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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Doktor Vuttmüller und sein Freund

Am Abend zögerte sie, sich zur Ruhe zu legen; sie blieb lange, lange mit
ihren traurigen Gedanken allein. Es war längst Mitternacht vorüber, als sie ans
offne Fenster trat. Ein Lichtschein fiel aus der Nebenstube, die York bewohnte, auf
die Krone des alten Kastanienbanms, der gegeuüber stand. Und dieser Lichtschein
erlosch nicht, bis der bleiche Tag heraufkam. Ellen glaubte Schritte zu hören, die
die ganze Nacht ruhelos hin und her gingen. Als sie am nächsten Morgen aus
schwerem und unerquicklichen Schlaf erwachte, fuhr sie eilig in ihre Kleider und
machte sich auf, nach York zu sehen. Sie fand die Thür offen und das Zimmer
leer. Das Bett stand unberührt da, auf dem Tisch stand ein halbgeleertes Kästchen
mit Patronen, der Revolver, der sonst unter einer Wasfentrophäe an der Wand
hing, fehlte. Ellen hätte vor Schmerz aufschreien mögen; aber sie bezwang sich,
ergriff ihren Hut und eilte hinab und hinaus.

Unten stand Klapphorn. Klapphorn, rief sie, wo ist York? Klapphorn nahm
die vorschriftsmäßige Haltung an nud sagte: Der junge gnädige Herr sind soeben
den Weg nach dem Kirschberg hinaufgegangen, indem daß sie sagten, daß sie Kopf¬
schmerzen hätten. Auch sahen sie aus, mit Verlaub zu sagen, wie Käseqnark. Ellen
wartete das Ende des Berichts nicht ab, sondern eilte weiter, ohne zu bemerken,
daß sie ihren Hut nicht aufgesetzt hatte.

Es war Sonntag, früher Morgen vor Sonnenaufgang. Ein leichter Nebel
lag draußen auf der Ebene, der Wald aber stand über dem Nebel dunkel und
klar sichtbar. Auf alleu Gräsern lagen Tautropfen, die glitzerte" im Lichte des
Morgenrotes. Die ganze Welt sah aus wie neugeschaffen, aber noch schlafend,
noch wartend auf den Sonnenstrahl, der sie zum neuen Tage erwecken sollte. Der
Himmel, der sich darüber breitete, war still, klar und kühl, wie ein gutes Gewissen,
wie ein Mensch, der ausgeschlafen hat, der keinen Nest von Sorge und Schuld
aus dem vorigen Tage in den neuen Tag mitgebracht hat und sich froh ans Tage¬
werk macht. Unten vom Dorfe herauf klang der Ton der Glocken, die den
Sonntag einläuteteu. Und die Kirchen rings umher, die man vor dem Nebel
uicht sehen konnte, gaben Antwort mit ihren Glocken: Jawohl, wir wissen es schon,
daß Sonntag ist, und sind auch schon wach.

Und oben vorm Walde stand in dein frischen Morgentau ein junges Mädchen
atemlos in ratloser Verzweiflung und rang die Hände. Von dem Orte aus, wo
sie stand, führten drei Wege in den Wald hinein, und sie wußte nicht, welche"
Weg der eingeschlagen hatte, den sie suchte. In jedem Augenblicke konnte sie den
verhängnisvollen Schuß hören, der allem, auch ihrem Seelenfrieden ein Ende
machen mußte. Schlug sie den falschen Weg ein, so war dieses Ende un¬
vermeidlich.

Da tauchte zwischen den Büschen ein wohlbekannter, Heller Hut auf, und nun
erschien auch sein wohlbekannter Träger. Es war Wandrer, der seineu Sonntag-
Morgenspaziergang machte. Wandrer war ein hübscher Mensch, er war stattlich,
hatte freundliche Augen und ein vertrauenerweckendes Gesicht und eiuen Schnurr¬
bart, der ihm sehr gut stand. Aber mit einem Engel hatte er nicht die geringste
Ähnlichkeit. Dennoch war es Ellen zu Mute, als begegnete sie dein Erzengel
Gabriel. Sie eilte ihm entgegen. Herr Wandrer, rief sie atemlos, haben Sie
York gesehen?

Jawohl, gnädiges Fräulein, erwiderte er, eben bin ich ihm begegnet.

Gott sei Dank, jauchzte sie auf und lief weiter. Wandrer blieb verwundert
stehn, dann kehrte er um und folgte Ellen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte
er sie eingeholt. -- Was ist geschehn, Fräulein Ellen? fragte er.

Noch nichts, rief Ellen, aber York hat -- York will -- ich kann es
nicht sagen.

