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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Doktor Duttmüller und sein Freund

unabsehbaren Folgen gefürchtet werden. Die Lage war ernst und forderte die
Peinlichste Aufmerksamkeit; doch hoffte er durch Anwendung von Lactophenin (ja
nicht Phanacetin!) in Verbindung mit Aspirin und scilicylsaurem Natron die Gefahr
beschwören zu können.

Duttmüller fand in Alice eine zuverlässige und unermüdliche Helferin. Alice
war aus ihrem träumerischen Wesen aufgewacht, sie war froh, eine Lebensaufgabe
zu haben, war froh zu dienen und zu Pflegen. Was der Doktor sagte, das wurde
geglaubt, als wenn es ein Evangelium gewesen wäre, und was er anordnete, das
geschah unweigerlich. Hierbei behandelte Doktor Duttmüller Alice mit einer gewissen
vertrauliche" Kollegialität, wie wenn sie sein Assistenzarzt wäre. Und Alice war
dafür dankbar. Jetzt kam sie sich nicht mehr vor wie eine Orchidee, die auf
fremden: Stamme wächst, jetzt hatte sie eignen festen Boden unter den Füßen.

Am Krankenbett der gnädigen Frau fanden lange Konferenzen statt. Dies
machte anch auf Duttmüller einen ganz besondern Eindruck. Es war ihm wie eine
neue Welt. Bisher hatte er sein eignes Schlafzimmer wie ein notwendiges Übel
behandelt. Seine Praxis hatte ihn in Krankensäle und in die Häuser von Arbeitern
und Bauern geführt. Hier trat ihm ein vornehmer Komfort entgegen, der auch
das Schlafzimmer nicht vernachlässigte, sondern es fein und behaglich ausstattete.
Bilder in Schlafzimmern, Bilder mit breitem goldnem Rahmen, das hatte er noch
nie gesehen, ebensowenig Betten von solchem Umfang und eine Chaiselongue am Fu߬
ende des Bettes. Was alle die Flaschen und Dinge ans dem Toilettentisch zu be-
deuten hatten, das war ihm völlig dunkel. Und dazu die eigentümliche Lage. Hier
die gnädige Frau mit halb geöffnetem Auge und gleichgiltigem Blick, und gegen¬
über das gnädige Fräulein, deren feines Profil sich nun von dem verhängten Fenster
abhob, oder die ihn nun mit vollem Blick ansah. Und das alles in der Dämme¬
rung des Krankenzimmers. Louis Duttmüller kam sich mehr denn je als Schwan
vor und sehnte sich durchaus nicht nach seinem Entenhofe zurück.

Manchmal war die Rede auf das Unglück auf dem Kaliwerke gekommen.
Duttmüller konnte mit großer Genugthuung feststellen, daß er gegründete Hoffnung
habe, alle Verunglückten wieder völlig herzustellen. Besonders gern weilte die Er¬
innerung bei dem kritische" Augenblick, wo der eine Bergmann aus unmittelbarer
Gefahr des Verbindens durch einen mutigen und geschickten Eingriff gerettet worden
war. Doktor Duttmüller verfehlte nicht, die Verdienste Alices hierbei in das ge¬
hörige Licht zu stellen, was diese zwar errötend aber nicht ungern anhörte. Später
kam dann die Rede mehr auf den vorliegenden Fall, den Kampf mit einem un¬
sichtbaren, schleichenden und doch in seiner Anzahl gefährlichen Feind, auf die
supponierten Bakterien der Influenza und die nachgewiesenen der Pneumonie. Die
Hellsichtigkeit der ärztlichen Kunst, mit der diese den verborgnen Feind entdeckt, die
Sicherheit, mit der sie das rechte Mittel findet, um die Zellen in ihrem Kampfe
mit den Scharen der Fremdlinge zu unterstützen und ihnen zum Siege zu ver¬
helfen, imponierten Allee. In ihrem Ohr klang der Mendclssohnsche Chor aus der
Antigone: Nichts gewaltigeres giebt es als den Menschen, mit dem Schlüsse: in allem
weiß er Rat, und ohne Rat findet ihn nie der kommende Tag. Hier in der ärzt¬
lichen Kunst war wahrlich etwas, was solchen Ruhm verdiente. Und diese ärzt¬
liche Kunst trat ihr entgegen in Gestalt eines stattlichen Mannes, eines Mannes, -
auf den sie sichtlich Eindruck machte, der im Verkehr mit ihr hier und da in Ver¬
wirrung geriet, was Frauen nicht ungern sehen. Wem galt nun ihre Verehrung,
der ärztlichen Kunst? oder vielleicht auch ein wenig ihrem Träger?

