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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

zusammeln mit Rhcingaucr Winzern die Verteidigung der Stadt übernommen hätten^
wurde im Koblenzer Residenzschloß schleunigst alles Tafelsilber in Kisten verpackt
und auf das Schiff verladen, das schon längst bereit lag, um die geheiligte Person
des Landesherrn bei den ersten Anzeichen ernster Gefahr stromabwärts in Sicherheit
zu bringen.

Wenn es für Mnrigny in dieser traurigen Zeit noch einen schwachen Trost
gab, so war es das Bewußtsein, daß seine Tochter jetzt mehr als je der Unter¬
stützung bedürfte, und daß er selbst in der Lage war, ihr -- wenn anch nur im
geheimen -- Wohltaten zu erweisen. Er hatte in Erfahrung gebracht, Marguerite
suche sich durch Anfertigung feiner Stickereien zu ernähren und habe unter den
Damen der Koblenzer Noblesse einen kleinen Kreis von Kundinneu, die ihr die
Arbeiten um ein Billiges abkauften. Das brachte ihn auf den Gedanken, seiner
Tochter einen Teil ihrer häuslichen Pflichten und Sorgen abzunehmen, indem er
jeden Mittag in Mutter Haßlachers Küche höchst geheimnisvoll irgend ein Gericht
kochte und durch einen verschwiegnen alten Lohndiener nach der Weisergasfe bringen
ließ. Der Bote mußte sich Marguerite gegenüber stellen, als käme er im Auf¬
trage einer hochgestellten Dame, die jedoch nicht genannt sein wolle.

Die List gelang, und mehrere Wochen lang wanderte der Topf des vornehmen
Kochs zwischen Kornpforte und Weisergasfe hin und her. Aber eines Tages kam
der alte Herr auf deu nicht gerade glücklichen Einfall, ein Gericht zu kochen, von
dem er wußte, daß es die Lieblingsspeise seiner Tochter war. Und dieses Gericht
wurde zum Verräter. Nie war die Scheidewand zwischeu den Häusern Marigny
und Villeroi dem Einsturz näher gewesen, als an dem Tage, wo Marguerite schon
an dem Dufte ihres Mittagmahls den Urheber und Spender erkannte. Wohl hatte
Henri seiner Fran uns das strengste verboten, sich ihrem Vater zu nähern, aber
sie hätte kein Weib, keine Tochter sein müssen, wenn unter dem warmen Hauche
von soviel sorgender, selbstloser Liebe nicht die dünne Eiskruste ihres Herzens zum
Schmelzen gebracht worden wäre.

Diesesmal setzte sich die junge Frau, nachdem sie ihr Mahl gehalten, uicht
wie sonst sogleich wieder an den Stickrahmen, sondern blieb, das Haupt in die
Hand gestützt, am Tische sitzen. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal alles, was
sie seit ihrer Flucht aus Aigremont erlebt hatte, sie rief alle Gespräche, all die
peinlichen Auftritte in ihr Gedächtnis zurück, die dem Brüche mit ihrem Vater
vorangegangen waren, und durchlebte in der Zeitspanne von kaum eiuer einzigen
Stunde zum zweitenmal die lange Kette der bitter-seligen Monate ihrer Braut¬
zeit. Und das Ergebnis ihres Nachdenkens war die Erkenntnis, daß sie selbst es
sei, die die Schuld an dem Zerwürfnis trage. Hätte sie mit ihrem Vater mehr
Geduld und Nachsicht gehabt, hätte sie es verstanden, mit etwas mehr weiblichem
Feingefühl auf seiue Eigentümlichkeiten einzugehn und nach und nach die Gegen¬
sätze in den Anschauungen der beiden Männer auszugleichen, so wäre jene ge¬
waltsam herbeigeführte Entfremdung wahrscheinlich vermieden worden. Sie hatte
den Vater ans eine lieblose und unkindliche Weise verlassen, an ihr war es also
jetzt auch, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.

Sie bat die Nachbarin, das Kind zu hüten, warf ein Tuch um die Schultern
und begab sich zum "Englischen Gruß." Die Wittib Haßlacher öffnete ihr die
Tür. In Wesen und Gesichtsausdruck der Alten lag etwas Kaltes, Zurückhaltendes,
ja beinahe Abstoßendes, das Marguerite nichts Gutes ahnen ließ.

Ist mein Vater zuhause? fragte die junge Frau.

Die Wittib lachte laut auf. Ihr Vater? Wie soll ich wissen, ob Ihr Vater
zuhause ist? sagte sie, wie käme ich -- eine anständige Frau -- dazu, Ihren Vater
zu keimen?

Mein Gott, Madame, entsinnen Sie sich meiner nicht mehr? Wissen Sie nicht,
daß ich die Tochter des Marquis von Marigny bin?

