Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die österreichische Staatskrise

lieferte und dabei nebenher mich die Deutschen in Österreich um den Rest ihres
nationalpolitischen Einflusses brachte. Elf Jahre waren seit der Verkündigung
der Dezemberverfassung verflossen; daß sie unzureichend, den Bedürfnissen des
Staats und allen seinen Völkern nicht entsprechend war, konnte schon jeder¬
mann einsehen, aber die deutschliberale Partei hatte nichts gelernt, in ihrem
verknöcherten Doktrinarismus übersah sie die Realitäten und klammerte sich
an das "historische Recht" der Deutschen, in Österreich zu herrschen, das doch
nur eine hohle Phrase war, wenn ihm nicht die politische Macht der Deutschen
einen lebendigen Inhalt gab.

Der Grundfehler, der beim Entwurf der Dezemberverfassung begangen
wurde, war der, daß sie nicht Österreich und seinen eigentümlichen Verhält¬
nissen auf den Leib geschrieben wurde. Maßgebend war vielmehr die Rücksicht
auf die dualistische Verfassung der Gesamtmonarchie, und ihr glaubte man
Rechnung zu trägem indem man, allerdings nur äußerlich, die österreichische
Verfassung so gestaltete, daß sie sich mit der ungarischen deckte. Das war um
so bequemer, als man damit auch den Anschauungen der damals in Österreich
maßgebenden dcutschliberaleu Verfassungspartei entgegenkam.

Wie in Ungarn -- so argumentierte mau in diesen Kreisen -- müsse
auch in Österreich die Verfassung zentralistisch sein, weil nur so wie jenseits
der Leithn das Magynrentnm, diesseits der Leitha das Deutschtum eine herr¬
schende Stellung beziehen könne. Das war der erste Irrtum. Die Deutsch¬
liberalen übersahen vollständig, daß die Stellung des Magyarentums in Ungarn
ganz mders war als die des Deutschtums in Österreich. Das Magyarentum
in Ungarn war unbeschadet aller parteipolitischer Unterschiede ein einheitlicher
festgefügter nationaler Körper, der sich in seinen Kämpfen mit dem Hause
Habsburg-Lothringen der Krone gegenüber eine mindestens gleichberechtigte
Stellung gesichert hatte, die gegenüber den andern Nationalitäten Ungarns
"och dadurch begünstigt wurde, daß diese über keinen historischen Adel, also
auch über keine unmittelbaren Beziehungen zur Krone verfügten. Das Deutsch¬
en in Österreich war in einer wesentlich andern Lage. War das Bestreben
der Magyaren seit Jahrhunderten darauf gerichtet, ihre Existenz als politisch
geordnete Nation zu sichern, so war für die Deutschen in Osterreich dieser
hervorragend konservative Zweck gnr nicht in Betracht gekommen. Die Mehr¬
heit der Deutschen, die sich politisch bethätigten, waren Fortschrittsmänner,
Liberale. Allerweltsleute, die, ohne selbst über ein nationales Programm zu
verfügen, sich nichtsdestoweniger für die edeln Polen oder das unglückliche
Hellenenvolk begeisterten, weil man eben als echter Fortschrittlcr ein Feind
des russischen und des türkischen Despotismus sein mußte. Erst in den sechziger
Jahren beginnt die nationale Saite bei den Deutschen Österreichs stärker dnrch-
zuklingcn, und mit Begeisterung nahm man den Satz an: Jenseits der Lettha
herrschen die Magyaren, diesseits die Deutschen. Theoretisch war also alles
in Ordnung. Die Dezemberverfassiing war ja daraufhin zugefchmtten worden;
da die Bureaukratie fast durchweg deutsch war, glaubte mau durch die zentra-
listische Einrichtung des Staats die Hegemonie des Deutschtums in Österreich
für alle Zeiten gesichert zu haben. Was die die Mehrheit bildenden Nicht-