Es war nicht nötig, daß sie es sagte, Wandrer begriff die Lage voll¬
kommen und sagte: Kommen Sie, das müssen wir um jeden Preis verhindern. --
So eilten beide bis zu der Stelle, wo Wandrer York begegnet war. Da hielt


Doktor Vuttmüller und sein Freund

Am Abend zögerte sie, sich zur Ruhe zu legen; sie blieb lange, lange mit
ihren traurigen Gedanken allein. Es war längst Mitternacht vorüber, als sie ans
offne Fenster trat. Ein Lichtschein fiel aus der Nebenstube, die York bewohnte, auf
die Krone des alten Kastanienbanms, der gegeuüber stand. Und dieser Lichtschein
erlosch nicht, bis der bleiche Tag heraufkam. Ellen glaubte Schritte zu hören, die
die ganze Nacht ruhelos hin und her gingen. Als sie am nächsten Morgen aus
schwerem und unerquicklichen Schlaf erwachte, fuhr sie eilig in ihre Kleider und
machte sich auf, nach York zu sehen. Sie fand die Thür offen und das Zimmer
leer. Das Bett stand unberührt da, auf dem Tisch stand ein halbgeleertes Kästchen
mit Patronen, der Revolver, der sonst unter einer Wasfentrophäe an der Wand
hing, fehlte. Ellen hätte vor Schmerz aufschreien mögen; aber sie bezwang sich,
ergriff ihren Hut und eilte hinab und hinaus.

Unten stand Klapphorn. Klapphorn, rief sie, wo ist York? Klapphorn nahm
die vorschriftsmäßige Haltung an nud sagte: Der junge gnädige Herr sind soeben
den Weg nach dem Kirschberg hinaufgegangen, indem daß sie sagten, daß sie Kopf¬
schmerzen hätten. Auch sahen sie aus, mit Verlaub zu sagen, wie Käseqnark. Ellen
wartete das Ende des Berichts nicht ab, sondern eilte weiter, ohne zu bemerken,
daß sie ihren Hut nicht aufgesetzt hatte.

Es war Sonntag, früher Morgen vor Sonnenaufgang. Ein leichter Nebel
lag draußen auf der Ebene, der Wald aber stand über dem Nebel dunkel und
klar sichtbar. Auf alleu Gräsern lagen Tautropfen, die glitzerte» im Lichte des
Morgenrotes. Die ganze Welt sah aus wie neugeschaffen, aber noch schlafend,
noch wartend auf den Sonnenstrahl, der sie zum neuen Tage erwecken sollte. Der
Himmel, der sich darüber breitete, war still, klar und kühl, wie ein gutes Gewissen,
wie ein Mensch, der ausgeschlafen hat, der keinen Nest von Sorge und Schuld
aus dem vorigen Tage in den neuen Tag mitgebracht hat und sich froh ans Tage¬
werk macht. Unten vom Dorfe herauf klang der Ton der Glocken, die den
Sonntag einläuteteu. Und die Kirchen rings umher, die man vor dem Nebel
uicht sehen konnte, gaben Antwort mit ihren Glocken: Jawohl, wir wissen es schon,
daß Sonntag ist, und sind auch schon wach.

Und oben vorm Walde stand in dein frischen Morgentau ein junges Mädchen
atemlos in ratloser Verzweiflung und rang die Hände. Von dem Orte aus, wo
sie stand, führten drei Wege in den Wald hinein, und sie wußte nicht, welche»
Weg der eingeschlagen hatte, den sie suchte. In jedem Augenblicke konnte sie den
verhängnisvollen Schuß hören, der allem, auch ihrem Seelenfrieden ein Ende
machen mußte. Schlug sie den falschen Weg ein, so war dieses Ende un¬
vermeidlich.

Da tauchte zwischen den Büschen ein wohlbekannter, Heller Hut auf, und nun
erschien auch sein wohlbekannter Träger. Es war Wandrer, der seineu Sonntag-
Morgenspaziergang machte. Wandrer war ein hübscher Mensch, er war stattlich,
hatte freundliche Augen und ein vertrauenerweckendes Gesicht und eiuen Schnurr¬
bart, der ihm sehr gut stand. Aber mit einem Engel hatte er nicht die geringste
Ähnlichkeit. Dennoch war es Ellen zu Mute, als begegnete sie dein Erzengel
Gabriel. Sie eilte ihm entgegen. Herr Wandrer, rief sie atemlos, haben Sie
York gesehen?

Jawohl, gnädiges Fräulein, erwiderte er, eben bin ich ihm begegnet.

Gott sei Dank, jauchzte sie auf und lief weiter. Wandrer blieb verwundert
stehn, dann kehrte er um und folgte Ellen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte
er sie eingeholt. — Was ist geschehn, Fräulein Ellen? fragte er.

Noch nichts, rief Ellen, aber York hat — York will — ich kann es
nicht sagen.