Meine Gute, das glauben Sie doch selbst nicht. Und wenn Sie wirklich so


Der Marquis von Marigny

zusammeln mit Rhcingaucr Winzern die Verteidigung der Stadt übernommen hätten^
wurde im Koblenzer Residenzschloß schleunigst alles Tafelsilber in Kisten verpackt
und auf das Schiff verladen, das schon längst bereit lag, um die geheiligte Person
des Landesherrn bei den ersten Anzeichen ernster Gefahr stromabwärts in Sicherheit
zu bringen.

Wenn es für Mnrigny in dieser traurigen Zeit noch einen schwachen Trost
gab, so war es das Bewußtsein, daß seine Tochter jetzt mehr als je der Unter¬
stützung bedürfte, und daß er selbst in der Lage war, ihr — wenn anch nur im
geheimen — Wohltaten zu erweisen. Er hatte in Erfahrung gebracht, Marguerite
suche sich durch Anfertigung feiner Stickereien zu ernähren und habe unter den
Damen der Koblenzer Noblesse einen kleinen Kreis von Kundinneu, die ihr die
Arbeiten um ein Billiges abkauften. Das brachte ihn auf den Gedanken, seiner
Tochter einen Teil ihrer häuslichen Pflichten und Sorgen abzunehmen, indem er
jeden Mittag in Mutter Haßlachers Küche höchst geheimnisvoll irgend ein Gericht
kochte und durch einen verschwiegnen alten Lohndiener nach der Weisergasfe bringen
ließ. Der Bote mußte sich Marguerite gegenüber stellen, als käme er im Auf¬
trage einer hochgestellten Dame, die jedoch nicht genannt sein wolle.

Die List gelang, und mehrere Wochen lang wanderte der Topf des vornehmen
Kochs zwischen Kornpforte und Weisergasfe hin und her. Aber eines Tages kam
der alte Herr auf deu nicht gerade glücklichen Einfall, ein Gericht zu kochen, von
dem er wußte, daß es die Lieblingsspeise seiner Tochter war. Und dieses Gericht
wurde zum Verräter. Nie war die Scheidewand zwischeu den Häusern Marigny
und Villeroi dem Einsturz näher gewesen, als an dem Tage, wo Marguerite schon
an dem Dufte ihres Mittagmahls den Urheber und Spender erkannte. Wohl hatte
Henri seiner Fran uns das strengste verboten, sich ihrem Vater zu nähern, aber
sie hätte kein Weib, keine Tochter sein müssen, wenn unter dem warmen Hauche
von soviel sorgender, selbstloser Liebe nicht die dünne Eiskruste ihres Herzens zum
Schmelzen gebracht worden wäre.

Diesesmal setzte sich die junge Frau, nachdem sie ihr Mahl gehalten, uicht
wie sonst sogleich wieder an den Stickrahmen, sondern blieb, das Haupt in die
Hand gestützt, am Tische sitzen. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal alles, was
sie seit ihrer Flucht aus Aigremont erlebt hatte, sie rief alle Gespräche, all die
peinlichen Auftritte in ihr Gedächtnis zurück, die dem Brüche mit ihrem Vater
vorangegangen waren, und durchlebte in der Zeitspanne von kaum eiuer einzigen
Stunde zum zweitenmal die lange Kette der bitter-seligen Monate ihrer Braut¬
zeit. Und das Ergebnis ihres Nachdenkens war die Erkenntnis, daß sie selbst es
sei, die die Schuld an dem Zerwürfnis trage. Hätte sie mit ihrem Vater mehr
Geduld und Nachsicht gehabt, hätte sie es verstanden, mit etwas mehr weiblichem
Feingefühl auf seiue Eigentümlichkeiten einzugehn und nach und nach die Gegen¬
sätze in den Anschauungen der beiden Männer auszugleichen, so wäre jene ge¬
waltsam herbeigeführte Entfremdung wahrscheinlich vermieden worden. Sie hatte
den Vater ans eine lieblose und unkindliche Weise verlassen, an ihr war es also
jetzt auch, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.

Sie bat die Nachbarin, das Kind zu hüten, warf ein Tuch um die Schultern
und begab sich zum „Englischen Gruß." Die Wittib Haßlacher öffnete ihr die
Tür. In Wesen und Gesichtsausdruck der Alten lag etwas Kaltes, Zurückhaltendes,
ja beinahe Abstoßendes, das Marguerite nichts Gutes ahnen ließ.

Ist mein Vater zuhause? fragte die junge Frau.

Die Wittib lachte laut auf. Ihr Vater? Wie soll ich wissen, ob Ihr Vater
zuhause ist? sagte sie, wie käme ich — eine anständige Frau — dazu, Ihren Vater
zu keimen?

Mein Gott, Madame, entsinnen Sie sich meiner nicht mehr? Wissen Sie nicht,
daß ich die Tochter des Marquis von Marigny bin?