Die österreichische Staatskrise

lieferte und dabei nebenher mich die Deutschen in Österreich um den Rest ihres
nationalpolitischen Einflusses brachte. Elf Jahre waren seit der Verkündigung
der Dezemberverfassung verflossen; daß sie unzureichend, den Bedürfnissen des
Staats und allen seinen Völkern nicht entsprechend war, konnte schon jeder¬
mann einsehen, aber die deutschliberale Partei hatte nichts gelernt, in ihrem
verknöcherten Doktrinarismus übersah sie die Realitäten und klammerte sich
an das „historische Recht" der Deutschen, in Österreich zu herrschen, das doch
nur eine hohle Phrase war, wenn ihm nicht die politische Macht der Deutschen
einen lebendigen Inhalt gab.

Der Grundfehler, der beim Entwurf der Dezemberverfassung begangen
wurde, war der, daß sie nicht Österreich und seinen eigentümlichen Verhält¬
nissen auf den Leib geschrieben wurde. Maßgebend war vielmehr die Rücksicht
auf die dualistische Verfassung der Gesamtmonarchie, und ihr glaubte man
Rechnung zu trägem indem man, allerdings nur äußerlich, die österreichische
Verfassung so gestaltete, daß sie sich mit der ungarischen deckte. Das war um
so bequemer, als man damit auch den Anschauungen der damals in Österreich
maßgebenden dcutschliberaleu Verfassungspartei entgegenkam.

