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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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bin ich. Cartesius wollte mit dem Wust aufräume", den die Scholastik angehäuft
hatte, grub in die Tiefe, um das von keiner Skepsis erschütterliche Fundament zu
suchen, auf dein ein neuer, haltbarer Bau des Wissens aufgerichtet werden könne,
und fand als einzige unbezweifelbare Thatsache die Gewißheit vom eignen Dasein.
Nun giebt es aber nichts, was diese Gewißheit sicherer gewährte als ein Hieb
oder eine Ohrfeige. Man versehe dem Skeptiker eine, sofort wird er auffahren
und sie zurückgeben, und in diesem Augenblick wird er seiner eignen Existenz und
der seines Gegners, dessen Wange er kräftig fühlt, unbedingt gewiß sein, wird sich
als Subjekt, die Außenwelt als Objekt erfaßt und so den Grund zur Physik und
Metaphysik gelegt habe". Was uus also die Gewißheit des eigne" Daseins ver¬
schafft, das ist nicht sowohl das Denken als die Empfindung. Aber da Empfindung
ohne Bewußtsein nicht möglich, jedes Bewußtsein mit Vorstellungen verknüpft ist,
so darf man sich nicht wundern, daß ein Mann, dem das Denken Berufsarbeit
war, über der sich ihm fortwährend aufdrängenden Jntellektseite die Empfindungs¬
seite übersah. Etwas Geistiges ist ja auch das Empfinden; Empfinden, Wollei,,
Begehren, Denken sind nur verschiedne Offenbarungen, Selbstwahrnehmungen des¬
selben geistigen Wesens, und Cnrtesins hatte also ganz Recht, wenn er sagte: Ich
bin meiner selbst gewiß, und ich bin meiner gewiß als eines geistigen Wesens;
welche Seite dieses Wesens jedem im Augenblick gegenwärtig ist, darauf kommt für
die Hauptsache nichts um.

Dann aber gilt Hartmanns von Drews rekapitulierte Beweisführung gegen
die Bewußtseinsphilosophie nur unter der Voraussetzung, die ja bei manchem Jung-
hegelianer zutrifft, daß der Philosoph sein eignes kleines Ich für dos Absolute hält.
Daß der Mensch mit diesem seinem kleinen Ich das Seiende nicht einmal wissend
umspannen, geschweige denn begreifen oder gar schaffen kann, das steht ja für jeden
nicht Wahnsinnigen fest. Jeder von uns ist sich bewußt, daß er sich nicht selbst
gemacht hat, daß er nicht weiß, wie er geworden ist, wie es zugeht, daß er denkt,
empfindet, seine Muskeln in Bewegung setzt, daß er nach denselben Gesetzen denkt
wie seine Nebenmenschen und sich darum mit ihnen verständigen kann. Daraus hat
der denkende Mensch von jeher gefolgert, daß er sein Dasein einem andern Wesen
verdanken müsse, das ihn an Macht und Intelligenz unendlich überragt, und mit
dieser Hypothese treibt er berechtigte Metaphysik, gerade so wie der Physiker, der
annimmt, daß unsrer Wärmeempfindnng eine außerhalb unsers Leibes liegende Ur¬
sache zu Grunde liegen müsse, die er uns -- ohne sie jemals gesehen zu haben --
als eine besondre Art Molekularbewegung beschreibt. Berechtigte Metaphysik ist
es auch noch, wenn wir behaupten, das UrWesen müsse so beschaffen sein, daß es
die Keime aller Erscheinungen enthält; da sich in dieser Welt Intellekt, Willen,
