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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Die österreichische Staatsknsc

aber wirkte revolutionierend, und zwar nach zwei Seiten hin. Weil man in
nationaler Beziehung alles von Wien aus reglementieren wollte, wurde die
Zentralregierung mit streitigen nationalen Angelegenheiten überlastet. Der
geringste nationale Zwischenfall um der Peripherie setzte sofort das Zentrum
des verfassungsmäßigen Lebens und dadurch den ganzen Staat in Erregung,
und so wurde der Reichsrat statt einer neutralen, die gemeinsamen Interessen
aller Völker Österreichs wahrnehmenden Körperschaft die Wahlstatt, auf der
seit dreißig Jahren unausgesetzt die nationalen Gegensätze der österreichischen
Volksstämme aufeinanderstoßen. So konnte die Frage der Errichtung eines
simpeln slowenischen Untergymnasiums in CM eine große Parlamcntsmehrheit
sprengen, und so konnte und mußte sich das unmoralische Aushilfsmittel
einseitiger nationaler Konzessionen ausbilden. Der wogo al er-Moo, von
dem die deutschzentralistische Presse als der Politik Taaffes so verächtlich zu
sprechen pflegt, war keine Erfindung Taaffes, sondern die logische Folge der
Dezemberverfassllng.

Nicht minder verderblich wirkte diese aber auf das Verhältnis der Be¬
völkerung zur Staatsverwaltung. Indem sie alles nationale Leben unter
die Kontrolle des Staats stellte, tötete sie in den Volksstämmen die Liebe
zum Staate und machte ihn zum Gegenstand des Hasses aller. Die Völker
eines vielsprachigen Staats vertragen es eher, wenn ihnen eine dem wirklichen
Staatsbedürfnis, d. h. den Interessen der Gesamtheit selbst entsprechende Staats¬
organisation aufgezwungen wird, als wenn sie in ihrem nationalen Leben
Schritt auf Schritt auf den Staat als Polizeiorgan stoßen. Indem nun die
Dezemberverfassung und ihre Schöpfer die Reglung nationaler Fragen von
Fall zu Fall der Staatsverwaltung vorbehielten, kamen diese und ihre
Behörden fortgesetzt in die Zwangslage, gegen die eine oder die andre Natio¬
nalität entscheiden zu müssen und auf diese Weise das Mißtrauen und den
Haß aller zu ernten.

Nur wenn man alle diese natürlichen Folgen der Dezemberverfassung zu¬
sammenfaßt, vermag man den gegenwärtigen Zustand in Österreich zu ver-
stehn. Nicht die radikalen Deutschen und nicht die radikalen Tschechen sind
Schuld daran, daß der Staat nach der Dezemberverfassung immer rascher seiner
Auflösung entgegengeht, sondern die Unbrauchbarkeit dieser Verfassung, die
ohnehin schon längst nur noch dem Namen nach besteht, weil sie keinen wirk¬
lichen Inhalt mehr hat. Man vernichte mit einem Schlage die Radikalen in
allen Lagern, und sofort wird die faulende Dezemberverfassung neue gebären.
Dieser Fäulnisprozeß ist es, der das gesamte öffentliche politische Leben in
Österreich in geradezu unglaublicher Weise verderbt, die politische Einsicht auf
die niedrigste Stufe hinabgedrückt, die Staatsgesinnung in der Bevölkerung
nahezu getötet hat und jeden Fortschritt in politischer und wirtschaftlicher Be¬
ziehung hemmt. Es ist vielleicht das schlimmste Zeugnis für die Dezember-
Verfassung, daß in den .Kämpfen, die sie heraufbeschworen hat, das konstitutionelle
Bewußtsein im Volke, der konstitutionelle Gedanke so stark gelitten haben, daß
von den breiten Massen des Bürgertums in Österreich heute ein Staatsstreich
als Erlösung empfunden würde. Diese Stimmung der Öffentlichkeit in Oster-


