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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Kunde, die von diesen beiden Städten ausging? Die Liebe schmelzt die
Herzenshärtigkeit, und die Selbstsucht, sie wirst ihr Besondres weg, um dafür
das allen Gehörige zu gewinnen. So gewannen die Holländer das ihnen ge¬
hörende Land aus den Händen ihrer Unterdrücker und stellten es als selb¬
ständige politische Macht mitten in die Reihe der europäischen Großstaaten.

Wohl mag es eine Frage sein, ob Holland, gering an Umfang und ohne
die Möglichkeit der lokalen Expansion, den ganzen Umfang seiner Bedeutung,
den es im Jahre 1675 hatte, inmitten der sich mehr und mehr entfaltenden
nationalen Staaten des Kontinents habe behaupten können. Viele Gründe
der verschiedensten Art lassen diese Frage als berechtigt erscheinen, aber mir
die beiden hervorragendsten sollen uns hier beschäftigen. Zunächst war es für
die Niederlande ein Unglück, daß es der Glut der nationalen Erhebung nicht
gelang, zugleich mit der Abstoßung des äußern Feindes auch die Möglichkeit
des Nachwuchses ihrer vielköpfigen Zwietracht ansznsengen. Es ging ihnen
wie den Griechen, die durch Schlachten wie bei Salamis und Platäa die
Perser für immer aus ihren Grenzen vertreiben konnten, aber es nicht ver¬
mochten, ihrem nationalen Verbände von Grund aus das Gepräge politischer
Zusammengehörigkeit zu geben. Aus ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche
hatten die Holländer die Angewöhnung an das Sonderleben mitgebracht, das
im besondern germanisch ist, und so boten sie im kleinen dasselbe Bild, das
jenes Konglomerat von Stämmen derselben Nationalität im großen darstellte.

Wie groß und gefährlich die Reibungen waren, die aus diesem Hange
zu politischer Gliederung bis in die kleinsten Teile entstanden, darüber giebt die
Geschichte der Niederlande einen Ausweis so anziehenden Inhalts, daß ihm
aus der neuern Geschichte kaum etwas ähnliches an die Seite gestellt werden
kann. Wunderbar das Interesse, das von diesen Dingen ausgeht, und noch
wunderbarer dadurch, daß die drohende Entzündung nicht bloß einseitig hintan
gehalten wird, soudern daß an der Ausglättung der Gegensätze beide sich be¬
kämpfende Parteien gleicherweise teil haben. Den großen Männer" aus dem
Hause Oranien stehn ebenso große Republikaner gegenüber und wetteifern mit
ihnen, das Vaterland nicht unter der Reibung der gegeneinander stehenden
Kräfte leiden zu lassen. Besser freilich wäre es gewesen, wenn in einem akuten
Ausbruch die große Frage in dein Sinne erledigt worden wäre, wie sie
nach der Wiederherstellung Hollands im Jahre 1815 ihren Auftrag gefunden
hat. Einigemal hatte es anch den Anschein, als ob auf diese Weise die
Lösung herbeigeführt werden sollte, aber dann blieb das Leiden doch wieder
chronisch und wurde so einer der Gründe, von denen im vorigen die
Rede war.

Der zweite lag in dem Umstände, daß die englische Revolution von 1688
den Prinzen Wilhelm von Oranien auf den englischen Königsthron rief. Das
war allerdings deshalb ein großes historisches Ereignis, weil es dem Ehrgeize
Frankreichs den Zügel anlegte und das Gleichgewicht Europas auf die festeste
Grundlage stellte. Auch wurde der holländischen Politik damit die Stetigkeit
gegeben, die für die freie Bewegung des Handels und für die Entwicklung der
Industrie im Lande überaus günstig war. Gewiß höchst erfreulich für den


Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands

Kunde, die von diesen beiden Städten ausging? Die Liebe schmelzt die
Herzenshärtigkeit, und die Selbstsucht, sie wirst ihr Besondres weg, um dafür
das allen Gehörige zu gewinnen. So gewannen die Holländer das ihnen ge¬
hörende Land aus den Händen ihrer Unterdrücker und stellten es als selb¬
ständige politische Macht mitten in die Reihe der europäischen Großstaaten.

Wohl mag es eine Frage sein, ob Holland, gering an Umfang und ohne
die Möglichkeit der lokalen Expansion, den ganzen Umfang seiner Bedeutung,
den es im Jahre 1675 hatte, inmitten der sich mehr und mehr entfaltenden
nationalen Staaten des Kontinents habe behaupten können. Viele Gründe
der verschiedensten Art lassen diese Frage als berechtigt erscheinen, aber mir
die beiden hervorragendsten sollen uns hier beschäftigen. Zunächst war es für
die Niederlande ein Unglück, daß es der Glut der nationalen Erhebung nicht
gelang, zugleich mit der Abstoßung des äußern Feindes auch die Möglichkeit
des Nachwuchses ihrer vielköpfigen Zwietracht ansznsengen. Es ging ihnen
wie den Griechen, die durch Schlachten wie bei Salamis und Platäa die
Perser für immer aus ihren Grenzen vertreiben konnten, aber es nicht ver¬
mochten, ihrem nationalen Verbände von Grund aus das Gepräge politischer
Zusammengehörigkeit zu geben. Aus ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche
hatten die Holländer die Angewöhnung an das Sonderleben mitgebracht, das
im besondern germanisch ist, und so boten sie im kleinen dasselbe Bild, das
jenes Konglomerat von Stämmen derselben Nationalität im großen darstellte.

