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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

tiefer heruntergegangen ist. Zwar dürfen nur Männer unsrer Zeit uns eines "Grades
von geselliger Bildung und äußerlich anständiger Erscheinung" rühmen, der ganz
gewiß manchem hohen Herren früherer Zeiten nicht erreichbar war, und ein gewisses
Herrenrecht kann man uns nicht bestreiten -- aber, und das ist ja das, worauf ich
hinaus will, wir sind ganz unfähig geworden, es festzuhalten. Es rutscht weiter! Daß
die Buben nicht mehr sagen, wie die Söhne früherer Zeiten, "mein Herr Vater,"
fondern "mein Alter," will noch nicht so viel bedeuten, da es hinter demi Rücken der
Herren Väter geschieht, und wir es gewissermaßen als einen Atavismus betrachten
können, indem wir es auf das "hehr, grau und greif" zurückdenken könnten. Aber es
mahnt doch auch bedenklich daran, daß die eine Seite des patriarchalischen Ver¬
hältnisses, das ich als natürlich bezeichnete, das von Herrn und Knecht, in rapiden
Schwinden begriffen ist. Wie singt Leporello? "Ich will selbst den Herren machen
und nicht länger Diener sein." Da Sitzes! So ists durch die Jahrhunderte durch
gegangen. Niemand will mehr Diener sein -- natürlich wenn er über sich sieht;
wenn er nnter sich sieht, will er Herr sein, erst recht, und je geringer seine Macht¬
befugnisse sind, desto herrischer sucht er sie geltend zu machen. Die Herren Schutz¬
männer, die Herren Subalternen in den Amtsstuben, die Herren Unteroffiziere, eine
gröbere Gesellschaft giebt es nicht -- es herrscht ein wunderliches Durcheinander
von aristokratischen und demokratischen Anschauungen. Die Adlichen selbst haben sich
den Fetzen "Herr" gegenseitig abgerissen, bis ihn das Bürgertum ihnen wegriß
und triumphierend damit abzog. Aber hält dieses ihn wenigstens fest? Nein, seine
Aristokratie war nicht weit her; natürlich steckt etwas stark Demokratisches im
Bürgertum, und das äußert sich in geradezu komischer Weise in seiner Angst vor
der Plebs, ans der es ja allerdings erst hervorgegangen ist.

Woher mögen wohl die "Herren Schutzmänner" und ähnliches stammen? Wer
ist zuerst darauf gekommen, ohne Gefühl für die Sprachdummheit der "Herren
Männer" die "Ratsknechte" ehrfurchtsvoll mit "Herr" anzureden? -- "Herr
Schutzmann, Sie haben zu beschwören -- ich setze die Vereidigung "bis nach"
Ihrer Vernehmung aus --, daß Sie gehört haben, wie der Angeklagte Müller,
der vorgiebt, sinnlos betrunken gewesen zu sein, verächtlicherweise das Wort "Schutz¬
mensch" hinter dem dienstthuenden Herrn Schutzmann Schurke hergerufen habe.
Erzählen Sie uns einmal den Vorgang." -- Mensch! Es ist klar, daß diese Be¬
zeichnung als verächtlich aufgefaßt werden muß, wo doch schou "Mann" und "Leute"
nicht mehr als genügend für die Würde des Mannes aus dem Volke angesehen
werden kann. Unsre Herren Schleusenräumer, Laternenputzer, Markthelfer, Hand¬
langer usw. würden große Augen machen, wenn man ihnen ihr Herrenrecht vor¬
enthalten würde. Unter sich halten sie ja noch ein gewisses patriarchalisches Ver¬
hältnis aufrecht, und die gereiftem Naturen denken nicht daran, etwa bei einer
Verkehrsstockung ihrem ihnen in den Weg geratnen jüngern Nächsten zuzurufen:
Sie dreckiger Herr Scmjuuge, machen Sie, daß Sie mit Ihrer Karre rieberkommen,
gottverdammich! -- sie lassen den "Herrn" ganz gewiß weg und sagen statt dessen
etwa "dummes Luder" und bedienen sich der zweiten Person Singularis. Aber wenn
sie etwa ein Herr Amtsrichter so anreden wollte!

Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß es ein Sinken des berech¬
tigten Herrenbewußtseius ist, was zu diesem Preisgeben des Vorrechts im Titel an
die untersten Beherrschten geführt hat. Ist denn der Janhagel wirtlich unser
"Herr," als der er respektvoll tituliert wird? Man kann sehr von dem Recht der
Persönlichkeit durchdrungen sein und wird doch die Forderung stellen, daß auch
dieses Recht erworben sein muß; wer Herr heißen will, muß eben erst wirklich eine
Persönlichkeit, unter unteren Herr über sich selbst sein; der Grad der Leistung giebt
die Höhe der Stellung, und auch der, dem eine bevorzugte durch Erbschaft zu teil
geworden ist, muß sich das Recht darauf neu erwerben, wenn er nicht bald sinken
will. Mancher, der auf niedriger Stufe geboren ist, hat die Fähigkeit, sich empor¬
zuschwingen, und in unsrer Zeit sind niemand Grenzen gezogen. Bringe ich es


Maßgebliches und Unmaßgebliches

tiefer heruntergegangen ist. Zwar dürfen nur Männer unsrer Zeit uns eines „Grades
von geselliger Bildung und äußerlich anständiger Erscheinung" rühmen, der ganz
gewiß manchem hohen Herren früherer Zeiten nicht erreichbar war, und ein gewisses
Herrenrecht kann man uns nicht bestreiten — aber, und das ist ja das, worauf ich
hinaus will, wir sind ganz unfähig geworden, es festzuhalten. Es rutscht weiter! Daß
die Buben nicht mehr sagen, wie die Söhne früherer Zeiten, „mein Herr Vater,"
fondern „mein Alter," will noch nicht so viel bedeuten, da es hinter demi Rücken der
Herren Väter geschieht, und wir es gewissermaßen als einen Atavismus betrachten
können, indem wir es auf das „hehr, grau und greif" zurückdenken könnten. Aber es
mahnt doch auch bedenklich daran, daß die eine Seite des patriarchalischen Ver¬
hältnisses, das ich als natürlich bezeichnete, das von Herrn und Knecht, in rapiden
Schwinden begriffen ist. Wie singt Leporello? „Ich will selbst den Herren machen
und nicht länger Diener sein." Da Sitzes! So ists durch die Jahrhunderte durch
gegangen. Niemand will mehr Diener sein — natürlich wenn er über sich sieht;
wenn er nnter sich sieht, will er Herr sein, erst recht, und je geringer seine Macht¬
befugnisse sind, desto herrischer sucht er sie geltend zu machen. Die Herren Schutz¬
männer, die Herren Subalternen in den Amtsstuben, die Herren Unteroffiziere, eine
gröbere Gesellschaft giebt es nicht — es herrscht ein wunderliches Durcheinander
von aristokratischen und demokratischen Anschauungen. Die Adlichen selbst haben sich
den Fetzen „Herr" gegenseitig abgerissen, bis ihn das Bürgertum ihnen wegriß
und triumphierend damit abzog. Aber hält dieses ihn wenigstens fest? Nein, seine
Aristokratie war nicht weit her; natürlich steckt etwas stark Demokratisches im
Bürgertum, und das äußert sich in geradezu komischer Weise in seiner Angst vor
der Plebs, ans der es ja allerdings erst hervorgegangen ist.

