volk an zahlreichen Punkten
der französischen und der britischen Küste festgesetzt: an der Loiremündung be¬
standen sächsische Niederlassungen, die Sachsen von Vciyeux haben sich lange
erhalten, und in dein Vorsprung der belgisch-französischen Küste zwischen
Boulogne, Dünkirchen und Se. Omer waren dicht gedrängte Siedlungen des
Sachsenstammes, die, sich an die sal-fränkischen Vlaemen anlehnend, bis ins
späte Mittelalter und in die neuere Zeit herein ihre germanische Sprache zu
behaupten vermochten.

Als dann um die Mitte des fünften Jahrhunderts die Auswandrung der
Sachsen und Angeln nach England größern Umfang annahm, wurde der Grund
gelegt zu einer Kolvnisationsthätigkeit, wie sie die Welt weder vorher noch
nachher gesehen hat, und deren Wirkungen sich noch heute weit entfernt von


Nationalitätskämpfe

Europa in Mitleidenschaft zogen. Die ostgermcinischen Wanderstämme, die sich
schon von den Gestaden der Ostsee bis ans Schwarze Meer ausgebreitet hatten,
durchzogen die Balkanhalbinsel, Italien, Gallien, Spanien; die Vcmdcilen
endeten erst in Afrika. Sie alle gingen nach einer kurzen glänzenden Ge¬
schichte unter in dem sie umgebenden nach Zahl wie nach Gesittung überlegnen
Römertum. Die westgermanischen (deutschen) Stämme waren von so großen
Umwälzungen unter den Völkern Europas nicht unberührt geblieben; Lango¬
barden und Bruchstücke der Sueven und Sachsen wurden vom Strudel erfaßt
und teilten das Schicksal der Ostgermanen bis auf die Sachsenschar, die mit
den Langobarden nach Italien aufgebrochen sich den Rückweg in ihre nord¬
deutsche Heimat wieder erkämpfte. Aber die große Masse der Germanen
deutschen Stammes blieb doch trotz mancher Veränderungen, die auch sie über
sich ergehn lassen mußte, trotz ungeheuern Machtzuwachses einzelner Stämme
in geschlossener, zusammenhängender Masse in Mitteleuropa sitzen. Besonders
waren es nnter ihnen die Franken, die sich durch die Unterwerfung ganz
Galliens und weiterhin durch die allmähliche Vereinigung aller deutschen
Stämme unter ihrer Herrschaft zur größten Macht Europas erhoben. Wie
das fränkische Königshaus der Merowinger, so hatten zwar auch manche
fränkische Edle und Volksgenossen im unterworfnen Gallien, weithin unter
römische Provinzinlen zerstreut, eine neue Heimat gefunden. Sie gingen da¬
durch in ihren Nachkommen dem Stamme und der deutschen Nation verloren.
Aber die große Mehrheit des fränkischen Stammes bewahrte doch einen un-
unterbrochnem Zusammenhang mit den übrigen deutschen Stämmen. Und indem
sich so der salische Zweig der Franken in langsamem Vordringen über das
südliche Holland, Belgien und das angrenzende Nordfrankreich, der ripuarische
Zweig über Luxemburg und Lothringen ausbreitete, wurden weite Gebiete
westlich vom Rhein der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen.

In Oberdeutschland war zu derselben Zeit der Alemannenstamm der
Trüger einer ähnlichen Vorwärtsbewegung, indem er die Ebnen der Pfalz
und des Elsaß und einen großen Teil der heutigen Schweiz mit dichten Sied¬
lungen erfüllte, aus denen sich ebenfalls eine dauernde und beträchtliche Er¬
weiterung des deutscheu Sprachgebiets ergab. Die größte und nachhaltigste
Expansionskraft unter allen deutschen Stämmen haben aber die Sachsen be¬
wiesen. Schon früh hatte sich dieses seefahrende Volk an zahlreichen Punkten
der französischen und der britischen Küste festgesetzt: an der Loiremündung be¬
standen sächsische Niederlassungen, die Sachsen von Vciyeux haben sich lange
erhalten, und in dein Vorsprung der belgisch-französischen Küste zwischen
Boulogne, Dünkirchen und Se. Omer waren dicht gedrängte Siedlungen des
Sachsenstammes, die, sich an die sal-fränkischen Vlaemen anlehnend, bis ins
späte Mittelalter und in die neuere Zeit herein ihre germanische Sprache zu
behaupten vermochten.

Als dann um die Mitte des fünften Jahrhunderts die Auswandrung der
Sachsen und Angeln nach England größern Umfang annahm, wurde der Grund
gelegt zu einer Kolvnisationsthätigkeit, wie sie die Welt weder vorher noch
nachher gesehen hat, und deren Wirkungen sich noch heute weit entfernt von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/200>, abgerufen am 28.05.2024.