Wie groß und gefährlich die Reibungen waren, die aus diesem Hange
zu politischer Gliederung bis in die kleinsten Teile entstanden, darüber giebt die
Geschichte der Niederlande einen Ausweis so anziehenden Inhalts, daß ihm
aus der neuern Geschichte kaum etwas ähnliches an die Seite gestellt werden
kann. Wunderbar das Interesse, das von diesen Dingen ausgeht, und noch
wunderbarer dadurch, daß die drohende Entzündung nicht bloß einseitig hintan
gehalten wird, soudern daß an der Ausglättung der Gegensätze beide sich be¬
kämpfende Parteien gleicherweise teil haben. Den großen Männer» aus dem
Hause Oranien stehn ebenso große Republikaner gegenüber und wetteifern mit
ihnen, das Vaterland nicht unter der Reibung der gegeneinander stehenden
Kräfte leiden zu lassen. Besser freilich wäre es gewesen, wenn in einem akuten
Ausbruch die große Frage in dein Sinne erledigt worden wäre, wie sie
nach der Wiederherstellung Hollands im Jahre 1815 ihren Auftrag gefunden
hat. Einigemal hatte es anch den Anschein, als ob auf diese Weise die
Lösung herbeigeführt werden sollte, aber dann blieb das Leiden doch wieder
chronisch und wurde so einer der Gründe, von denen im vorigen die
Rede war.

Der zweite lag in dem Umstände, daß die englische Revolution von 1688
den Prinzen Wilhelm von Oranien auf den englischen Königsthron rief. Das
war allerdings deshalb ein großes historisches Ereignis, weil es dem Ehrgeize
Frankreichs den Zügel anlegte und das Gleichgewicht Europas auf die festeste
Grundlage stellte. Auch wurde der holländischen Politik damit die Stetigkeit
gegeben, die für die freie Bewegung des Handels und für die Entwicklung der
Industrie im Lande überaus günstig war. Gewiß höchst erfreulich für den


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[0354] Die Lehren der Geschichte Hollands und Englands Kunde, die von diesen beiden Städten ausging? Die Liebe schmelzt die Herzenshärtigkeit, und die Selbstsucht, sie wirst ihr Besondres weg, um dafür das allen Gehörige zu gewinnen. So gewannen die Holländer das ihnen ge¬ hörende Land aus den Händen ihrer Unterdrücker und stellten es als selb¬ ständige politische Macht mitten in die Reihe der europäischen Großstaaten. Wohl mag es eine Frage sein, ob Holland, gering an Umfang und ohne die Möglichkeit der lokalen Expansion, den ganzen Umfang seiner Bedeutung, den es im Jahre 1675 hatte, inmitten der sich mehr und mehr entfaltenden nationalen Staaten des Kontinents habe behaupten können. Viele Gründe der verschiedensten Art lassen diese Frage als berechtigt erscheinen, aber mir die beiden hervorragendsten sollen uns hier beschäftigen. Zunächst war es für die Niederlande ein Unglück, daß es der Glut der nationalen Erhebung nicht gelang, zugleich mit der Abstoßung des äußern Feindes auch die Möglichkeit des Nachwuchses ihrer vielköpfigen Zwietracht ansznsengen. Es ging ihnen wie den Griechen, die durch Schlachten wie bei Salamis und Platäa die Perser für immer aus ihren Grenzen vertreiben konnten, aber es nicht ver¬ mochten, ihrem nationalen Verbände von Grund aus das Gepräge politischer Zusammengehörigkeit zu geben. Aus ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche hatten die Holländer die Angewöhnung an das Sonderleben mitgebracht, das im besondern germanisch ist, und so boten sie im kleinen dasselbe Bild, das jenes Konglomerat von Stämmen derselben Nationalität im großen darstellte. Wie groß und gefährlich die Reibungen waren, die aus diesem Hange zu politischer Gliederung bis in die kleinsten Teile entstanden, darüber giebt die Geschichte der Niederlande einen Ausweis so anziehenden Inhalts, daß ihm aus der neuern Geschichte kaum etwas ähnliches an die Seite gestellt werden kann. Wunderbar das Interesse, das von diesen Dingen ausgeht, und noch wunderbarer dadurch, daß die drohende Entzündung nicht bloß einseitig hintan gehalten wird, soudern daß an der Ausglättung der Gegensätze beide sich be¬ kämpfende Parteien gleicherweise teil haben. Den großen Männer» aus dem Hause Oranien stehn ebenso große Republikaner gegenüber und wetteifern mit ihnen, das Vaterland nicht unter der Reibung der gegeneinander stehenden Kräfte leiden zu lassen. Besser freilich wäre es gewesen, wenn in einem akuten Ausbruch die große Frage in dein Sinne erledigt worden wäre, wie sie nach der Wiederherstellung Hollands im Jahre 1815 ihren Auftrag gefunden hat. Einigemal hatte es anch den Anschein, als ob auf diese Weise die Lösung herbeigeführt werden sollte, aber dann blieb das Leiden doch wieder chronisch und wurde so einer der Gründe, von denen im vorigen die Rede war. Der zweite lag in dem Umstände, daß die englische Revolution von 1688 den Prinzen Wilhelm von Oranien auf den englischen Königsthron rief. Das war allerdings deshalb ein großes historisches Ereignis, weil es dem Ehrgeize Frankreichs den Zügel anlegte und das Gleichgewicht Europas auf die festeste Grundlage stellte. Auch wurde der holländischen Politik damit die Stetigkeit gegeben, die für die freie Bewegung des Handels und für die Entwicklung der Industrie im Lande überaus günstig war. Gewiß höchst erfreulich für den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/354>, abgerufen am 15.05.2024.