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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Dante

und so macht es auch der nach kleinen Vögeln spähende Müßiggänger, er ist
höchst gespannt und nichts weniger als ein staunender Träumer:

und dieses prächtige "Sein Leben verlieren hinter einem Vögelchen" geht
außerdem noch bei Köhler ganz verloren. Im Eingang des achten Gesangs
vernehmen wir einen reinen lyrischen Klang von der höchsten Art, wie sie
dann entsteht, wenn plötzlich in ein empfängliches und bewegtes Gemüt ein
verwandter Natureindruck fällt. Wer kennt nicht die Melancholie eines erstell
Abends auf einer Reise, die uus aus der Heimat oder von lieben Freunden
hinweggeführt hat? Im Geräusch des Tages haben uns neue Eindrücke an¬
gezogen und zerstreut, nun schickt die Nacht ihre Vorboten, und leise kehren
die verscheuchten Abschiedsgefnhle in unsre Seele zurück. Dante deutet diesen
Gemütszustand durch zwei Situationen um: jemand ist zu Schiff gegangen,
und sein Herz wird weich am Abend, dessen Stille man ja besonders auf dein
Meere als Einsamkeit fühlt; ein Wandersmann hört hinter sich eine ferne
Abendglocke läuten. Die Verse sind so voller Musik, daß wir sie für den einen
und den andern unsrer Leser zum Auswendiglernen hierher setzen müssen:

lÄ's. ß'i" I'öl'g. vus volM 'I ctisio
^.'navigÄiiti s iiitsQA'isczs it ouvro,
I^o all o'tuui clotto g,'Ä">Ioi mnioi "Mio;
vus Jo rü,,ovo psröArin d'-uiwriz
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Otnz ZM" 'I giorllv pi^llMr obs si wuors.

Kohlers Übertragung lautet:

Die Stunde wars, wo banges, stilles Sehnen
Don Wanderer beschleicht; er geht allein
Am Abschiedstag, nachdem gestillt die Thränen.
Der Lieben denkt er, wenn durch Busch und Hain
Das Glöckchen tönt, als wolls den Tag beweinen,
Der mit ihm sanft verklingt im Abendschein.

Wir finden sie außerordentlich anmutig und wohlklingend, und sie giebt auch
den allgemeinen Sinn des Originals deutlich und leicht, ohne einen Aufwand
des Nnchdeukens, wieder. Aber der Leser wird ohne weiteres empfinden, daß
bei Dante viel mehr steht als bei Kohler, der das wichtige ^'naviK-urti ganz
hat ins Wasser fallen lassen und dafür das gar nicht passende Flickwort
..banges" der ersten Zeile in den Kauf giebt.

Wir sind uns des bescheidnen Werth unsrer Einwendungen wohl bewußt,
zumal in den Augen des Verfassers, der in der Vorrede sagt: "Nach dem
obigen versteht es sich, daß mich die Stimmen derer, die wegen der Ab¬
weichungen vom Original ihren Tadel erheben, völlig unberührt lassen; wer
die Dichtung nicht von dem Standpunkt aus beurteilt, "uf den sie sich stellt,
dessen Urteil ist nicht weiter zu beachten. Wer so wie ich Äquivalente zu


Dante

und so macht es auch der nach kleinen Vögeln spähende Müßiggänger, er ist
höchst gespannt und nichts weniger als ein staunender Träumer:

und dieses prächtige „Sein Leben verlieren hinter einem Vögelchen" geht
außerdem noch bei Köhler ganz verloren. Im Eingang des achten Gesangs
vernehmen wir einen reinen lyrischen Klang von der höchsten Art, wie sie
dann entsteht, wenn plötzlich in ein empfängliches und bewegtes Gemüt ein
verwandter Natureindruck fällt. Wer kennt nicht die Melancholie eines erstell
Abends auf einer Reise, die uus aus der Heimat oder von lieben Freunden
hinweggeführt hat? Im Geräusch des Tages haben uns neue Eindrücke an¬
gezogen und zerstreut, nun schickt die Nacht ihre Vorboten, und leise kehren
die verscheuchten Abschiedsgefnhle in unsre Seele zurück. Dante deutet diesen
Gemütszustand durch zwei Situationen um: jemand ist zu Schiff gegangen,
und sein Herz wird weich am Abend, dessen Stille man ja besonders auf dein
Meere als Einsamkeit fühlt; ein Wandersmann hört hinter sich eine ferne
Abendglocke läuten. Die Verse sind so voller Musik, daß wir sie für den einen
und den andern unsrer Leser zum Auswendiglernen hierher setzen müssen:

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Kohlers Übertragung lautet:

Die Stunde wars, wo banges, stilles Sehnen
Don Wanderer beschleicht; er geht allein
Am Abschiedstag, nachdem gestillt die Thränen.
Der Lieben denkt er, wenn durch Busch und Hain
Das Glöckchen tönt, als wolls den Tag beweinen,
Der mit ihm sanft verklingt im Abendschein.

