Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Straßlmrger Bilder

Äußerlichkeiten des deutschen Nordens gewöhnten fremdartig und unsympathisch ist.
Man braucht nur zu scheu, wie sich die Einheimischen auf der Straße grüßen; kaum
daß sie an den Hut greifen, der nicht heruntergezogen, sondern bestenfalls ein wenig
gelüftet wird. "Salut!" oder "Bonjour!" doues herüber und hinüber; Null man
miteinander reden, so schüttelt man sich die Hände und beginnt das Gespräch. Beim
Auseinandcrgehn "nieder ein Händedruck, noch ein "Salut!" und man trennt sich, ohne
die Kopfbedeckung in Bewegung zu setzen. Verfährt ein Elsässer einen: Nord¬
deutschen gegenüber in derselben Weise, so fühlt sich dieser, wenn er die Landessitten
nicht kennt, höchst verletzt, da er es aus seiner Heimat gewöhnt ist, bei Begrüßungen
mit dem Hut viel mehr in der Luft herumzufuchteln, und in der Art des Elsässcrs
eine Nichtachtung oder plumpe Vertraulichkeit zu sehen vermeint, die diesem durchaus
fernliegt. Überhaupt sitzt dem Elsässer der Hut viel fester auf dem Kopf als dem
Altdeutschen. Diesen erkennt man sofort beim Betreten eines Restaurants daran,
daß er beim Eintritt oder wenig Schritte später den Hut abnimmt; der Elsässer
begrüßt die Anwesenden, indem er beim Eintritt den Hut lüftet oder "lüpft," wie
man hier sagt, behält ihn dann aber ans und trinkt sein "Schöppel Win" oder
sein Bier bedeckten Hauptes. Auch ins Theater, sogar in die Logen und ins Parkett,
nimmt er Hut und Spazierstock mit.

Das Theater ist überhaupt charakteristisch für deu ganzen Zustand. Wen Pflicht
oder Vergnügen häufig dorthin führen, der kann sehr interessante Studien machen.
Es wird schon außerhalb des Reichslandes kaum ein größeres Theater geben, wo
in drei verschiednen Sprachen regelmäßig Aufführungen stattfinden, wie es hier
der Fall ist, wo jeden Winter monatlich etwa einmal eine französische Truppe gastiert,
und zwei bis dreimal im Monat das Elsassische Theater eine Aufführung veranstaltet.
Im vergangnen Winter ging es besonders hoch her, da unter den Gästen Sarah
Bernhardt und Coquelin mit ihren Truppen waren. Die "göttliche" Sarah mischte
ja allerdings die Zuhörerschaft etwas, da sich zu ihren drei Gastspielen, namentlich
zur Kameliendame und zu Fron-Fron, viel weniger zu Phädra, alles drängte, was
durch die hohen Preise angelockt wurde; im übrigen aber ist das Publikum der
französischen Vorstellungen ein ganz andres als das der elscissischen oder der deutschen
Abende. Wenn man nolonK volon" wöchentlich mehrmals ins Theater geht, so weiß
man überall bald, welchen Gesichtern man an Opern- oder Schanspielabeudcu, bei
leichter oder schwerer Kost begegnen wird; hier weiß man noch ganz genau, wen
mau in französischen Vorstellungen oder in deutschen Schauspielen nicht zu sehen
bekommen wird. Auch die ganze Haltung des Publikums ist verschiede". An den
französischen Abenden sieht man recht elegante Toiletten, viel blitzendes Geschmeide
und fast keine einzige Uniform. Unter den Fromm schone stattliche Figuren, vielfach
mit etwas Neigung zu üppiger Fülle der Formen, wunderhübsche interessante
Profile mit schöngeschnittnen Rufen von eleganter, edler Krümmung. Unter den
Männern viel Dekadenz, wenige dnrchgcistigte Charakterköpfe, Geschäftsgcsichter,
reichliche Körperfülle. Und wie schon bemerkt, sehr viele mit Hut und Stock auch
im Zuschauerraum. Auffallend groß ist um solchen Abenden der Prozentsatz jüdischer
Abstammung und die Menge der Unerwachsnen, die wohl mitgenommen werden,
daß sie einmal gutes Französisch hören. Es geht sehr lebhaft zu, man begrüßt sich
mit allen Bekannten -- und die Bekanntschaft ist sehr groß --, die auf denselben
Plätzen, und allenfalls auch solchen, die auf teureren Plätzen sitzen, und diese Be¬
grüßung geht häufig recht geräuschvoll von statten -- selbstverständlich nur französisch;
im Saal und in den Wandelgängen, im Foyer und in der Restauration erklingt
kaum ein einziges schriftdentsches Wort, hier und da etwas Elsässerdictsch, ober meist
nur Französisch. Dazu ist mau ja da. Das ist ja "der Zweck der Übung." Man
will zeigen, daß man anhänglich ist, daß man die Sprache und die Geistesschätze
der großen Nation, der man -- sei es nun selbst oder in seinen Vätern -- an¬
gehört hat, nicht vergessen hat und nicht vergessen will. Keine Spur von Protestlertum.