Auch Duttmüller imponierte die Art des jungen Mädchens, wie sie den Kopf
neigte und still, aber mit gesammelter Aufmerksamkeit zuhörte, wie sie seinen Worten
mit ihre" Gedanken vorauseilte, wie sie mit einem Blick übersah, mit einem schlichten
aber treffenden Worte zusammenfaßte, was er unter Zuhilfenahme gelehrter Termini
kaum in langer Rede darlegen konnte. Die vornehme Anmut, die in jeder Be¬
wegung, in jedem Worte das Richtige und Wohlthuende sagte und that, diese ihrer


Grenz boten I 1902 72
Doktor Duttmüller und sein Freund

unabsehbaren Folgen gefürchtet werden. Die Lage war ernst und forderte die
Peinlichste Aufmerksamkeit; doch hoffte er durch Anwendung von Lactophenin (ja
nicht Phanacetin!) in Verbindung mit Aspirin und scilicylsaurem Natron die Gefahr
beschwören zu können.

Duttmüller fand in Alice eine zuverlässige und unermüdliche Helferin. Alice
war aus ihrem träumerischen Wesen aufgewacht, sie war froh, eine Lebensaufgabe
zu haben, war froh zu dienen und zu Pflegen. Was der Doktor sagte, das wurde
geglaubt, als wenn es ein Evangelium gewesen wäre, und was er anordnete, das
geschah unweigerlich. Hierbei behandelte Doktor Duttmüller Alice mit einer gewissen
vertrauliche» Kollegialität, wie wenn sie sein Assistenzarzt wäre. Und Alice war
dafür dankbar. Jetzt kam sie sich nicht mehr vor wie eine Orchidee, die auf
fremden: Stamme wächst, jetzt hatte sie eignen festen Boden unter den Füßen.

Am Krankenbett der gnädigen Frau fanden lange Konferenzen statt. Dies
machte anch auf Duttmüller einen ganz besondern Eindruck. Es war ihm wie eine
neue Welt. Bisher hatte er sein eignes Schlafzimmer wie ein notwendiges Übel
behandelt. Seine Praxis hatte ihn in Krankensäle und in die Häuser von Arbeitern
und Bauern geführt. Hier trat ihm ein vornehmer Komfort entgegen, der auch
das Schlafzimmer nicht vernachlässigte, sondern es fein und behaglich ausstattete.
Bilder in Schlafzimmern, Bilder mit breitem goldnem Rahmen, das hatte er noch
nie gesehen, ebensowenig Betten von solchem Umfang und eine Chaiselongue am Fu߬
ende des Bettes. Was alle die Flaschen und Dinge ans dem Toilettentisch zu be-
deuten hatten, das war ihm völlig dunkel. Und dazu die eigentümliche Lage. Hier
die gnädige Frau mit halb geöffnetem Auge und gleichgiltigem Blick, und gegen¬
über das gnädige Fräulein, deren feines Profil sich nun von dem verhängten Fenster
abhob, oder die ihn nun mit vollem Blick ansah. Und das alles in der Dämme¬
rung des Krankenzimmers. Louis Duttmüller kam sich mehr denn je als Schwan
vor und sehnte sich durchaus nicht nach seinem Entenhofe zurück.

