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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Dante

hinausgehn, benutzen. Es fällt auch auf, wie gut dieses Buch im Gegensatz
zu so vielen in Italien gedruckten korrigiert ist, ein Verdienst, an dem wohl
die Verlagshandlung reichlichen Anteil hat.

Professor Kohler, der Nachdichter der Heiligen Reise, der sein Purgatorio
dem kürzlich verstorbnen Paul Scheffer-Boichorst gewidmet hat, bedient sich
gereimter Terzinen, die poetischer wirken, wegen des Reimzwangs aber auch
einen Übersetzer leichter veranlassen, sich von dem Original zu entfernen, als
wenn er reimlose Jamben gewählt hätte. Er will aber auch keine Übersetzung
liefern, denn Übersetzungen hält er für überflüssig, weil Dante in seiner eignen
Sprache gelesen werden solle, sondern er will dem deutschen Publikum etwas
geben, was ihm auch das Original nicht zu gewähren vermöge, eine ohne
Kommentar verständliche Dichtung, die die Hauptschönheiten und Tiefen der
Dantischen Poesie wiedergiebt. Wiederholt erklärt er in seiner Vorrede diesen
Weg für den einzig zulässigen, und dabei sei es Sache des Tales, wie weit
man bei Dante stehn zu bleiben oder von ihm abzuweichen für gut finde.
"In dieser Beziehung bin ich nicht ängstlich gewesen, sondern habe meinem
dichterischen Genius freien Pfad gestattet, ohne mir Bedenken zu machen, ob
nicht in einzelnen Punkten ein näherer Anschluß an das Original möglich ge¬
wesen wäre; den Satz, daß vom Original nur dann abzuweichen sei, wenn
eine unbedingte Notwendigkeit es gebietet, konnte ich nicht anerkennen, denn
es handelt sich nicht um Wiedergabe, sondern um Eigendichtung, die nicht nur
lesbar, sondern poetisch wirksam sein soll." Wir bekennen nun gern, daß seine
fließenden Verse sich sehr augenehm lesen, daß sie uns durch ihren Wohllaut
gewinnen und auch mit dem, was sie uns sagen, ausdrucksvoll wirken, wir
gestehn sogar, daß seiue Dichtung im ganzen in ihrem freien Zuge, ohne
Steifheit und Künstelei, auf Leser den Eindruck eines Originals machen kann.
Ob aber auch des Originals, des ganzen Originals? Ob nicht wesentliche
"Hauptschönheiten" verloren gegangen sind, vielleicht verloren gehn mußten
als Opfer der Freiheit, die der Nachdichter sich umhin, wo ein engerer An¬
schluß an den Urtext der poetischen Wirkung seiner Nachdichtung im Wege
gewesen wäre? Es würde unnütz sein, die prinzipielle Frage, welcher Verlust
der größere sei, nachdem sie der Verfasser von seinem Standpunkt aus ent¬
schieden hat, wieder aufzunehmen. Wir möchten nur mit einigen Beispielen
andeuten, wie es sich mit dein einen der beiden Verluste verhält. Im vierten
Gesänge, da wo Belaeqna zusammengekauert hockt, mit dem Kopf zwischen den
hochgezogneu Knieen, macht Dante seinen Führer aufmerksam auf den Anblick
dieses Mannes, "dem Faulheit an der Wiege ward gesungen," wie Kohler
übersetzt. Im Urtext heißt es viel sinnlicher: "Als ob die Faulheit seine
Schwester wäre."

Der dreiundzwanzigste Gesang hebt mit einem Vergleich an, den Kohler
so wiedergiebt:

Im Original aber durchdringt des Dichters Auge fixierend das Laubwerk,


Dante

hinausgehn, benutzen. Es fällt auch auf, wie gut dieses Buch im Gegensatz
zu so vielen in Italien gedruckten korrigiert ist, ein Verdienst, an dem wohl
die Verlagshandlung reichlichen Anteil hat.