Nicht der leiseste Schatten von Geheimbündelei. Man freut sich eben, mit einem


Grenzboten IV 1903 23
Straßlmrger Bilder

Äußerlichkeiten des deutschen Nordens gewöhnten fremdartig und unsympathisch ist.
Man braucht nur zu scheu, wie sich die Einheimischen auf der Straße grüßen; kaum
daß sie an den Hut greifen, der nicht heruntergezogen, sondern bestenfalls ein wenig
gelüftet wird. „Salut!" oder „Bonjour!" doues herüber und hinüber; Null man
miteinander reden, so schüttelt man sich die Hände und beginnt das Gespräch. Beim
Auseinandcrgehn »nieder ein Händedruck, noch ein „Salut!" und man trennt sich, ohne
die Kopfbedeckung in Bewegung zu setzen. Verfährt ein Elsässer einen: Nord¬
deutschen gegenüber in derselben Weise, so fühlt sich dieser, wenn er die Landessitten
nicht kennt, höchst verletzt, da er es aus seiner Heimat gewöhnt ist, bei Begrüßungen
mit dem Hut viel mehr in der Luft herumzufuchteln, und in der Art des Elsässcrs
eine Nichtachtung oder plumpe Vertraulichkeit zu sehen vermeint, die diesem durchaus
fernliegt. Überhaupt sitzt dem Elsässer der Hut viel fester auf dem Kopf als dem
Altdeutschen. Diesen erkennt man sofort beim Betreten eines Restaurants daran,
daß er beim Eintritt oder wenig Schritte später den Hut abnimmt; der Elsässer
begrüßt die Anwesenden, indem er beim Eintritt den Hut lüftet oder „lüpft," wie
man hier sagt, behält ihn dann aber ans und trinkt sein „Schöppel Win" oder
sein Bier bedeckten Hauptes. Auch ins Theater, sogar in die Logen und ins Parkett,
nimmt er Hut und Spazierstock mit.

Das Theater ist überhaupt charakteristisch für deu ganzen Zustand. Wen Pflicht
oder Vergnügen häufig dorthin führen, der kann sehr interessante Studien machen.
Es wird schon außerhalb des Reichslandes kaum ein größeres Theater geben, wo
in drei verschiednen Sprachen regelmäßig Aufführungen stattfinden, wie es hier
der Fall ist, wo jeden Winter monatlich etwa einmal eine französische Truppe gastiert,
und zwei bis dreimal im Monat das Elsassische Theater eine Aufführung veranstaltet.
