Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Marx als Philosoph

Zerstreutes und bisher Ungedrucktes aus dem litterarischen Nachlaß von Karl
Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle heraus. Der erste soeben er¬
schienene Band enthält: Gesammelte Schriften von Karl Marx und
Friedrich Engels 1841 bis 1844.°") Mehring hat die einzelnen Aufsätze
mit sehr guten, selbstverständlich vom marxistischen Standpunkt aus geschriebne"
Einleitungen Versehen, die den Zusammenhang der publizistischen Erzeugnisse
der beiden sozialistischen Propheten mit den Ereignissen, den geistigen, poli¬
tischen und wirtschaftlichen Strömungen der Zeit deutlich machen. Wir sind
dadurch instant gesetzt, Marxens geistige Entwicklung vollständig zu überschauen
und ihn zu versteh". Es sind weder häusliche Traditionen noch persönliche
Schicksale oder Leidenschaften gewesen, die ihn in die revolutionäre Richtung
und in den Kommunismus hineingetrieben haben, sondern eingeborner Grübler¬
sinn, energische, den Dingen auf den Grund gehende Denkthütigkeit, unbestech¬
liche Ehrlichkeit und ein warmes Herz. Voraussetzuugslos ist er freilich nicht
an seine Forscherarbeit gegangen. Er hatte natürlich keine andre Luft ein¬
atmen können, als die damals das gebildete Deutschland erfüllte, und die war
eben die des Hegeltmns, d. h. die eines halb unbewußten Atheismus. Man
sieht das gleich an seiner Doktordissertation über den Unterschied der demo¬
kritischen von der epikuräischen Naturphilosophie. (Er hatte zuerst Jura studiert
und war dann zur Philosophie übergegangen.) In der Vorrede zitiert er des
äschyleischen Prometheus Wort: Den Göttern allen beg' ich Haß, und bemerkt
dazu: "Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophische"
Kalender." Und am Schluß der Abhandlung schreibt er: "Komm mit deinen
Göttern in ein Land, wo andre Götter gelten, und man wird dir beweisen,
daß du an Einbildungen und Abstraktionen leidest. Mit Recht. Wer den
alten Griechen einen Wandergott gebracht Hütte, dem würden sie die Nicht-
existcnz dieses Gottes bewiesen haben, denn für die Griechen existierte er nicht.
Was für ein bestimmtes Land die Götter aus der Fremde, das ist das Land
der Vernunft für Gott überhaupt, eine Gegend, in der seine Existenz aufhört."
Übrigens beweist die Abhandlung nicht allein den außerordentlichen Scharfsinn
des Verfassers, sondern auch sein gründliches Quellenstudium und wird auch
heute noch (sie ist ihrerzeit ungedruckt geblieben) den Philosophen neue Ein¬
blicke in die antike Atomistik erschließen. In der Form erinnert sie sehr an
Hegel.

Während nun aber Marx als MetaPhysiker von Haus aus Materialist
war, blieb er als Ethiker zeitlebens Idealist. Das höchste und das' einzig
wertvolle war ihm der Mensch, aber der Mensch Kants, Fichtes und Hegels,
der sittlich freie und humane Mensch, der nicht bloß zivilisierte, sondern kul¬
tivierte Mensch; und sobald er sich, was schon im Jünglingsalter geschah, der
praktischen Philosophie zuwandte, war deren Inhalt Politik, weil er mit seinen
Lehrmeistern glaubte, daß das Menschheitsideal nur im Staate verwirklicht
werden könne. Darum war er notwendig revolutionär, weil die Politik seiner



Der gleichzeitig herausgegcbne vierte Band bringt: Briefe von Ferdinand Lassal
an Karl Marx und Friedrich Engels.
Marx als Philosoph