Manchmal war die Rede auf das Unglück auf dem Kaliwerke gekommen.
Duttmüller konnte mit großer Genugthuung feststellen, daß er gegründete Hoffnung
habe, alle Verunglückten wieder völlig herzustellen. Besonders gern weilte die Er¬
innerung bei dem kritische» Augenblick, wo der eine Bergmann aus unmittelbarer
Gefahr des Verbindens durch einen mutigen und geschickten Eingriff gerettet worden
war. Doktor Duttmüller verfehlte nicht, die Verdienste Alices hierbei in das ge¬
hörige Licht zu stellen, was diese zwar errötend aber nicht ungern anhörte. Später
kam dann die Rede mehr auf den vorliegenden Fall, den Kampf mit einem un¬
sichtbaren, schleichenden und doch in seiner Anzahl gefährlichen Feind, auf die
supponierten Bakterien der Influenza und die nachgewiesenen der Pneumonie. Die
Hellsichtigkeit der ärztlichen Kunst, mit der diese den verborgnen Feind entdeckt, die
Sicherheit, mit der sie das rechte Mittel findet, um die Zellen in ihrem Kampfe
mit den Scharen der Fremdlinge zu unterstützen und ihnen zum Siege zu ver¬
helfen, imponierten Allee. In ihrem Ohr klang der Mendclssohnsche Chor aus der
Antigone: Nichts gewaltigeres giebt es als den Menschen, mit dem Schlüsse: in allem
weiß er Rat, und ohne Rat findet ihn nie der kommende Tag. Hier in der ärzt¬
lichen Kunst war wahrlich etwas, was solchen Ruhm verdiente. Und diese ärzt¬
liche Kunst trat ihr entgegen in Gestalt eines stattlichen Mannes, eines Mannes, -
auf den sie sichtlich Eindruck machte, der im Verkehr mit ihr hier und da in Ver¬
wirrung geriet, was Frauen nicht ungern sehen. Wem galt nun ihre Verehrung,
der ärztlichen Kunst? oder vielleicht auch ein wenig ihrem Träger?

Auch Duttmüller imponierte die Art des jungen Mädchens, wie sie den Kopf
neigte und still, aber mit gesammelter Aufmerksamkeit zuhörte, wie sie seinen Worten
mit ihre« Gedanken vorauseilte, wie sie mit einem Blick übersah, mit einem schlichten
aber treffenden Worte zusammenfaßte, was er unter Zuhilfenahme gelehrter Termini
kaum in langer Rede darlegen konnte. Die vornehme Anmut, die in jeder Be¬
wegung, in jedem Worte das Richtige und Wohlthuende sagte und that, diese ihrer


