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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die britische Regierung

können, jetzt aber bot sich diese Möglichkeit viel besser, ohne dein König ver¬
pflichtet zu sein. So wurden sie aus anfänglichen Gegnern eifrige Verfechter
der neuen Ordnung, unter der die Macht im Parlament lag.

In mancher Beziehung ähnelte die Regierung Englands nach der Thron¬
besteigung der Welsen der zur Zeit der Barone. Die Episode tudorischer und
stuartischer Selbstherrlichkeit war überwunden, der große Staatsrat der Barone
regierte wieder, wenn auch unter neuen Formen. Im Parlament lag freilich
das Gewicht nicht mehr im Oberhause, sondern bei den Gemeinen. Aber that--
sächlich waren doch die großen Adelsgeschlechter die eigentlichen Herrscher, weil
sie durch ihren Einfluß die Mitglieder des Unterhauses ihren Zwecken dienstbar
zu machen wußten. Es bestand kein so weiter Abstand zwischen Oberhaus und
Unterhaus wie zwischen den alten, mehrfach mit dein königlichen Hanse ver¬
schwägerten Baronen und den bescheidnen Gemeinen des Mittelalters. Beide
Teile standen einander näher. Die neuen Peers waren im eigentlichsten Sinne
nur die Häupter des Landadels, aus dem sie durch königliche Gnade heraus-
gehoben waren, und die Mitglieder des Unterhauses gehörten entweder als
Grafschaftsvertreter selbst dem Landadel an oder entstammten als Städte¬
vertreter den dem Landadel an Besitz gleichstehenden Patriziern. Die Teilung
des Parlaments in Oberhaus und Unterhaus war also bloß scheinbar, die
wagerechte Scheidelinie war nur schwach sichtbar, die wirkliche Scheidelinie
ging senkrecht dnrch beide Hänser -- hie Tories, dort Whigs.

Eine Volksvertretung im neuern Sinne war das Parlament nicht, sondern
nur eine Vertretung der obern besitzenden Schicht durch die oberste. Doch
gerade der Beschränkung auf diese durch Gemeinsamkeit der Interessen zusammen-
gehaltne obere Schicht verdankte die parlamentarische Regierungsart ihren
Erfolg. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf die untern Klassen hätte andre
Parteien erzeugt und einer einheitlichen Kabinettbildung den Boden entzogen.
Ohne das Vorhandensein in sich geschlossener Parteien Hütte sich der Übergang
der ausübenden Gewalt an das Parlament, wenn er nbcrhnnpt möglich ge¬
wesen wäre, nicht ohne scharfe Reibungen und Kämpfe vollzogen. So aber
ging die Entwicklung einen ruhigen, stetigen Gang, ohne Störung in der Ver¬
waltung. Für den oberflächlichen Beobachter war die Verändrung kaum be¬
merkbar. Denn wohlverstanden, an dem Herkommen, das im Könige den
Träger der Macht sah, wurde standhaft festgehalten. Nach altem Verfassungs-
rechte lag die gesetzgebende Gewalt beim König und beim Parlament, die
allsführende beim König und dem Geheimen Rat. Darum mußte der für die
Regierung schon längst untaugliche Geheime Rat sein Leben weiter fristen und
die Thatsache bemänteln, daß die gesetzgebende Körperschaft sich anch die aus¬
führende Gewalt angeeignet hatte. Bloß als Mitglieder des Geheimen Rats
hatten die Minister Karls II. schalten und walten können. Unter dein Schilde
des Geheimen Rats führten auch die Parteikabinette der Welsen die Geschäfte
des Königreichs. Verdankten aber die Minister ihre Stellung dem Willen des
Königs, so verdankten sie diese Kabinette der Macht ihrer Partei. Auf die
Form der Ausübung der Gewalt blieb die Verändrung ihrer Quelle ohne Ein¬
fluß. Die Einfassung des Brunnens trug nach wie vor die königlichen Zeichen,


Die britische Regierung

können, jetzt aber bot sich diese Möglichkeit viel besser, ohne dein König ver¬
pflichtet zu sein. So wurden sie aus anfänglichen Gegnern eifrige Verfechter
der neuen Ordnung, unter der die Macht im Parlament lag.