Im vergangnen Winter ging es besonders hoch her, da unter den Gästen Sarah
Bernhardt und Coquelin mit ihren Truppen waren. Die „göttliche" Sarah mischte
ja allerdings die Zuhörerschaft etwas, da sich zu ihren drei Gastspielen, namentlich
zur Kameliendame und zu Fron-Fron, viel weniger zu Phädra, alles drängte, was
durch die hohen Preise angelockt wurde; im übrigen aber ist das Publikum der
französischen Vorstellungen ein ganz andres als das der elscissischen oder der deutschen
Abende. Wenn man nolonK volon» wöchentlich mehrmals ins Theater geht, so weiß
man überall bald, welchen Gesichtern man an Opern- oder Schanspielabeudcu, bei
leichter oder schwerer Kost begegnen wird; hier weiß man noch ganz genau, wen
mau in französischen Vorstellungen oder in deutschen Schauspielen nicht zu sehen
bekommen wird. Auch die ganze Haltung des Publikums ist verschiede». An den
französischen Abenden sieht man recht elegante Toiletten, viel blitzendes Geschmeide
und fast keine einzige Uniform. Unter den Fromm schone stattliche Figuren, vielfach
mit etwas Neigung zu üppiger Fülle der Formen, wunderhübsche interessante
Profile mit schöngeschnittnen Rufen von eleganter, edler Krümmung. Unter den
Männern viel Dekadenz, wenige dnrchgcistigte Charakterköpfe, Geschäftsgcsichter,
reichliche Körperfülle. Und wie schon bemerkt, sehr viele mit Hut und Stock auch
im Zuschauerraum. Auffallend groß ist um solchen Abenden der Prozentsatz jüdischer
Abstammung und die Menge der Unerwachsnen, die wohl mitgenommen werden,
daß sie einmal gutes Französisch hören. Es geht sehr lebhaft zu, man begrüßt sich
mit allen Bekannten — und die Bekanntschaft ist sehr groß —, die auf denselben
Plätzen, und allenfalls auch solchen, die auf teureren Plätzen sitzen, und diese Be¬
grüßung geht häufig recht geräuschvoll von statten — selbstverständlich nur französisch;
im Saal und in den Wandelgängen, im Foyer und in der Restauration erklingt
kaum ein einziges schriftdentsches Wort, hier und da etwas Elsässerdictsch, ober meist
nur Französisch. Dazu ist mau ja da. Das ist ja „der Zweck der Übung." Man
will zeigen, daß man anhänglich ist, daß man die Sprache und die Geistesschätze
der großen Nation, der man — sei es nun selbst oder in seinen Vätern — an¬
gehört hat, nicht vergessen hat und nicht vergessen will. Keine Spur von Protestlertum.
Nicht der leiseste Schatten von Geheimbündelei. Man freut sich eben, mit einem


Grenzboten IV 1903 23
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242253"/>
          <fw type="header" place="top"> Straßlmrger Bilder</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_568" prev="#ID_567"> Äußerlichkeiten des deutschen Nordens gewöhnten fremdartig und unsympathisch ist.<lb/>
Man braucht nur zu scheu, wie sich die Einheimischen auf der Straße grüßen; kaum<lb/>
daß sie an den Hut greifen, der nicht heruntergezogen, sondern bestenfalls ein wenig<lb/>
gelüftet wird. &#x201E;Salut!" oder &#x201E;Bonjour!" doues herüber und hinüber; Null man<lb/>
miteinander reden, so schüttelt man sich die Hände und beginnt das Gespräch. Beim<lb/>
Auseinandcrgehn »nieder ein Händedruck, noch ein &#x201E;Salut!" und man trennt sich, ohne<lb/>
die Kopfbedeckung in Bewegung zu setzen. Verfährt ein Elsässer einen: Nord¬<lb/>
deutschen gegenüber in derselben Weise, so fühlt sich dieser, wenn er die Landessitten<lb/>
nicht kennt, höchst verletzt, da er es aus seiner Heimat gewöhnt ist, bei Begrüßungen<lb/>
mit dem Hut viel mehr in der Luft herumzufuchteln, und in der Art des Elsässcrs<lb/>