Wie in Ungarn — so argumentierte mau in diesen Kreisen — müsse
auch in Österreich die Verfassung zentralistisch sein, weil nur so wie jenseits
der Leithn das Magynrentnm, diesseits der Leitha das Deutschtum eine herr¬
schende Stellung beziehen könne. Das war der erste Irrtum. Die Deutsch¬
liberalen übersahen vollständig, daß die Stellung des Magyarentums in Ungarn
ganz mders war als die des Deutschtums in Österreich. Das Magyarentum
in Ungarn war unbeschadet aller parteipolitischer Unterschiede ein einheitlicher
festgefügter nationaler Körper, der sich in seinen Kämpfen mit dem Hause
Habsburg-Lothringen der Krone gegenüber eine mindestens gleichberechtigte
Stellung gesichert hatte, die gegenüber den andern Nationalitäten Ungarns
«och dadurch begünstigt wurde, daß diese über keinen historischen Adel, also
auch über keine unmittelbaren Beziehungen zur Krone verfügten. Das Deutsch¬
en in Österreich war in einer wesentlich andern Lage. War das Bestreben
der Magyaren seit Jahrhunderten darauf gerichtet, ihre Existenz als politisch
geordnete Nation zu sichern, so war für die Deutschen in Osterreich dieser
hervorragend konservative Zweck gnr nicht in Betracht gekommen. Die Mehr¬
heit der Deutschen, die sich politisch bethätigten, waren Fortschrittsmänner,
Liberale. Allerweltsleute, die, ohne selbst über ein nationales Programm zu
verfügen, sich nichtsdestoweniger für die edeln Polen oder das unglückliche
Hellenenvolk begeisterten, weil man eben als echter Fortschrittlcr ein Feind
des russischen und des türkischen Despotismus sein mußte. Erst in den sechziger
Jahren beginnt die nationale Saite bei den Deutschen Österreichs stärker dnrch-
zuklingcn, und mit Begeisterung nahm man den Satz an: Jenseits der Lettha
herrschen die Magyaren, diesseits die Deutschen. Theoretisch war also alles
in Ordnung. Die Dezemberverfassiing war ja daraufhin zugefchmtten worden;
da die Bureaukratie fast durchweg deutsch war, glaubte mau durch die zentra-
listische Einrichtung des Staats die Hegemonie des Deutschtums in Österreich
für alle Zeiten gesichert zu haben. Was die die Mehrheit bildenden Nicht-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236827"/>
          <fw type="header" place="top"> Die österreichische Staatskrise</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1165" prev="#ID_1164"> lieferte und dabei nebenher mich die Deutschen in Österreich um den Rest ihres<lb/>
nationalpolitischen Einflusses brachte. Elf Jahre waren seit der Verkündigung<lb/>
der Dezemberverfassung verflossen; daß sie unzureichend, den Bedürfnissen des<lb/>
Staats und allen seinen Völkern nicht entsprechend war, konnte schon jeder¬<lb/>
mann einsehen, aber die deutschliberale Partei hatte nichts gelernt, in ihrem<lb/>
verknöcherten Doktrinarismus übersah sie die Realitäten und klammerte sich<lb/>
an das &#x201E;historische Recht" der Deutschen, in Österreich zu herrschen, das doch<lb/>
nur eine hohle Phrase war, wenn ihm nicht die politische Macht der Deutschen<lb/>
einen lebendigen Inhalt gab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1166"> Der Grundfehler, der beim Entwurf der Dezemberverfassung begangen<lb/>
wurde, war der, daß sie nicht Österreich und seinen eigentümlichen Verhält¬<lb/>
nissen auf den Leib geschrieben wurde. Maßgebend war vielmehr die Rücksicht<lb/>
auf die dualistische Verfassung der Gesamtmonarchie, und ihr glaubte man<lb/>
Rechnung zu trägem indem man, allerdings nur äußerlich, die österreichische<lb/>
Verfassung so gestaltete, daß sie sich mit der ungarischen deckte. Das war um<lb/>
so bequemer, als man damit auch den Anschauungen der damals in Österreich<lb/>
maßgebenden dcutschliberaleu Verfassungspartei entgegenkam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1167" next="#ID_1168"> Wie in Ungarn &#x2014; so argumentierte mau in diesen Kreisen &#x2014; müsse<lb/>
auch in Österreich die Verfassung zentralistisch sein, weil nur so wie jenseits<lb/>
der Leithn das Magynrentnm, diesseits der Leitha das Deutschtum eine herr¬<lb/>
schende Stellung beziehen könne. Das war der erste Irrtum. Die Deutsch¬<lb/>
liberalen übersahen vollständig, daß die Stellung des Magyarentums in Ungarn<lb/>
ganz mders war als die des Deutschtums in Österreich. Das Magyarentum<lb/>
in Ungarn war unbeschadet aller parteipolitischer Unterschiede ein einheitlicher<lb/>
festgefügter nationaler Körper, der sich in seinen Kämpfen mit dem Hause<lb/>
Habsburg-Lothringen der Krone gegenüber eine mindestens gleichberechtigte<lb/>
Stellung gesichert hatte, die gegenüber den andern Nationalitäten Ungarns<lb/>
«och dadurch begünstigt wurde, daß diese über keinen historischen Adel, also<lb/>
auch über keine unmittelbaren Beziehungen zur Krone verfügten. Das Deutsch¬<lb/>
en in Österreich war in einer wesentlich andern Lage. War das Bestreben<lb/>