Meine Gute, das glauben Sie doch selbst nicht. Und wenn Sie wirklich so


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[0181] Der Marquis von Marigny zusammeln mit Rhcingaucr Winzern die Verteidigung der Stadt übernommen hätten^ wurde im Koblenzer Residenzschloß schleunigst alles Tafelsilber in Kisten verpackt und auf das Schiff verladen, das schon längst bereit lag, um die geheiligte Person des Landesherrn bei den ersten Anzeichen ernster Gefahr stromabwärts in Sicherheit zu bringen. Wenn es für Mnrigny in dieser traurigen Zeit noch einen schwachen Trost gab, so war es das Bewußtsein, daß seine Tochter jetzt mehr als je der Unter¬ stützung bedürfte, und daß er selbst in der Lage war, ihr — wenn anch nur im geheimen — Wohltaten zu erweisen. Er hatte in Erfahrung gebracht, Marguerite suche sich durch Anfertigung feiner Stickereien zu ernähren und habe unter den Damen der Koblenzer Noblesse einen kleinen Kreis von Kundinneu, die ihr die Arbeiten um ein Billiges abkauften. Das brachte ihn auf den Gedanken, seiner Tochter einen Teil ihrer häuslichen Pflichten und Sorgen abzunehmen, indem er jeden Mittag in Mutter Haßlachers Küche höchst geheimnisvoll irgend ein Gericht kochte und durch einen verschwiegnen alten Lohndiener nach der Weisergasfe bringen ließ. Der Bote mußte sich Marguerite gegenüber stellen, als käme er im Auf¬ trage einer hochgestellten Dame, die jedoch nicht genannt sein wolle. Die List gelang, und mehrere Wochen lang wanderte der Topf des vornehmen Kochs zwischen Kornpforte und Weisergasfe hin und her. Aber eines Tages kam der alte Herr auf deu nicht gerade glücklichen Einfall, ein Gericht zu kochen, von dem er wußte, daß es die Lieblingsspeise seiner Tochter war. Und dieses Gericht wurde zum Verräter. Nie war die Scheidewand zwischeu den Häusern Marigny und Villeroi dem Einsturz näher gewesen, als an dem Tage, wo Marguerite schon an dem Dufte ihres Mittagmahls den Urheber und Spender erkannte. Wohl hatte Henri seiner Fran uns das strengste verboten, sich ihrem Vater zu nähern, aber sie hätte kein Weib, keine Tochter sein müssen, wenn unter dem warmen Hauche von soviel sorgender, selbstloser Liebe nicht die dünne Eiskruste ihres Herzens zum Schmelzen gebracht worden wäre. Diesesmal setzte sich die junge Frau, nachdem sie ihr Mahl gehalten, uicht wie sonst sogleich wieder an den Stickrahmen, sondern blieb, das Haupt in die Hand gestützt, am Tische sitzen. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal alles, was sie seit ihrer Flucht aus Aigremont erlebt hatte, sie rief alle Gespräche, all die peinlichen Auftritte in ihr Gedächtnis zurück, die dem Brüche mit ihrem Vater vorangegangen waren, und durchlebte in der Zeitspanne von kaum eiuer einzigen Stunde zum zweitenmal die lange Kette der bitter-seligen Monate ihrer Braut¬ zeit. Und das Ergebnis ihres Nachdenkens war die Erkenntnis, daß sie selbst es sei, die die Schuld an dem Zerwürfnis trage. Hätte sie mit ihrem Vater mehr Geduld und Nachsicht gehabt, hätte sie es verstanden, mit etwas mehr weiblichem Feingefühl auf seiue Eigentümlichkeiten einzugehn und nach und nach die Gegen¬ sätze in den Anschauungen der beiden Männer auszugleichen, so wäre jene ge¬ waltsam herbeigeführte Entfremdung wahrscheinlich vermieden worden. Sie hatte den Vater ans eine lieblose und unkindliche Weise verlassen, an ihr war es also jetzt auch, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Sie bat die Nachbarin, das Kind zu hüten, warf ein Tuch um die Schultern und begab sich zum „Englischen Gruß." Die Wittib Haßlacher öffnete ihr die Tür. In Wesen und Gesichtsausdruck der Alten lag etwas Kaltes, Zurückhaltendes, ja beinahe Abstoßendes, das Marguerite nichts Gutes ahnen ließ. Ist mein Vater zuhause? fragte die junge Frau. Die Wittib lachte laut auf. Ihr Vater? Wie soll ich wissen, ob Ihr Vater zuhause ist? sagte sie, wie käme ich — eine anständige Frau — dazu, Ihren Vater zu keimen? Mein Gott, Madame, entsinnen Sie sich meiner nicht mehr? Wissen Sie nicht, daß ich die Tochter des Marquis von Marigny bin? Meine Gute, das glauben Sie doch selbst nicht. Und wenn Sie wirklich so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/181>, abgerufen am 13.06.2024.