Woher mögen wohl die „Herren Schutzmänner" und ähnliches stammen? Wer
ist zuerst darauf gekommen, ohne Gefühl für die Sprachdummheit der „Herren
Männer" die „Ratsknechte" ehrfurchtsvoll mit „Herr" anzureden? — „Herr
Schutzmann, Sie haben zu beschwören — ich setze die Vereidigung »bis nach«
Ihrer Vernehmung aus —, daß Sie gehört haben, wie der Angeklagte Müller,
der vorgiebt, sinnlos betrunken gewesen zu sein, verächtlicherweise das Wort »Schutz¬
mensch« hinter dem dienstthuenden Herrn Schutzmann Schurke hergerufen habe.
Erzählen Sie uns einmal den Vorgang." — Mensch! Es ist klar, daß diese Be¬
zeichnung als verächtlich aufgefaßt werden muß, wo doch schou „Mann" und „Leute"
nicht mehr als genügend für die Würde des Mannes aus dem Volke angesehen
werden kann. Unsre Herren Schleusenräumer, Laternenputzer, Markthelfer, Hand¬
langer usw. würden große Augen machen, wenn man ihnen ihr Herrenrecht vor¬
enthalten würde. Unter sich halten sie ja noch ein gewisses patriarchalisches Ver¬
hältnis aufrecht, und die gereiftem Naturen denken nicht daran, etwa bei einer
Verkehrsstockung ihrem ihnen in den Weg geratnen jüngern Nächsten zuzurufen:
Sie dreckiger Herr Scmjuuge, machen Sie, daß Sie mit Ihrer Karre rieberkommen,
gottverdammich! — sie lassen den „Herrn" ganz gewiß weg und sagen statt dessen
etwa „dummes Luder" und bedienen sich der zweiten Person Singularis. Aber wenn
sie etwa ein Herr Amtsrichter so anreden wollte!

Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß es ein Sinken des berech¬
tigten Herrenbewußtseius ist, was zu diesem Preisgeben des Vorrechts im Titel an
die untersten Beherrschten geführt hat. Ist denn der Janhagel wirtlich unser
„Herr," als der er respektvoll tituliert wird? Man kann sehr von dem Recht der
Persönlichkeit durchdrungen sein und wird doch die Forderung stellen, daß auch
dieses Recht erworben sein muß; wer Herr heißen will, muß eben erst wirklich eine
Persönlichkeit, unter unteren Herr über sich selbst sein; der Grad der Leistung giebt
die Höhe der Stellung, und auch der, dem eine bevorzugte durch Erbschaft zu teil
geworden ist, muß sich das Recht darauf neu erwerben, wenn er nicht bald sinken
will. Mancher, der auf niedriger Stufe geboren ist, hat die Fähigkeit, sich empor¬
zuschwingen, und in unsrer Zeit sind niemand Grenzen gezogen. Bringe ich es