Wir finden sie außerordentlich anmutig und wohlklingend, und sie giebt auch
den allgemeinen Sinn des Originals deutlich und leicht, ohne einen Aufwand
des Nnchdeukens, wieder. Aber der Leser wird ohne weiteres empfinden, daß
bei Dante viel mehr steht als bei Kohler, der das wichtige ^'naviK-urti ganz
hat ins Wasser fallen lassen und dafür das gar nicht passende Flickwort
..banges" der ersten Zeile in den Kauf giebt.

Wir sind uns des bescheidnen Werth unsrer Einwendungen wohl bewußt,
zumal in den Augen des Verfassers, der in der Vorrede sagt: „Nach dem
obigen versteht es sich, daß mich die Stimmen derer, die wegen der Ab¬
weichungen vom Original ihren Tadel erheben, völlig unberührt lassen; wer
die Dichtung nicht von dem Standpunkt aus beurteilt, «uf den sie sich stellt,
dessen Urteil ist nicht weiter zu beachten. Wer so wie ich Äquivalente zu


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[0613] Dante und so macht es auch der nach kleinen Vögeln spähende Müßiggänger, er ist höchst gespannt und nichts weniger als ein staunender Träumer: und dieses prächtige „Sein Leben verlieren hinter einem Vögelchen" geht außerdem noch bei Köhler ganz verloren. Im Eingang des achten Gesangs vernehmen wir einen reinen lyrischen Klang von der höchsten Art, wie sie dann entsteht, wenn plötzlich in ein empfängliches und bewegtes Gemüt ein verwandter Natureindruck fällt. Wer kennt nicht die Melancholie eines erstell Abends auf einer Reise, die uus aus der Heimat oder von lieben Freunden hinweggeführt hat? Im Geräusch des Tages haben uns neue Eindrücke an¬ gezogen und zerstreut, nun schickt die Nacht ihre Vorboten, und leise kehren die verscheuchten Abschiedsgefnhle in unsre Seele zurück. Dante deutet diesen Gemütszustand durch zwei Situationen um: jemand ist zu Schiff gegangen, und sein Herz wird weich am Abend, dessen Stille man ja besonders auf dein Meere als Einsamkeit fühlt; ein Wandersmann hört hinter sich eine ferne Abendglocke läuten. Die Verse sind so voller Musik, daß wir sie für den einen und den andern unsrer Leser zum Auswendiglernen hierher setzen müssen: lÄ's. ß'i« I'öl'g. vus volM 'I ctisio ^.'navigÄiiti s iiitsQA'isczs it ouvro, I^o all o'tuui clotto g,'Ä«>Ioi mnioi »Mio; vus Jo rü,,ovo psröArin d'-uiwriz ?l1NgS, Sö OÄL ScMÜÄ al I,0lieg,it0, Otnz ZM» 'I giorllv pi^llMr obs si wuors. Kohlers Übertragung lautet: Die Stunde wars, wo banges, stilles Sehnen Don Wanderer beschleicht; er geht allein Am Abschiedstag, nachdem gestillt die Thränen. Der Lieben denkt er, wenn durch Busch und Hain Das Glöckchen tönt, als wolls den Tag beweinen, Der mit ihm sanft verklingt im Abendschein. Wir finden sie außerordentlich anmutig und wohlklingend, und sie giebt auch den allgemeinen Sinn des Originals deutlich und leicht, ohne einen Aufwand des Nnchdeukens, wieder. Aber der Leser wird ohne weiteres empfinden, daß bei Dante viel mehr steht als bei Kohler, der das wichtige ^'naviK-urti ganz hat ins Wasser fallen lassen und dafür das gar nicht passende Flickwort ..banges" der ersten Zeile in den Kauf giebt. Wir sind uns des bescheidnen Werth unsrer Einwendungen wohl bewußt, zumal in den Augen des Verfassers, der in der Vorrede sagt: „Nach dem obigen versteht es sich, daß mich die Stimmen derer, die wegen der Ab¬ weichungen vom Original ihren Tadel erheben, völlig unberührt lassen; wer die Dichtung nicht von dem Standpunkt aus beurteilt, «uf den sie sich stellt, dessen Urteil ist nicht weiter zu beachten. Wer so wie ich Äquivalente zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/613>, abgerufen am 14.05.2024.