der Magyaren seit Jahrhunderten darauf gerichtet, ihre Existenz als politisch<lb/>
geordnete Nation zu sichern, so war für die Deutschen in Osterreich dieser<lb/>
hervorragend konservative Zweck gnr nicht in Betracht gekommen. Die Mehr¬<lb/>
heit der Deutschen, die sich politisch bethätigten, waren Fortschrittsmänner,<lb/>
Liberale. Allerweltsleute, die, ohne selbst über ein nationales Programm zu<lb/>
verfügen, sich nichtsdestoweniger für die edeln Polen oder das unglückliche<lb/>
Hellenenvolk begeisterten, weil man eben als echter Fortschrittlcr ein Feind<lb/>
des russischen und des türkischen Despotismus sein mußte. Erst in den sechziger<lb/>
Jahren beginnt die nationale Saite bei den Deutschen Österreichs stärker dnrch-<lb/>
zuklingcn, und mit Begeisterung nahm man den Satz an: Jenseits der Lettha<lb/>
herrschen die Magyaren, diesseits die Deutschen. Theoretisch war also alles<lb/>
in Ordnung. Die Dezemberverfassiing war ja daraufhin zugefchmtten worden;<lb/>
da die Bureaukratie fast durchweg deutsch war, glaubte mau durch die zentra-<lb/>
listische Einrichtung des Staats die Hegemonie des Deutschtums in Österreich<lb/>
für alle Zeiten gesichert zu haben.  Was die die Mehrheit bildenden Nicht-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0303] Die österreichische Staatskrise lieferte und dabei nebenher mich die Deutschen in Österreich um den Rest ihres nationalpolitischen Einflusses brachte. Elf Jahre waren seit der Verkündigung der Dezemberverfassung verflossen; daß sie unzureichend, den Bedürfnissen des Staats und allen seinen Völkern nicht entsprechend war, konnte schon jeder¬ mann einsehen, aber die deutschliberale Partei hatte nichts gelernt, in ihrem verknöcherten Doktrinarismus übersah sie die Realitäten und klammerte sich an das „historische Recht" der Deutschen, in Österreich zu herrschen, das doch nur eine hohle Phrase war, wenn ihm nicht die politische Macht der Deutschen einen lebendigen Inhalt gab. Der Grundfehler, der beim Entwurf der Dezemberverfassung begangen wurde, war der, daß sie nicht Österreich und seinen eigentümlichen Verhält¬ nissen auf den Leib geschrieben wurde. Maßgebend war vielmehr die Rücksicht auf die dualistische Verfassung der Gesamtmonarchie, und ihr glaubte man Rechnung zu trägem indem man, allerdings nur äußerlich, die österreichische Verfassung so gestaltete, daß sie sich mit der ungarischen deckte. Das war um so bequemer, als man damit auch den Anschauungen der damals in Österreich maßgebenden dcutschliberaleu Verfassungspartei entgegenkam. Wie in Ungarn — so argumentierte mau in diesen Kreisen — müsse auch in Österreich die Verfassung zentralistisch sein, weil nur so wie jenseits der Leithn das Magynrentnm, diesseits der Leitha das Deutschtum eine herr¬ schende Stellung beziehen könne. Das war der erste Irrtum. Die Deutsch¬ liberalen übersahen vollständig, daß die Stellung des Magyarentums in Ungarn ganz mders war als die des Deutschtums in Österreich. Das Magyarentum in Ungarn war unbeschadet aller parteipolitischer Unterschiede ein einheitlicher festgefügter nationaler Körper, der sich in seinen Kämpfen mit dem Hause Habsburg-Lothringen der Krone gegenüber eine mindestens gleichberechtigte Stellung gesichert hatte, die gegenüber den andern Nationalitäten Ungarns «och dadurch begünstigt wurde, daß diese über keinen historischen Adel, also auch über keine unmittelbaren Beziehungen zur Krone verfügten. Das Deutsch¬ en in Österreich war in einer wesentlich andern Lage. War das Bestreben der Magyaren seit Jahrhunderten darauf gerichtet, ihre Existenz als politisch geordnete Nation zu sichern, so war für die Deutschen in Osterreich dieser hervorragend konservative Zweck gnr nicht in Betracht gekommen. Die Mehr¬ heit der Deutschen, die sich politisch bethätigten, waren Fortschrittsmänner, Liberale. Allerweltsleute, die, ohne selbst über ein nationales Programm zu verfügen, sich nichtsdestoweniger für die edeln Polen oder das unglückliche Hellenenvolk begeisterten, weil man eben als echter Fortschrittlcr ein Feind des russischen und des türkischen Despotismus sein mußte. Erst in den sechziger Jahren beginnt die nationale Saite bei den Deutschen Österreichs stärker dnrch- zuklingcn, und mit Begeisterung nahm man den Satz an: Jenseits der Lettha herrschen die Magyaren, diesseits die Deutschen. Theoretisch war also alles in Ordnung. Die Dezemberverfassiing war ja daraufhin zugefchmtten worden; da die Bureaukratie fast durchweg deutsch war, glaubte mau durch die zentra- listische Einrichtung des Staats die Hegemonie des Deutschtums in Österreich für alle Zeiten gesichert zu haben. Was die die Mehrheit bildenden Nicht-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/303
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/303>, abgerufen am 28.05.2024.