Die österreichische Staatsknsc

aber wirkte revolutionierend, und zwar nach zwei Seiten hin. Weil man in
nationaler Beziehung alles von Wien aus reglementieren wollte, wurde die
Zentralregierung mit streitigen nationalen Angelegenheiten überlastet. Der
geringste nationale Zwischenfall um der Peripherie setzte sofort das Zentrum
des verfassungsmäßigen Lebens und dadurch den ganzen Staat in Erregung,
und so wurde der Reichsrat statt einer neutralen, die gemeinsamen Interessen
aller Völker Österreichs wahrnehmenden Körperschaft die Wahlstatt, auf der
seit dreißig Jahren unausgesetzt die nationalen Gegensätze der österreichischen
Volksstämme aufeinanderstoßen. So konnte die Frage der Errichtung eines
simpeln slowenischen Untergymnasiums in CM eine große Parlamcntsmehrheit
sprengen, und so konnte und mußte sich das unmoralische Aushilfsmittel
einseitiger nationaler Konzessionen ausbilden. Der wogo al er-Moo, von
dem die deutschzentralistische Presse als der Politik Taaffes so verächtlich zu
sprechen pflegt, war keine Erfindung Taaffes, sondern die logische Folge der
Dezemberverfassllng.

Nicht minder verderblich wirkte diese aber auf das Verhältnis der Be¬
völkerung zur Staatsverwaltung. Indem sie alles nationale Leben unter
die Kontrolle des Staats stellte, tötete sie in den Volksstämmen die Liebe
zum Staate und machte ihn zum Gegenstand des Hasses aller. Die Völker
eines vielsprachigen Staats vertragen es eher, wenn ihnen eine dem wirklichen
Staatsbedürfnis, d. h. den Interessen der Gesamtheit selbst entsprechende Staats¬
organisation aufgezwungen wird, als wenn sie in ihrem nationalen Leben
Schritt auf Schritt auf den Staat als Polizeiorgan stoßen. Indem nun die
Dezemberverfassung und ihre Schöpfer die Reglung nationaler Fragen von
Fall zu Fall der Staatsverwaltung vorbehielten, kamen diese und ihre
Behörden fortgesetzt in die Zwangslage, gegen die eine oder die andre Natio¬
nalität entscheiden zu müssen und auf diese Weise das Mißtrauen und den
Haß aller zu ernten.

Nur wenn man alle diese natürlichen Folgen der Dezemberverfassung zu¬
sammenfaßt, vermag man den gegenwärtigen Zustand in Österreich zu ver-
stehn. Nicht die radikalen Deutschen und nicht die radikalen Tschechen sind
Schuld daran, daß der Staat nach der Dezemberverfassung immer rascher seiner
Auflösung entgegengeht, sondern die Unbrauchbarkeit dieser Verfassung, die
ohnehin schon längst nur noch dem Namen nach besteht, weil sie keinen wirk¬
lichen Inhalt mehr hat. Man vernichte mit einem Schlage die Radikalen in
allen Lagern, und sofort wird die faulende Dezemberverfassung neue gebären.
Dieser Fäulnisprozeß ist es, der das gesamte öffentliche politische Leben in
Österreich in geradezu unglaublicher Weise verderbt, die politische Einsicht auf
die niedrigste Stufe hinabgedrückt, die Staatsgesinnung in der Bevölkerung
nahezu getötet hat und jeden Fortschritt in politischer und wirtschaftlicher Be¬
ziehung hemmt. Es ist vielleicht das schlimmste Zeugnis für die Dezember-
Verfassung, daß in den .Kämpfen, die sie heraufbeschworen hat, das konstitutionelle
Bewußtsein im Volke, der konstitutionelle Gedanke so stark gelitten haben, daß
von den breiten Massen des Bürgertums in Österreich heute ein Staatsstreich
als Erlösung empfunden würde. Diese Stimmung der Öffentlichkeit in Oster-