Produktivität finden, so müsse das UrWesen Intellekt, Willen und Prvduktionslrnst
haben und zwar in dem zur Hervorbringung dieser ganzen Welt ausreichenden
Maße. Unberechtigte Metaphysik aber ist es, wenn wir die Beschaffenheit dieses
hypothetischen Wesens mit dem Anspruch beschreiben, jede von unsrer Beschreibung
abweichende für falsch erklären zu dürfen. Soweit gilt die von Kant gezogne
Grenze unzweifelhaft, und darum ist es unwissenschaftlich, wenn Hartmann und
Drews apodiktisch behaupten, das UrWesen, dessen unser eignes Bewußtsein schaffende
Thätigkeit uns unbewußt bleibt, sei nu und für sich selbst unbewußt. Hier giebt
es nicht mehr Gewißheit, sondern, wie ja die beiden Philosophen selbst hervor¬
heben, nur Wahrscheinlichkeiten (deren eine übrigens durch den religiösen Glauben
zur Gewißheit erhoben werden kann). Und wir behaupten nun, daß das bewußte
Absolute eine größere Wahrscheinlichkeit habe als das unbewußte. Ein Wesen,
das weder wahrnimmt noch wahrgenommen wird -- und ein solches wäre das
unbewußte Absolute vor der Weltschöpfung --, ein solches Wesen wäre das
reine Nichts, und ans Nichts wird nichts, am wenigsten eine ganze Welt. Zudem
widerlegt Hartmann sich selbst. Er erklärt den Entschluß der Gottheit, ihren
Ideengehalt schaffend zu verwirklichen, aus ihrer Unseligkeit. Nnseligkeit wäre nicht


bin ich. Cartesius wollte mit dem Wust aufräume«, den die Scholastik angehäuft
hatte, grub in die Tiefe, um das von keiner Skepsis erschütterliche Fundament zu
suchen, auf dein ein neuer, haltbarer Bau des Wissens aufgerichtet werden könne,
und fand als einzige unbezweifelbare Thatsache die Gewißheit vom eignen Dasein.
Nun giebt es aber nichts, was diese Gewißheit sicherer gewährte als ein Hieb
oder eine Ohrfeige. Man versehe dem Skeptiker eine, sofort wird er auffahren
und sie zurückgeben, und in diesem Augenblick wird er seiner eignen Existenz und
der seines Gegners, dessen Wange er kräftig fühlt, unbedingt gewiß sein, wird sich
als Subjekt, die Außenwelt als Objekt erfaßt und so den Grund zur Physik und
Metaphysik gelegt habe». Was uus also die Gewißheit des eigne» Daseins ver¬
schafft, das ist nicht sowohl das Denken als die Empfindung. Aber da Empfindung
ohne Bewußtsein nicht möglich, jedes Bewußtsein mit Vorstellungen verknüpft ist,
so darf man sich nicht wundern, daß ein Mann, dem das Denken Berufsarbeit
war, über der sich ihm fortwährend aufdrängenden Jntellektseite die Empfindungs¬
seite übersah. Etwas Geistiges ist ja auch das Empfinden; Empfinden, Wollei,,
Begehren, Denken sind nur verschiedne Offenbarungen, Selbstwahrnehmungen des¬
selben geistigen Wesens, und Cnrtesins hatte also ganz Recht, wenn er sagte: Ich
bin meiner selbst gewiß, und ich bin meiner gewiß als eines geistigen Wesens;
welche Seite dieses Wesens jedem im Augenblick gegenwärtig ist, darauf kommt für
die Hauptsache nichts um.

Dann aber gilt Hartmanns von Drews rekapitulierte Beweisführung gegen
die Bewußtseinsphilosophie nur unter der Voraussetzung, die ja bei manchem Jung-
hegelianer zutrifft, daß der Philosoph sein eignes kleines Ich für dos Absolute hält.
