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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Minister Bosse

ist man augenblicklich sehr zahm gegen die Sozialdemokratie und fahrt sänftiglich mit
diesem Knaben Absalom. Nach meiner Empfindung viel zu sanft. Für die Handels¬
verträge stimmt die Bande nachher doch nicht, und je sanfter die Offiziösen sind,
desto unverschämter und gemeiner hetzt der Vorwärts. . . .

Kann man nun dergleichen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in den
Grenzboten zur Sprache bringen? Oder die Gefahren eures Paktierens mit dem
Zentrum über Jefuiteugesctz, Polenbehandluug und staatliche Schulaufsicht? Ich bin,
wenn Sie ja sagen, sehr gern dazu bereit, obwohl ich mir, seitdem ich nicht mehr
aktiv mitmache und also nicht mehr amtliche Informationen bekomme, fast wie ein
Bierbankpolitiker und halber Flnchliug vorkomme. Auf Ihren Artikel über Huma¬
nismus und Gymnasium freue ich mich. Je toller, desto besser.

Daß A. PH. mit der Siegesallee zufrieden ist, macht mich ganz stolz. Denn
ich verstehe von diesen Dingen nur soviel, wie der gewöhnliche, gesunde Menschen¬
verstand. PH. aber versteht sehr viel von der Kunst, vielleicht mehr, als alle andern
Kunstkritiker bei uns zusammen.

Am 26. März erhielt er die Nachricht von dem Tode einer Schwägerin,
der ihn zu einer Reise nach Quedlinburg veranlaßte. Trotzdem schrieb er mir
am Nachmittag vor seiner Abreise noch einen langen Brief über die Grenz¬
botenangelegenheit und vergaß nicht hinzuzufügen: "Ihre Laiengedanken sind
ausgezeichnet." Ich erWahne dies nicht, weil es ein Lob für mich ausspricht,
sondern der Sache wegen, und weil es mir von sehr großer Wichtigkeit er¬
scheint, daß dieser Mann Anschauungen billigte, die ich hegte. Ich hatte in
den Tagen des Kampfes um die "Gleichberechtigung" den Aufsatz "Laiengedanken
über Humanismus und humanistische Schule" geschrieben und in den Grenz¬
boten veröffentlicht -- mit einigem Zagen, obgleich ich mich auf die An¬
schauungen vortrefflicher Freunde stützen konnte. Ich konnte erwarten, daß er
scharfe Gegnerschaft finden, und auch auf solcher Seite, der ich zu dienen
suchte, Mißverständnis und Opposition begegnen würde. Es war mir deshalb
beruhigend und wohlthuend, als ich den folgenden Brief von dein Minister
erhielt, der auch zeigt, wie er mitten im eignen Leid daran Anteil zu nehmen
bereit war, was andre Herzen bewegte.

9. April 1901

Empfangen Sie meinen und meiner Frau herzlichen Dank für den wohl¬
thuenden Ausdruck Ihrer Teilnahme an unsrer Trauer. Wir haben vorgestern auch
noch einen kleinen, sieben Monate alten Enkel ins Grab legen müssen. So ist der
Ernst des Todes mit seinen Rätseln in dieser Zeit sehr nahe an uns herangetreten.
In Wirklichkeit ist er uns freilich immer nahe. Wir achten nur weniger darauf.
Das mag für die Aufgaben des Lebens Wohl sehr nützlich und gut sein.

Inzwischen hat die Gemütsbewegung oder die Reise mir wieder einen Anfall
meines Leidens zugezogen. Jetzt ist das vorüber, aber es hindert und drückt doch.

. . . Auf Ihren Brief hin habe ich mir die Laieugedauken über Humanismus
uoch einmal durchgelesen. Bis auf zwei oder drei Superlative, an deren Stelle
ich deu stärkern Positiv gesetzt hätte, unterschreibe ich jedes Wort. Im preußischen
Herrenhause hat neulich das technische, hochmütige Banausentum . . . einen thörichter¬
weise gegen die Juristen gerichteten Vorstoß versucht, ist aber auf der ganzen Linie
abgefallen. Ich wollte, es würde mit der Gleichberechtigung für alle Fächer endlich
Ernst gemacht. Glauben Sie mir, es hilft alles nichts, das Gymnasium, und zwar
das wieder rechtschaffen humanistisch gewordne Gymnasium, schlägt die andern
Schulen doch. Endlich wird ja doch auch die minderwertige Behandlung der höhern
Lehrer durch Miguel aufhören. Ich habe als Minister für sie ini Staatsministerium


Grenzboten II 1902 II
Minister Bosse

ist man augenblicklich sehr zahm gegen die Sozialdemokratie und fahrt sänftiglich mit
diesem Knaben Absalom. Nach meiner Empfindung viel zu sanft. Für die Handels¬
verträge stimmt die Bande nachher doch nicht, und je sanfter die Offiziösen sind,
desto unverschämter und gemeiner hetzt der Vorwärts. . . .