Zerstreutes und bisher Ungedrucktes aus dem litterarischen Nachlaß von Karl
Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle heraus. Der erste soeben er¬
schienene Band enthält: Gesammelte Schriften von Karl Marx und
Friedrich Engels 1841 bis 1844.°") Mehring hat die einzelnen Aufsätze
mit sehr guten, selbstverständlich vom marxistischen Standpunkt aus geschriebne»
Einleitungen Versehen, die den Zusammenhang der publizistischen Erzeugnisse
der beiden sozialistischen Propheten mit den Ereignissen, den geistigen, poli¬
tischen und wirtschaftlichen Strömungen der Zeit deutlich machen. Wir sind
dadurch instant gesetzt, Marxens geistige Entwicklung vollständig zu überschauen
und ihn zu versteh». Es sind weder häusliche Traditionen noch persönliche
Schicksale oder Leidenschaften gewesen, die ihn in die revolutionäre Richtung
und in den Kommunismus hineingetrieben haben, sondern eingeborner Grübler¬
sinn, energische, den Dingen auf den Grund gehende Denkthütigkeit, unbestech¬
liche Ehrlichkeit und ein warmes Herz. Voraussetzuugslos ist er freilich nicht
an seine Forscherarbeit gegangen. Er hatte natürlich keine andre Luft ein¬
atmen können, als die damals das gebildete Deutschland erfüllte, und die war
eben die des Hegeltmns, d. h. die eines halb unbewußten Atheismus. Man
sieht das gleich an seiner Doktordissertation über den Unterschied der demo¬
kritischen von der epikuräischen Naturphilosophie. (Er hatte zuerst Jura studiert
und war dann zur Philosophie übergegangen.) In der Vorrede zitiert er des
äschyleischen Prometheus Wort: Den Göttern allen beg' ich Haß, und bemerkt
dazu: „Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophische»
Kalender." Und am Schluß der Abhandlung schreibt er: „Komm mit deinen
Göttern in ein Land, wo andre Götter gelten, und man wird dir beweisen,
daß du an Einbildungen und Abstraktionen leidest. Mit Recht. Wer den
alten Griechen einen Wandergott gebracht Hütte, dem würden sie die Nicht-
existcnz dieses Gottes bewiesen haben, denn für die Griechen existierte er nicht.
Was für ein bestimmtes Land die Götter aus der Fremde, das ist das Land
der Vernunft für Gott überhaupt, eine Gegend, in der seine Existenz aufhört."
Übrigens beweist die Abhandlung nicht allein den außerordentlichen Scharfsinn
des Verfassers, sondern auch sein gründliches Quellenstudium und wird auch
heute noch (sie ist ihrerzeit ungedruckt geblieben) den Philosophen neue Ein¬
blicke in die antike Atomistik erschließen. In der Form erinnert sie sehr an
Hegel.

Während nun aber Marx als MetaPhysiker von Haus aus Materialist
war, blieb er als Ethiker zeitlebens Idealist. Das höchste und das' einzig
wertvolle war ihm der Mensch, aber der Mensch Kants, Fichtes und Hegels,
der sittlich freie und humane Mensch, der nicht bloß zivilisierte, sondern kul¬
tivierte Mensch; und sobald er sich, was schon im Jünglingsalter geschah, der
praktischen Philosophie zuwandte, war deren Inhalt Politik, weil er mit seinen
Lehrmeistern glaubte, daß das Menschheitsideal nur im Staate verwirklicht
werden könne. Darum war er notwendig revolutionär, weil die Politik seiner