eine Nichtachtung oder plumpe Vertraulichkeit zu sehen vermeint, die diesem durchaus<lb/>
fernliegt. Überhaupt sitzt dem Elsässer der Hut viel fester auf dem Kopf als dem<lb/>
Altdeutschen. Diesen erkennt man sofort beim Betreten eines Restaurants daran,<lb/>
daß er beim Eintritt oder wenig Schritte später den Hut abnimmt; der Elsässer<lb/>
begrüßt die Anwesenden, indem er beim Eintritt den Hut lüftet oder &#x201E;lüpft," wie<lb/>
man hier sagt, behält ihn dann aber ans und trinkt sein &#x201E;Schöppel Win" oder<lb/>
sein Bier bedeckten Hauptes. Auch ins Theater, sogar in die Logen und ins Parkett,<lb/>
nimmt er Hut und Spazierstock mit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_569" next="#ID_570"> Das Theater ist überhaupt charakteristisch für deu ganzen Zustand. Wen Pflicht<lb/>
oder Vergnügen häufig dorthin führen, der kann sehr interessante Studien machen.<lb/>
Es wird schon außerhalb des Reichslandes kaum ein größeres Theater geben, wo<lb/>
in drei verschiednen Sprachen regelmäßig Aufführungen stattfinden, wie es hier<lb/>
der Fall ist, wo jeden Winter monatlich etwa einmal eine französische Truppe gastiert,<lb/>
und zwei bis dreimal im Monat das Elsassische Theater eine Aufführung veranstaltet.<lb/>
Im vergangnen Winter ging es besonders hoch her, da unter den Gästen Sarah<lb/>
Bernhardt und Coquelin mit ihren Truppen waren. Die &#x201E;göttliche" Sarah mischte<lb/>
ja allerdings die Zuhörerschaft etwas, da sich zu ihren drei Gastspielen, namentlich<lb/>
zur Kameliendame und zu Fron-Fron, viel weniger zu Phädra, alles drängte, was<lb/>
durch die hohen Preise angelockt wurde; im übrigen aber ist das Publikum der<lb/>
französischen Vorstellungen ein ganz andres als das der elscissischen oder der deutschen<lb/>
Abende. Wenn man nolonK volon» wöchentlich mehrmals ins Theater geht, so weiß<lb/>
man überall bald, welchen Gesichtern man an Opern- oder Schanspielabeudcu, bei<lb/>
leichter oder schwerer Kost begegnen wird; hier weiß man noch ganz genau, wen<lb/>
mau in französischen Vorstellungen oder in deutschen Schauspielen nicht zu sehen<lb/>
bekommen wird. Auch die ganze Haltung des Publikums ist verschiede». An den<lb/>
französischen Abenden sieht man recht elegante Toiletten, viel blitzendes Geschmeide<lb/>
und fast keine einzige Uniform. Unter den Fromm schone stattliche Figuren, vielfach<lb/>
mit etwas Neigung zu üppiger Fülle der Formen, wunderhübsche interessante<lb/>
Profile mit schöngeschnittnen Rufen von eleganter, edler Krümmung. Unter den<lb/>
Männern viel Dekadenz, wenige dnrchgcistigte Charakterköpfe, Geschäftsgcsichter,<lb/>
reichliche Körperfülle. Und wie schon bemerkt, sehr viele mit Hut und Stock auch<lb/>
im Zuschauerraum. Auffallend groß ist um solchen Abenden der Prozentsatz jüdischer<lb/>
Abstammung und die Menge der Unerwachsnen, die wohl mitgenommen werden,<lb/>
daß sie einmal gutes Französisch hören. Es geht sehr lebhaft zu, man begrüßt sich<lb/>
mit allen Bekannten &#x2014; und die Bekanntschaft ist sehr groß &#x2014;, die auf denselben<lb/>
Plätzen, und allenfalls auch solchen, die auf teureren Plätzen sitzen, und diese Be¬<lb/>
grüßung geht häufig recht geräuschvoll von statten &#x2014; selbstverständlich nur französisch;<lb/>
im Saal und in den Wandelgängen, im Foyer und in der Restauration erklingt<lb/>
kaum ein einziges schriftdentsches Wort, hier und da etwas Elsässerdictsch, ober meist<lb/>
nur Französisch. Dazu ist mau ja da. Das ist ja &#x201E;der Zweck der Übung." Man<lb/>