In mancher Beziehung ähnelte die Regierung Englands nach der Thron¬
besteigung der Welsen der zur Zeit der Barone. Die Episode tudorischer und
stuartischer Selbstherrlichkeit war überwunden, der große Staatsrat der Barone
regierte wieder, wenn auch unter neuen Formen. Im Parlament lag freilich
das Gewicht nicht mehr im Oberhause, sondern bei den Gemeinen. Aber that--
sächlich waren doch die großen Adelsgeschlechter die eigentlichen Herrscher, weil
sie durch ihren Einfluß die Mitglieder des Unterhauses ihren Zwecken dienstbar
zu machen wußten. Es bestand kein so weiter Abstand zwischen Oberhaus und
Unterhaus wie zwischen den alten, mehrfach mit dein königlichen Hanse ver¬
schwägerten Baronen und den bescheidnen Gemeinen des Mittelalters. Beide
Teile standen einander näher. Die neuen Peers waren im eigentlichsten Sinne
nur die Häupter des Landadels, aus dem sie durch königliche Gnade heraus-
gehoben waren, und die Mitglieder des Unterhauses gehörten entweder als
Grafschaftsvertreter selbst dem Landadel an oder entstammten als Städte¬
vertreter den dem Landadel an Besitz gleichstehenden Patriziern. Die Teilung
des Parlaments in Oberhaus und Unterhaus war also bloß scheinbar, die
wagerechte Scheidelinie war nur schwach sichtbar, die wirkliche Scheidelinie
ging senkrecht dnrch beide Hänser — hie Tories, dort Whigs.

Eine Volksvertretung im neuern Sinne war das Parlament nicht, sondern
nur eine Vertretung der obern besitzenden Schicht durch die oberste. Doch
gerade der Beschränkung auf diese durch Gemeinsamkeit der Interessen zusammen-
gehaltne obere Schicht verdankte die parlamentarische Regierungsart ihren
Erfolg. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf die untern Klassen hätte andre
Parteien erzeugt und einer einheitlichen Kabinettbildung den Boden entzogen.
Ohne das Vorhandensein in sich geschlossener Parteien Hütte sich der Übergang
der ausübenden Gewalt an das Parlament, wenn er nbcrhnnpt möglich ge¬
wesen wäre, nicht ohne scharfe Reibungen und Kämpfe vollzogen. So aber
ging die Entwicklung einen ruhigen, stetigen Gang, ohne Störung in der Ver¬
waltung. Für den oberflächlichen Beobachter war die Verändrung kaum be¬
merkbar. Denn wohlverstanden, an dem Herkommen, das im Könige den
Träger der Macht sah, wurde standhaft festgehalten. Nach altem Verfassungs-
rechte lag die gesetzgebende Gewalt beim König und beim Parlament, die
allsführende beim König und dem Geheimen Rat. Darum mußte der für die
Regierung schon längst untaugliche Geheime Rat sein Leben weiter fristen und
die Thatsache bemänteln, daß die gesetzgebende Körperschaft sich anch die aus¬
führende Gewalt angeeignet hatte. Bloß als Mitglieder des Geheimen Rats
hatten die Minister Karls II. schalten und walten können. Unter dein Schilde
des Geheimen Rats führten auch die Parteikabinette der Welsen die Geschäfte
des Königreichs. Verdankten aber die Minister ihre Stellung dem Willen des
Königs, so verdankten sie diese Kabinette der Macht ihrer Partei. Auf die
Form der Ausübung der Gewalt blieb die Verändrung ihrer Quelle ohne Ein¬
fluß. Die Einfassung des Brunnens trug nach wie vor die königlichen Zeichen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/133>, abgerufen am 01.11.2024.