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[0308] Die österreichische Staatsknsc aber wirkte revolutionierend, und zwar nach zwei Seiten hin. Weil man in nationaler Beziehung alles von Wien aus reglementieren wollte, wurde die Zentralregierung mit streitigen nationalen Angelegenheiten überlastet. Der geringste nationale Zwischenfall um der Peripherie setzte sofort das Zentrum des verfassungsmäßigen Lebens und dadurch den ganzen Staat in Erregung, und so wurde der Reichsrat statt einer neutralen, die gemeinsamen Interessen aller Völker Österreichs wahrnehmenden Körperschaft die Wahlstatt, auf der seit dreißig Jahren unausgesetzt die nationalen Gegensätze der österreichischen Volksstämme aufeinanderstoßen. So konnte die Frage der Errichtung eines simpeln slowenischen Untergymnasiums in CM eine große Parlamcntsmehrheit sprengen, und so konnte und mußte sich das unmoralische Aushilfsmittel einseitiger nationaler Konzessionen ausbilden. Der wogo al er-Moo, von dem die deutschzentralistische Presse als der Politik Taaffes so verächtlich zu sprechen pflegt, war keine Erfindung Taaffes, sondern die logische Folge der Dezemberverfassllng. Nicht minder verderblich wirkte diese aber auf das Verhältnis der Be¬ völkerung zur Staatsverwaltung. Indem sie alles nationale Leben unter die Kontrolle des Staats stellte, tötete sie in den Volksstämmen die Liebe zum Staate und machte ihn zum Gegenstand des Hasses aller. Die Völker eines vielsprachigen Staats vertragen es eher, wenn ihnen eine dem wirklichen Staatsbedürfnis, d. h. den Interessen der Gesamtheit selbst entsprechende Staats¬ organisation aufgezwungen wird, als wenn sie in ihrem nationalen Leben Schritt auf Schritt auf den Staat als Polizeiorgan stoßen. Indem nun die Dezemberverfassung und ihre Schöpfer die Reglung nationaler Fragen von Fall zu Fall der Staatsverwaltung vorbehielten, kamen diese und ihre Behörden fortgesetzt in die Zwangslage, gegen die eine oder die andre Natio¬ nalität entscheiden zu müssen und auf diese Weise das Mißtrauen und den Haß aller zu ernten. Nur wenn man alle diese natürlichen Folgen der Dezemberverfassung zu¬ sammenfaßt, vermag man den gegenwärtigen Zustand in Österreich zu ver- stehn. Nicht die radikalen Deutschen und nicht die radikalen Tschechen sind Schuld daran, daß der Staat nach der Dezemberverfassung immer rascher seiner Auflösung entgegengeht, sondern die Unbrauchbarkeit dieser Verfassung, die ohnehin schon längst nur noch dem Namen nach besteht, weil sie keinen wirk¬ lichen Inhalt mehr hat. Man vernichte mit einem Schlage die Radikalen in allen Lagern, und sofort wird die faulende Dezemberverfassung neue gebären. Dieser Fäulnisprozeß ist es, der das gesamte öffentliche politische Leben in Österreich in geradezu unglaublicher Weise verderbt, die politische Einsicht auf die niedrigste Stufe hinabgedrückt, die Staatsgesinnung in der Bevölkerung nahezu getötet hat und jeden Fortschritt in politischer und wirtschaftlicher Be¬ ziehung hemmt. Es ist vielleicht das schlimmste Zeugnis für die Dezember- Verfassung, daß in den .Kämpfen, die sie heraufbeschworen hat, das konstitutionelle Bewußtsein im Volke, der konstitutionelle Gedanke so stark gelitten haben, daß von den breiten Massen des Bürgertums in Österreich heute ein Staatsstreich als Erlösung empfunden würde. Diese Stimmung der Öffentlichkeit in Oster-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/308>, abgerufen am 15.05.2024.