Es war nicht nötig, daß sie es sagte, Wandrer begriff die Lage voll¬
kommen und sagte: Kommen Sie, das müssen wir um jeden Preis verhindern. —
So eilten beide bis zu der Stelle, wo Wandrer York begegnet war. Da hielt


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[0235] Doktor Vuttmüller und sein Freund Am Abend zögerte sie, sich zur Ruhe zu legen; sie blieb lange, lange mit ihren traurigen Gedanken allein. Es war längst Mitternacht vorüber, als sie ans offne Fenster trat. Ein Lichtschein fiel aus der Nebenstube, die York bewohnte, auf die Krone des alten Kastanienbanms, der gegeuüber stand. Und dieser Lichtschein erlosch nicht, bis der bleiche Tag heraufkam. Ellen glaubte Schritte zu hören, die die ganze Nacht ruhelos hin und her gingen. Als sie am nächsten Morgen aus schwerem und unerquicklichen Schlaf erwachte, fuhr sie eilig in ihre Kleider und machte sich auf, nach York zu sehen. Sie fand die Thür offen und das Zimmer leer. Das Bett stand unberührt da, auf dem Tisch stand ein halbgeleertes Kästchen mit Patronen, der Revolver, der sonst unter einer Wasfentrophäe an der Wand hing, fehlte. Ellen hätte vor Schmerz aufschreien mögen; aber sie bezwang sich, ergriff ihren Hut und eilte hinab und hinaus. Unten stand Klapphorn. Klapphorn, rief sie, wo ist York? Klapphorn nahm die vorschriftsmäßige Haltung an nud sagte: Der junge gnädige Herr sind soeben den Weg nach dem Kirschberg hinaufgegangen, indem daß sie sagten, daß sie Kopf¬ schmerzen hätten. Auch sahen sie aus, mit Verlaub zu sagen, wie Käseqnark. Ellen wartete das Ende des Berichts nicht ab, sondern eilte weiter, ohne zu bemerken, daß sie ihren Hut nicht aufgesetzt hatte. Es war Sonntag, früher Morgen vor Sonnenaufgang. Ein leichter Nebel lag draußen auf der Ebene, der Wald aber stand über dem Nebel dunkel und klar sichtbar. Auf alleu Gräsern lagen Tautropfen, die glitzerte» im Lichte des Morgenrotes. Die ganze Welt sah aus wie neugeschaffen, aber noch schlafend, noch wartend auf den Sonnenstrahl, der sie zum neuen Tage erwecken sollte. Der Himmel, der sich darüber breitete, war still, klar und kühl, wie ein gutes Gewissen, wie ein Mensch, der ausgeschlafen hat, der keinen Nest von Sorge und Schuld aus dem vorigen Tage in den neuen Tag mitgebracht hat und sich froh ans Tage¬ werk macht. Unten vom Dorfe herauf klang der Ton der Glocken, die den Sonntag einläuteteu. Und die Kirchen rings umher, die man vor dem Nebel uicht sehen konnte, gaben Antwort mit ihren Glocken: Jawohl, wir wissen es schon, daß Sonntag ist, und sind auch schon wach. Und oben vorm Walde stand in dein frischen Morgentau ein junges Mädchen atemlos in ratloser Verzweiflung und rang die Hände. Von dem Orte aus, wo sie stand, führten drei Wege in den Wald hinein, und sie wußte nicht, welche» Weg der eingeschlagen hatte, den sie suchte. In jedem Augenblicke konnte sie den verhängnisvollen Schuß hören, der allem, auch ihrem Seelenfrieden ein Ende machen mußte. Schlug sie den falschen Weg ein, so war dieses Ende un¬ vermeidlich. Da tauchte zwischen den Büschen ein wohlbekannter, Heller Hut auf, und nun erschien auch sein wohlbekannter Träger. Es war Wandrer, der seineu Sonntag- Morgenspaziergang machte. Wandrer war ein hübscher Mensch, er war stattlich, hatte freundliche Augen und ein vertrauenerweckendes Gesicht und eiuen Schnurr¬ bart, der ihm sehr gut stand. Aber mit einem Engel hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit. Dennoch war es Ellen zu Mute, als begegnete sie dein Erzengel Gabriel. Sie eilte ihm entgegen. Herr Wandrer, rief sie atemlos, haben Sie York gesehen? Jawohl, gnädiges Fräulein, erwiderte er, eben bin ich ihm begegnet. Gott sei Dank, jauchzte sie auf und lief weiter. Wandrer blieb verwundert stehn, dann kehrte er um und folgte Ellen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte er sie eingeholt. — Was ist geschehn, Fräulein Ellen? fragte er. Noch nichts, rief Ellen, aber York hat — York will — ich kann es nicht sagen. Es war nicht nötig, daß sie es sagte, Wandrer begriff die Lage voll¬ kommen und sagte: Kommen Sie, das müssen wir um jeden Preis verhindern. — So eilten beide bis zu der Stelle, wo Wandrer York begegnet war. Da hielt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/235>, abgerufen am 09.06.2024.