Daß der Mensch mit diesem seinem kleinen Ich das Seiende nicht einmal wissend
umspannen, geschweige denn begreifen oder gar schaffen kann, das steht ja für jeden
nicht Wahnsinnigen fest. Jeder von uns ist sich bewußt, daß er sich nicht selbst
gemacht hat, daß er nicht weiß, wie er geworden ist, wie es zugeht, daß er denkt,
empfindet, seine Muskeln in Bewegung setzt, daß er nach denselben Gesetzen denkt
wie seine Nebenmenschen und sich darum mit ihnen verständigen kann. Daraus hat
der denkende Mensch von jeher gefolgert, daß er sein Dasein einem andern Wesen
verdanken müsse, das ihn an Macht und Intelligenz unendlich überragt, und mit
dieser Hypothese treibt er berechtigte Metaphysik, gerade so wie der Physiker, der
annimmt, daß unsrer Wärmeempfindnng eine außerhalb unsers Leibes liegende Ur¬
sache zu Grunde liegen müsse, die er uns — ohne sie jemals gesehen zu haben —
als eine besondre Art Molekularbewegung beschreibt. Berechtigte Metaphysik ist
es auch noch, wenn wir behaupten, das UrWesen müsse so beschaffen sein, daß es
die Keime aller Erscheinungen enthält; da sich in dieser Welt Intellekt, Willen,
Produktivität finden, so müsse das UrWesen Intellekt, Willen und Prvduktionslrnst
haben und zwar in dem zur Hervorbringung dieser ganzen Welt ausreichenden
Maße. Unberechtigte Metaphysik aber ist es, wenn wir die Beschaffenheit dieses
hypothetischen Wesens mit dem Anspruch beschreiben, jede von unsrer Beschreibung
abweichende für falsch erklären zu dürfen. Soweit gilt die von Kant gezogne
Grenze unzweifelhaft, und darum ist es unwissenschaftlich, wenn Hartmann und
Drews apodiktisch behaupten, das UrWesen, dessen unser eignes Bewußtsein schaffende
Thätigkeit uns unbewußt bleibt, sei nu und für sich selbst unbewußt. Hier giebt
es nicht mehr Gewißheit, sondern, wie ja die beiden Philosophen selbst hervor¬
heben, nur Wahrscheinlichkeiten (deren eine übrigens durch den religiösen Glauben
zur Gewißheit erhoben werden kann). Und wir behaupten nun, daß das bewußte
Absolute eine größere Wahrscheinlichkeit habe als das unbewußte. Ein Wesen,
das weder wahrnimmt noch wahrgenommen wird — und ein solches wäre das
unbewußte Absolute vor der Weltschöpfung —, ein solches Wesen wäre das
reine Nichts, und ans Nichts wird nichts, am wenigsten eine ganze Welt. Zudem
widerlegt Hartmann sich selbst. Er erklärt den Entschluß der Gottheit, ihren
Ideengehalt schaffend zu verwirklichen, aus ihrer Unseligkeit. Nnseligkeit wäre nicht


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[0407] bin ich. Cartesius wollte mit dem Wust aufräume«, den die Scholastik angehäuft hatte, grub in die Tiefe, um das von keiner Skepsis erschütterliche Fundament zu suchen, auf dein ein neuer, haltbarer Bau des Wissens aufgerichtet werden könne, und fand als einzige unbezweifelbare Thatsache die Gewißheit vom eignen Dasein. Nun giebt es aber nichts, was diese Gewißheit sicherer gewährte als ein Hieb oder eine Ohrfeige. Man versehe dem Skeptiker eine, sofort wird er auffahren und sie zurückgeben, und in diesem Augenblick wird er seiner eignen Existenz und der seines Gegners, dessen Wange er kräftig fühlt, unbedingt gewiß sein, wird sich als Subjekt, die Außenwelt als Objekt erfaßt und so den Grund zur Physik und Metaphysik gelegt habe». Was uus also die Gewißheit des eigne» Daseins ver¬ schafft, das ist nicht sowohl das Denken als die Empfindung. Aber da Empfindung ohne Bewußtsein nicht