Grenz boten I 1902 72
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[0577] Doktor Duttmüller und sein Freund unabsehbaren Folgen gefürchtet werden. Die Lage war ernst und forderte die Peinlichste Aufmerksamkeit; doch hoffte er durch Anwendung von Lactophenin (ja nicht Phanacetin!) in Verbindung mit Aspirin und scilicylsaurem Natron die Gefahr beschwören zu können. Duttmüller fand in Alice eine zuverlässige und unermüdliche Helferin. Alice war aus ihrem träumerischen Wesen aufgewacht, sie war froh, eine Lebensaufgabe zu haben, war froh zu dienen und zu Pflegen. Was der Doktor sagte, das wurde geglaubt, als wenn es ein Evangelium gewesen wäre, und was er anordnete, das geschah unweigerlich. Hierbei behandelte Doktor Duttmüller Alice mit einer gewissen vertrauliche» Kollegialität, wie wenn sie sein Assistenzarzt wäre. Und Alice war dafür dankbar. Jetzt kam sie sich nicht mehr vor wie eine Orchidee, die auf fremden: Stamme wächst, jetzt hatte sie eignen festen Boden unter den Füßen. Am Krankenbett der gnädigen Frau fanden lange Konferenzen statt. Dies machte anch auf Duttmüller einen ganz besondern Eindruck. Es war ihm wie eine neue Welt. Bisher hatte er sein eignes Schlafzimmer wie ein notwendiges Übel behandelt. Seine Praxis hatte ihn in Krankensäle und in die Häuser von Arbeitern und Bauern geführt. Hier trat ihm ein vornehmer Komfort entgegen, der auch das Schlafzimmer nicht vernachlässigte, sondern es fein und behaglich ausstattete. Bilder in Schlafzimmern, Bilder mit breitem goldnem Rahmen, das hatte er noch nie gesehen, ebensowenig Betten von solchem Umfang und eine Chaiselongue am Fu߬ ende des Bettes. Was alle die Flaschen und Dinge ans dem Toilettentisch zu be- deuten hatten, das war ihm völlig dunkel. Und dazu die eigentümliche Lage. Hier die gnädige Frau mit halb geöffnetem Auge und gleichgiltigem Blick, und gegen¬ über das gnädige Fräulein, deren feines Profil sich nun von dem verhängten Fenster abhob, oder die ihn nun mit vollem Blick ansah. Und das alles in der Dämme¬ rung des Krankenzimmers. Louis Duttmüller kam sich mehr denn je als Schwan vor und sehnte sich durchaus nicht nach seinem Entenhofe zurück. Manchmal war die Rede auf das Unglück auf dem Kaliwerke gekommen. Duttmüller konnte mit großer Genugthuung feststellen, daß er gegründete Hoffnung habe, alle Verunglückten wieder völlig herzustellen. Besonders gern weilte die Er¬ innerung bei dem kritische» Augenblick, wo der eine Bergmann aus unmittelbarer Gefahr des Verbindens durch einen mutigen und geschickten Eingriff gerettet worden war. Doktor Duttmüller verfehlte nicht, die Verdienste Alices hierbei in das ge¬ hörige Licht zu stellen, was diese zwar errötend aber nicht ungern anhörte. Später kam dann die Rede mehr auf den vorliegenden Fall, den Kampf mit einem un¬ sichtbaren, schleichenden und doch in seiner Anzahl gefährlichen Feind, auf die supponierten Bakterien der Influenza und die nachgewiesenen der Pneumonie. Die Hellsichtigkeit der ärztlichen Kunst, mit der diese den verborgnen Feind entdeckt, die Sicherheit, mit der sie das rechte Mittel findet, um die Zellen in ihrem Kampfe mit den Scharen der Fremdlinge zu unterstützen und ihnen zum Siege zu ver¬ helfen, imponierten Allee. In ihrem Ohr klang der Mendclssohnsche Chor aus der Antigone: Nichts gewaltigeres giebt es als den Menschen, mit dem Schlüsse: in allem weiß er Rat, und ohne Rat findet ihn nie der kommende Tag. Hier in der ärzt¬ lichen Kunst war wahrlich etwas, was solchen Ruhm verdiente. Und diese ärzt¬ liche Kunst trat ihr entgegen in Gestalt eines stattlichen Mannes, eines Mannes, - auf den sie sichtlich Eindruck machte, der im Verkehr mit ihr hier und da in Ver¬ wirrung geriet, was Frauen nicht ungern sehen. Wem galt nun ihre Verehrung, der ärztlichen Kunst? oder vielleicht auch ein wenig ihrem Träger? Auch Duttmüller imponierte die Art des jungen Mädchens, wie sie den Kopf neigte und still, aber mit gesammelter Aufmerksamkeit zuhörte, wie sie seinen Worten mit ihre« Gedanken vorauseilte, wie sie mit einem Blick übersah, mit einem schlichten aber treffenden Worte zusammenfaßte, was er unter Zuhilfenahme gelehrter Termini kaum in langer Rede darlegen konnte. Die vornehme Anmut, die in jeder Be¬ wegung, in jedem Worte das Richtige und Wohlthuende sagte und that, diese ihrer Grenz boten I 1902 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/577>, abgerufen am 28.05.2024.