Kann man nun dergleichen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in den
Grenzboten zur Sprache bringen? Oder die Gefahren eures Paktierens mit dem
Zentrum über Jefuiteugesctz, Polenbehandluug und staatliche Schulaufsicht? Ich bin,
wenn Sie ja sagen, sehr gern dazu bereit, obwohl ich mir, seitdem ich nicht mehr
aktiv mitmache und also nicht mehr amtliche Informationen bekomme, fast wie ein
Bierbankpolitiker und halber Flnchliug vorkomme. Auf Ihren Artikel über Huma¬
nismus und Gymnasium freue ich mich. Je toller, desto besser.

Daß A. PH. mit der Siegesallee zufrieden ist, macht mich ganz stolz. Denn
ich verstehe von diesen Dingen nur soviel, wie der gewöhnliche, gesunde Menschen¬
verstand. PH. aber versteht sehr viel von der Kunst, vielleicht mehr, als alle andern
Kunstkritiker bei uns zusammen.

Am 26. März erhielt er die Nachricht von dem Tode einer Schwägerin,
der ihn zu einer Reise nach Quedlinburg veranlaßte. Trotzdem schrieb er mir
am Nachmittag vor seiner Abreise noch einen langen Brief über die Grenz¬
botenangelegenheit und vergaß nicht hinzuzufügen: „Ihre Laiengedanken sind
ausgezeichnet." Ich erWahne dies nicht, weil es ein Lob für mich ausspricht,
sondern der Sache wegen, und weil es mir von sehr großer Wichtigkeit er¬
scheint, daß dieser Mann Anschauungen billigte, die ich hegte. Ich hatte in
den Tagen des Kampfes um die „Gleichberechtigung" den Aufsatz „Laiengedanken
über Humanismus und humanistische Schule" geschrieben und in den Grenz¬
boten veröffentlicht — mit einigem Zagen, obgleich ich mich auf die An¬
schauungen vortrefflicher Freunde stützen konnte. Ich konnte erwarten, daß er
scharfe Gegnerschaft finden, und auch auf solcher Seite, der ich zu dienen
suchte, Mißverständnis und Opposition begegnen würde. Es war mir deshalb
beruhigend und wohlthuend, als ich den folgenden Brief von dein Minister
erhielt, der auch zeigt, wie er mitten im eignen Leid daran Anteil zu nehmen
bereit war, was andre Herzen bewegte.

9. April 1901

Empfangen Sie meinen und meiner Frau herzlichen Dank für den wohl¬
thuenden Ausdruck Ihrer Teilnahme an unsrer Trauer. Wir haben vorgestern auch
noch einen kleinen, sieben Monate alten Enkel ins Grab legen müssen. So ist der
Ernst des Todes mit seinen Rätseln in dieser Zeit sehr nahe an uns herangetreten.
In Wirklichkeit ist er uns freilich immer nahe. Wir achten nur weniger darauf.
Das mag für die Aufgaben des Lebens Wohl sehr nützlich und gut sein.

Inzwischen hat die Gemütsbewegung oder die Reise mir wieder einen Anfall
meines Leidens zugezogen. Jetzt ist das vorüber, aber es hindert und drückt doch.

. . . Auf Ihren Brief hin habe ich mir die Laieugedauken über Humanismus
uoch einmal durchgelesen. Bis auf zwei oder drei Superlative, an deren Stelle
ich deu stärkern Positiv gesetzt hätte, unterschreibe ich jedes Wort. Im preußischen
Herrenhause hat neulich das technische, hochmütige Banausentum . . . einen thörichter¬
weise gegen die Juristen gerichteten Vorstoß versucht, ist aber auf der ganzen Linie
abgefallen. Ich wollte, es würde mit der Gleichberechtigung für alle Fächer endlich
Ernst gemacht. Glauben Sie mir, es hilft alles nichts, das Gymnasium, und zwar
das wieder rechtschaffen humanistisch gewordne Gymnasium, schlägt die andern
Schulen doch. Endlich wird ja doch auch die minderwertige Behandlung der höhern
Lehrer durch Miguel aufhören. Ich habe als Minister für sie ini Staatsministerium


Grenzboten II 1902 II
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/89>, abgerufen am 31.10.2024.