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[0638] Maßgebliches und Unmaßgebliches tiefer heruntergegangen ist. Zwar dürfen nur Männer unsrer Zeit uns eines „Grades von geselliger Bildung und äußerlich anständiger Erscheinung" rühmen, der ganz gewiß manchem hohen Herren früherer Zeiten nicht erreichbar war, und ein gewisses Herrenrecht kann man uns nicht bestreiten — aber, und das ist ja das, worauf ich hinaus will, wir sind ganz unfähig geworden, es festzuhalten. Es rutscht weiter! Daß die Buben nicht mehr sagen, wie die Söhne früherer Zeiten, „mein Herr Vater," fondern „mein Alter," will noch nicht so viel bedeuten, da es hinter demi Rücken der Herren Väter geschieht, und wir es gewissermaßen als einen Atavismus betrachten können, indem wir es auf das „hehr, grau und greif" zurückdenken könnten. Aber es mahnt doch auch bedenklich daran, daß die eine Seite des patriarchalischen Ver¬ hältnisses, das ich als natürlich bezeichnete, das von Herrn und Knecht, in rapiden Schwinden begriffen ist. Wie singt Leporello? „Ich will selbst den Herren machen und nicht länger Diener sein." Da Sitzes! So ists durch die Jahrhunderte durch gegangen. Niemand will mehr Diener sein — natürlich wenn er über sich sieht; wenn er nnter sich sieht, will er Herr sein, erst recht, und je geringer seine Macht¬ befugnisse sind, desto herrischer sucht er sie geltend zu machen. Die Herren Schutz¬ männer, die Herren Subalternen in den Amtsstuben, die Herren Unteroffiziere, eine gröbere Gesellschaft giebt es nicht — es herrscht ein wunderliches Durcheinander von aristokratischen und demokratischen Anschauungen. Die Adlichen selbst haben sich den Fetzen „Herr" gegenseitig abgerissen, bis ihn das Bürgertum ihnen wegriß und triumphierend damit abzog. Aber hält dieses ihn wenigstens fest? Nein, seine Aristokratie war nicht weit her; natürlich steckt etwas stark Demokratisches im Bürgertum, und das äußert sich in geradezu komischer Weise in seiner Angst vor der Plebs, ans der es ja allerdings erst hervorgegangen ist. Woher mögen wohl die „Herren Schutzmänner" und ähnliches stammen? Wer ist zuerst darauf gekommen, ohne Gefühl für die Sprachdummheit der „Herren Männer" die „Ratsknechte" ehrfurchtsvoll mit „Herr" anzureden? — „Herr Schutzmann, Sie haben zu beschwören — ich setze die Vereidigung »bis nach« Ihrer Vernehmung aus —, daß Sie gehört haben, wie der Angeklagte Müller, der vorgiebt, sinnlos betrunken gewesen zu sein, verächtlicherweise das Wort »Schutz¬ mensch« hinter dem dienstthuenden Herrn Schutzmann Schurke hergerufen habe. Erzählen Sie uns einmal den Vorgang." — Mensch! Es ist klar, daß diese Be¬ zeichnung als verächtlich aufgefaßt werden muß, wo doch schou „Mann" und „Leute" nicht mehr als genügend für die Würde des Mannes aus dem Volke angesehen werden kann. Unsre Herren Schleusenräumer, Laternenputzer, Markthelfer, Hand¬ langer usw. würden große Augen machen, wenn man ihnen ihr Herrenrecht vor¬ enthalten würde. Unter sich halten sie ja noch ein gewisses patriarchalisches Ver¬ hältnis aufrecht, und die gereiftem Naturen denken nicht daran, etwa bei einer Verkehrsstockung ihrem ihnen in den Weg geratnen jüngern Nächsten zuzurufen: Sie dreckiger Herr Scmjuuge, machen Sie, daß Sie mit Ihrer Karre rieberkommen, gottverdammich! — sie lassen den „Herrn" ganz gewiß weg und sagen statt dessen etwa „dummes Luder" und bedienen sich der zweiten Person Singularis. Aber wenn sie etwa ein Herr Amtsrichter so anreden wollte! Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß es ein Sinken des berech¬ tigten Herrenbewußtseius ist, was zu diesem Preisgeben des Vorrechts im Titel an die untersten Beherrschten geführt hat. Ist denn der Janhagel wirtlich unser „Herr," als der er respektvoll tituliert wird? Man kann sehr von dem Recht der Persönlichkeit durchdrungen sein und wird doch die Forderung stellen, daß auch dieses Recht erworben sein muß; wer Herr heißen will, muß eben erst wirklich eine Persönlichkeit, unter unteren Herr über sich selbst sein; der Grad der Leistung giebt die Höhe der Stellung, und auch der, dem eine bevorzugte durch Erbschaft zu teil geworden ist, muß sich das Recht darauf neu erwerben, wenn er nicht bald sinken will. Mancher, der auf niedriger Stufe geboren ist, hat die Fähigkeit, sich empor¬ zuschwingen, und in unsrer Zeit sind niemand Grenzen gezogen. Bringe ich es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/638>, abgerufen am 13.05.2024.