Der gleichzeitig herausgegcbne vierte Band bringt: Briefe von Ferdinand Lassal
an Karl Marx und Friedrich Engels.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0666" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237190"/>
          <fw type="header" place="top"> Marx als Philosoph</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2771" prev="#ID_2770"> Zerstreutes und bisher Ungedrucktes aus dem litterarischen Nachlaß von Karl<lb/>
Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle heraus. Der erste soeben er¬<lb/>
schienene Band enthält: Gesammelte Schriften von Karl Marx und<lb/>
Friedrich Engels 1841 bis 1844.°") Mehring hat die einzelnen Aufsätze<lb/>
mit sehr guten, selbstverständlich vom marxistischen Standpunkt aus geschriebne»<lb/>
Einleitungen Versehen, die den Zusammenhang der publizistischen Erzeugnisse<lb/>
der beiden sozialistischen Propheten mit den Ereignissen, den geistigen, poli¬<lb/>
tischen und wirtschaftlichen Strömungen der Zeit deutlich machen. Wir sind<lb/>
dadurch instant gesetzt, Marxens geistige Entwicklung vollständig zu überschauen<lb/>
und ihn zu versteh». Es sind weder häusliche Traditionen noch persönliche<lb/>
Schicksale oder Leidenschaften gewesen, die ihn in die revolutionäre Richtung<lb/>
und in den Kommunismus hineingetrieben haben, sondern eingeborner Grübler¬<lb/>
sinn, energische, den Dingen auf den Grund gehende Denkthütigkeit, unbestech¬<lb/>
liche Ehrlichkeit und ein warmes Herz. Voraussetzuugslos ist er freilich nicht<lb/>
an seine Forscherarbeit gegangen. Er hatte natürlich keine andre Luft ein¬<lb/>
atmen können, als die damals das gebildete Deutschland erfüllte, und die war<lb/>
eben die des Hegeltmns, d. h. die eines halb unbewußten Atheismus. Man<lb/>
sieht das gleich an seiner Doktordissertation über den Unterschied der demo¬<lb/>
kritischen von der epikuräischen Naturphilosophie. (Er hatte zuerst Jura studiert<lb/>
und war dann zur Philosophie übergegangen.) In der Vorrede zitiert er des<lb/>
äschyleischen Prometheus Wort: Den Göttern allen beg' ich Haß, und bemerkt<lb/>
dazu: &#x201E;Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophische»<lb/>
Kalender." Und am Schluß der Abhandlung schreibt er: &#x201E;Komm mit deinen<lb/>
Göttern in ein Land, wo andre Götter gelten, und man wird dir beweisen,<lb/>
daß du an Einbildungen und Abstraktionen leidest. Mit Recht. Wer den<lb/>
alten Griechen einen Wandergott gebracht Hütte, dem würden sie die Nicht-<lb/>
existcnz dieses Gottes bewiesen haben, denn für die Griechen existierte er nicht.<lb/>
Was für ein bestimmtes Land die Götter aus der Fremde, das ist das Land<lb/>
der Vernunft für Gott überhaupt, eine Gegend, in der seine Existenz aufhört."<lb/>
Übrigens beweist die Abhandlung nicht allein den außerordentlichen Scharfsinn<lb/>
des Verfassers, sondern auch sein gründliches Quellenstudium und wird auch<lb/>
heute noch (sie ist ihrerzeit ungedruckt geblieben) den Philosophen neue Ein¬<lb/>
blicke in die antike Atomistik erschließen. In der Form erinnert sie sehr an<lb/>
Hegel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2772" next="#ID_2773"> Während nun aber Marx als MetaPhysiker von Haus aus Materialist<lb/>
war, blieb er als Ethiker zeitlebens Idealist. Das höchste und das' einzig<lb/>
wertvolle war ihm der Mensch, aber der Mensch Kants, Fichtes und Hegels,<lb/>
der sittlich freie und humane Mensch, der nicht bloß zivilisierte, sondern kul¬<lb/>
tivierte Mensch; und sobald er sich, was schon im Jünglingsalter geschah, der<lb/>
praktischen Philosophie zuwandte, war deren Inhalt Politik, weil er mit seinen<lb/>
Lehrmeistern glaubte, daß das Menschheitsideal nur im Staate verwirklicht<lb/>
werden könne. Darum war er notwendig revolutionär, weil die Politik seiner</p><lb/>
          <note xml:id="FID_42" place="foot"> Der gleichzeitig herausgegcbne vierte Band bringt: Briefe von Ferdinand Lassal<lb/>
an Karl Marx und Friedrich Engels.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0666] Marx als Philosoph Zerstreutes und bisher Ungedrucktes aus dem litterarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle heraus. Der erste soeben er¬ schienene Band enthält: Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 bis 1844.°") Mehring hat die einzelnen Aufsätze mit sehr guten, selbstverständlich vom marxistischen Standpunkt aus geschriebne» Einleitungen Versehen, die den Zusammenhang der publizistischen Erzeugnisse der beiden sozialistischen Propheten mit den Ereignissen, den geistigen, poli¬ tischen und wirtschaftlichen Strömungen der Zeit deutlich machen. Wir sind dadurch instant gesetzt, Marxens geistige Entwicklung vollständig zu überschauen und ihn zu versteh». Es sind weder häusliche Traditionen noch persönliche Schicksale oder Leidenschaften gewesen, die ihn in die revolutionäre Richtung und in den Kommunismus hineingetrieben haben, sondern eingeborner Grübler¬ sinn, energische, den Dingen auf den Grund gehende Denkthütigkeit, unbestech¬ liche Ehrlichkeit und ein warmes Herz. Voraussetzuugslos ist er freilich nicht an seine Forscherarbeit gegangen. Er hatte natürlich keine andre Luft ein¬ atmen können, als die damals das gebildete Deutschland erfüllte, und die war eben die des Hegeltmns, d. h. die eines halb unbewußten Atheismus. Man sieht das gleich an seiner Doktordissertation über den Unterschied der demo¬ kritischen von der epikuräischen Naturphilosophie. (Er hatte zuerst Jura studiert und war dann zur Philosophie übergegangen.) In der Vorrede zitiert er des äschyleischen Prometheus Wort: Den Göttern allen beg' ich Haß, und bemerkt dazu: „Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophische» Kalender." Und am Schluß der Abhandlung schreibt er: „Komm mit deinen Göttern in ein Land, wo andre Götter gelten, und man wird dir beweisen, daß du an Einbildungen und Abstraktionen leidest. Mit Recht. Wer den alten Griechen einen Wandergott gebracht Hütte, dem würden sie die Nicht- existcnz dieses Gottes bewiesen haben, denn für die Griechen existierte er nicht. Was für ein bestimmtes Land die Götter aus der Fremde, das ist das Land der Vernunft für Gott überhaupt, eine Gegend, in der seine Existenz aufhört." Übrigens beweist die Abhandlung nicht allein den außerordentlichen Scharfsinn des Verfassers, sondern auch sein gründliches Quellenstudium und wird auch heute noch (sie ist ihrerzeit ungedruckt geblieben) den Philosophen neue Ein¬ blicke in die antike Atomistik erschließen. In der Form erinnert sie sehr an Hegel. Während nun aber Marx als MetaPhysiker von Haus aus Materialist war, blieb er als Ethiker zeitlebens Idealist. Das höchste und das' einzig wertvolle war ihm der Mensch, aber der Mensch Kants, Fichtes und Hegels, der sittlich freie und humane Mensch, der nicht bloß zivilisierte, sondern kul¬ tivierte Mensch; und sobald er sich, was schon im Jünglingsalter geschah, der praktischen Philosophie zuwandte, war deren Inhalt Politik, weil er mit seinen Lehrmeistern glaubte, daß das Menschheitsideal nur im Staate verwirklicht werden könne. Darum war er notwendig revolutionär, weil die Politik seiner Der gleichzeitig herausgegcbne vierte Band bringt: Briefe von Ferdinand Lassal an Karl Marx und Friedrich Engels.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/666
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/666>, abgerufen am 29.05.2024.