möglich, jedes Bewußtsein mit Vorstellungen verknüpft ist, so darf man sich nicht wundern, daß ein Mann, dem das Denken Berufsarbeit war, über der sich ihm fortwährend aufdrängenden Jntellektseite die Empfindungs¬ seite übersah. Etwas Geistiges ist ja auch das Empfinden; Empfinden, Wollei,, Begehren, Denken sind nur verschiedne Offenbarungen, Selbstwahrnehmungen des¬ selben geistigen Wesens, und Cnrtesins hatte also ganz Recht, wenn er sagte: Ich bin meiner selbst gewiß, und ich bin meiner gewiß als eines geistigen Wesens; welche Seite dieses Wesens jedem im Augenblick gegenwärtig ist, darauf kommt für die Hauptsache nichts um. Dann aber gilt Hartmanns von Drews rekapitulierte Beweisführung gegen die Bewußtseinsphilosophie nur unter der Voraussetzung, die ja bei manchem Jung- hegelianer zutrifft, daß der Philosoph sein eignes kleines Ich für dos Absolute hält. Daß der Mensch mit diesem seinem kleinen Ich das Seiende nicht einmal wissend umspannen, geschweige denn begreifen oder gar schaffen kann, das steht ja für jeden nicht Wahnsinnigen fest. Jeder von uns ist sich bewußt, daß er sich nicht selbst gemacht hat, daß er nicht weiß, wie er geworden ist, wie es zugeht, daß er denkt, empfindet, seine Muskeln in Bewegung setzt, daß er nach denselben Gesetzen denkt wie seine Nebenmenschen und sich darum mit ihnen verständigen kann. Daraus hat der denkende Mensch von jeher gefolgert, daß er sein Dasein einem andern Wesen verdanken müsse, das ihn an Macht und Intelligenz unendlich überragt, und mit dieser Hypothese treibt er berechtigte Metaphysik, gerade so wie der Physiker, der annimmt, daß unsrer Wärmeempfindnng eine außerhalb unsers Leibes liegende Ur¬ sache zu Grunde liegen müsse, die er uns — ohne sie jemals gesehen zu haben — als eine besondre Art Molekularbewegung beschreibt. Berechtigte Metaphysik ist es auch noch, wenn wir behaupten, das UrWesen müsse so beschaffen sein, daß es die Keime aller Erscheinungen enthält; da sich in dieser Welt Intellekt, Willen, Produktivität finden, so müsse das UrWesen Intellekt, Willen und Prvduktionslrnst haben und zwar in dem zur Hervorbringung dieser ganzen Welt ausreichenden Maße. Unberechtigte Metaphysik aber ist es, wenn wir die Beschaffenheit dieses hypothetischen Wesens mit dem Anspruch beschreiben, jede von unsrer Beschreibung abweichende für falsch erklären zu dürfen. Soweit gilt die von Kant gezogne Grenze unzweifelhaft, und darum ist es unwissenschaftlich, wenn Hartmann und Drews apodiktisch behaupten, das UrWesen, dessen unser eignes Bewußtsein schaffende Thätigkeit uns unbewußt bleibt, sei nu und für sich selbst unbewußt. Hier giebt es nicht mehr Gewißheit, sondern, wie ja die beiden Philosophen selbst hervor¬ heben, nur Wahrscheinlichkeiten (deren eine übrigens durch den religiösen Glauben zur Gewißheit erhoben werden kann). Und wir behaupten nun, daß das bewußte Absolute eine größere Wahrscheinlichkeit habe als das unbewußte. Ein Wesen, das weder wahrnimmt noch wahrgenommen wird — und ein solches wäre das unbewußte Absolute vor der Weltschöpfung —, ein solches Wesen wäre das reine Nichts, und ans Nichts wird nichts, am wenigsten eine ganze Welt. Zudem widerlegt Hartmann sich selbst. Er erklärt den Entschluß der Gottheit, ihren Ideengehalt schaffend zu verwirklichen, aus ihrer Unseligkeit. Nnseligkeit wäre nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/407>, abgerufen am 16.05.2024.