Professor Kohler, der Nachdichter der Heiligen Reise, der sein Purgatorio
dem kürzlich verstorbnen Paul Scheffer-Boichorst gewidmet hat, bedient sich
gereimter Terzinen, die poetischer wirken, wegen des Reimzwangs aber auch
einen Übersetzer leichter veranlassen, sich von dem Original zu entfernen, als
wenn er reimlose Jamben gewählt hätte. Er will aber auch keine Übersetzung
liefern, denn Übersetzungen hält er für überflüssig, weil Dante in seiner eignen
Sprache gelesen werden solle, sondern er will dem deutschen Publikum etwas
geben, was ihm auch das Original nicht zu gewähren vermöge, eine ohne
Kommentar verständliche Dichtung, die die Hauptschönheiten und Tiefen der
Dantischen Poesie wiedergiebt. Wiederholt erklärt er in seiner Vorrede diesen
Weg für den einzig zulässigen, und dabei sei es Sache des Tales, wie weit
man bei Dante stehn zu bleiben oder von ihm abzuweichen für gut finde.
„In dieser Beziehung bin ich nicht ängstlich gewesen, sondern habe meinem
dichterischen Genius freien Pfad gestattet, ohne mir Bedenken zu machen, ob
nicht in einzelnen Punkten ein näherer Anschluß an das Original möglich ge¬
wesen wäre; den Satz, daß vom Original nur dann abzuweichen sei, wenn
eine unbedingte Notwendigkeit es gebietet, konnte ich nicht anerkennen, denn
es handelt sich nicht um Wiedergabe, sondern um Eigendichtung, die nicht nur
lesbar, sondern poetisch wirksam sein soll." Wir bekennen nun gern, daß seine
fließenden Verse sich sehr augenehm lesen, daß sie uns durch ihren Wohllaut
gewinnen und auch mit dem, was sie uns sagen, ausdrucksvoll wirken, wir
gestehn sogar, daß seiue Dichtung im ganzen in ihrem freien Zuge, ohne
Steifheit und Künstelei, auf Leser den Eindruck eines Originals machen kann.
Ob aber auch des Originals, des ganzen Originals? Ob nicht wesentliche
„Hauptschönheiten" verloren gegangen sind, vielleicht verloren gehn mußten
als Opfer der Freiheit, die der Nachdichter sich umhin, wo ein engerer An¬
schluß an den Urtext der poetischen Wirkung seiner Nachdichtung im Wege
gewesen wäre? Es würde unnütz sein, die prinzipielle Frage, welcher Verlust
der größere sei, nachdem sie der Verfasser von seinem Standpunkt aus ent¬
schieden hat, wieder aufzunehmen. Wir möchten nur mit einigen Beispielen
andeuten, wie es sich mit dein einen der beiden Verluste verhält. Im vierten
Gesänge, da wo Belaeqna zusammengekauert hockt, mit dem Kopf zwischen den
hochgezogneu Knieen, macht Dante seinen Führer aufmerksam auf den Anblick
dieses Mannes, „dem Faulheit an der Wiege ward gesungen," wie Kohler
übersetzt. Im Urtext heißt es viel sinnlicher: „Als ob die Faulheit seine
Schwester wäre."

Der dreiundzwanzigste Gesang hebt mit einem Vergleich an, den Kohler
so wiedergiebt:

Im Original aber durchdringt des Dichters Auge fixierend das Laubwerk,


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[0612] Dante hinausgehn, benutzen. Es fällt auch auf, wie gut dieses Buch im Gegensatz zu so vielen in Italien gedruckten korrigiert ist, ein Verdienst, an dem wohl die Verlagshandlung reichlichen Anteil hat. Professor Kohler, der Nachdichter der Heiligen Reise, der sein Purgatorio dem kürzlich verstorbnen Paul Scheffer-Boichorst gewidmet hat, bedient sich gereimter Terzinen, die poetischer wirken, wegen des Reimzwangs aber auch einen Übersetzer leichter veranlassen, sich von dem Original zu entfernen, als wenn er reimlose Jamben gewählt hätte. Er will aber auch keine Übersetzung liefern, denn Übersetzungen hält er für überflüssig, weil Dante in seiner eignen Sprache gelesen werden solle, sondern er will dem deutschen Publikum etwas geben, was ihm auch das Original nicht zu gewähren vermöge, eine ohne Kommentar verständliche Dichtung, die die Hauptschönheiten und Tiefen der Dantischen Poesie wiedergiebt. Wiederholt erklärt er in seiner Vorrede diesen Weg für den einzig zulässigen, und dabei sei es Sache des Tales, wie weit man bei Dante stehn zu bleiben oder von ihm abzuweichen für gut finde. „In dieser Beziehung bin ich nicht ängstlich gewesen, sondern habe meinem dichterischen Genius freien Pfad gestattet, ohne mir Bedenken zu machen, ob nicht in einzelnen Punkten ein näherer Anschluß an das Original möglich ge¬ wesen wäre; den Satz, daß vom Original nur dann abzuweichen sei, wenn eine unbedingte Notwendigkeit es gebietet, konnte ich nicht anerkennen, denn es handelt sich nicht um Wiedergabe, sondern um Eigendichtung, die nicht nur lesbar, sondern poetisch wirksam sein soll." Wir bekennen nun gern, daß seine fließenden Verse sich sehr augenehm lesen, daß sie uns durch ihren Wohllaut gewinnen und auch mit dem, was sie uns sagen, ausdrucksvoll wirken, wir gestehn sogar, daß seiue Dichtung im ganzen in ihrem freien Zuge, ohne Steifheit und Künstelei, auf Leser den Eindruck eines Originals machen kann. Ob aber auch des Originals, des ganzen Originals? Ob nicht wesentliche „Hauptschönheiten" verloren gegangen sind, vielleicht verloren gehn mußten als Opfer der Freiheit, die der Nachdichter sich umhin, wo ein engerer An¬ schluß an den Urtext der poetischen Wirkung seiner Nachdichtung im Wege gewesen wäre? Es würde unnütz sein, die prinzipielle Frage, welcher Verlust der größere sei, nachdem sie der Verfasser von seinem Standpunkt aus ent¬ schieden hat, wieder aufzunehmen. Wir möchten nur mit einigen Beispielen andeuten, wie es sich mit dein einen der beiden Verluste verhält. Im vierten Gesänge, da wo Belaeqna zusammengekauert hockt, mit dem Kopf zwischen den hochgezogneu Knieen, macht Dante seinen Führer aufmerksam auf den Anblick dieses Mannes, „dem Faulheit an der Wiege ward gesungen," wie Kohler übersetzt. Im Urtext heißt es viel sinnlicher: „Als ob die Faulheit seine Schwester wäre." Der dreiundzwanzigste Gesang hebt mit einem Vergleich an, den Kohler so wiedergiebt: Im Original aber durchdringt des Dichters Auge fixierend das Laubwerk,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/612>, abgerufen am 28.05.2024.