will zeigen, daß man anhänglich ist, daß man die Sprache und die Geistesschätze<lb/>
der großen Nation, der man &#x2014; sei es nun selbst oder in seinen Vätern &#x2014; an¬<lb/>
gehört hat, nicht vergessen hat und nicht vergessen will. Keine Spur von Protestlertum.<lb/>
Nicht der leiseste Schatten von Geheimbündelei. Man freut sich eben, mit einem</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1903 23</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0185] Straßlmrger Bilder Äußerlichkeiten des deutschen Nordens gewöhnten fremdartig und unsympathisch ist. Man braucht nur zu scheu, wie sich die Einheimischen auf der Straße grüßen; kaum daß sie an den Hut greifen, der nicht heruntergezogen, sondern bestenfalls ein wenig gelüftet wird. „Salut!" oder „Bonjour!" doues herüber und hinüber; Null man miteinander reden, so schüttelt man sich die Hände und beginnt das Gespräch. Beim Auseinandcrgehn »nieder ein Händedruck, noch ein „Salut!" und man trennt sich, ohne die Kopfbedeckung in Bewegung zu setzen. Verfährt ein Elsässer einen: Nord¬ deutschen gegenüber in derselben Weise, so fühlt sich dieser, wenn er die Landessitten nicht kennt, höchst verletzt, da er es aus seiner Heimat gewöhnt ist, bei Begrüßungen mit dem Hut viel mehr in der Luft herumzufuchteln, und in der Art des Elsässcrs eine Nichtachtung oder plumpe Vertraulichkeit zu sehen vermeint, die diesem durchaus fernliegt. Überhaupt sitzt dem Elsässer der Hut viel fester auf dem Kopf als dem Altdeutschen. Diesen erkennt man sofort beim Betreten eines Restaurants daran, daß er beim Eintritt oder wenig Schritte später den Hut abnimmt; der Elsässer begrüßt die Anwesenden, indem er beim Eintritt den Hut lüftet oder „lüpft," wie man hier sagt, behält ihn dann aber ans und trinkt sein „Schöppel Win" oder sein Bier bedeckten Hauptes. Auch ins Theater, sogar in die Logen und ins Parkett, nimmt er Hut und Spazierstock mit. Das Theater ist überhaupt charakteristisch für deu ganzen Zustand. Wen Pflicht oder Vergnügen häufig dorthin führen, der kann sehr interessante Studien machen. Es wird schon außerhalb des Reichslandes kaum ein größeres Theater geben, wo in drei verschiednen Sprachen regelmäßig Aufführungen stattfinden, wie es hier der Fall ist, wo jeden Winter monatlich etwa einmal eine französische Truppe gastiert, und zwei bis dreimal im Monat das Elsassische Theater eine Aufführung veranstaltet. Im vergangnen Winter ging es besonders hoch her, da unter den Gästen Sarah Bernhardt und Coquelin mit ihren Truppen waren. Die „göttliche" Sarah mischte ja allerdings die Zuhörerschaft etwas, da sich zu ihren drei Gastspielen, namentlich zur Kameliendame und zu Fron-Fron, viel weniger zu Phädra, alles drängte, was durch die hohen Preise angelockt wurde; im übrigen aber ist das Publikum der französischen Vorstellungen ein ganz andres als das der elscissischen oder der deutschen Abende. Wenn man nolonK volon» wöchentlich mehrmals ins Theater geht, so weiß man überall bald, welchen Gesichtern man an Opern- oder Schanspielabeudcu, bei leichter oder schwerer Kost begegnen wird; hier weiß man noch ganz genau, wen mau in französischen Vorstellungen oder in deutschen Schauspielen nicht zu sehen bekommen wird. Auch die ganze Haltung des Publikums ist verschiede». An den französischen Abenden sieht man recht elegante Toiletten, viel blitzendes Geschmeide und fast keine einzige Uniform. Unter den Fromm schone stattliche Figuren, vielfach mit etwas Neigung zu üppiger Fülle der Formen, wunderhübsche interessante Profile mit schöngeschnittnen Rufen von eleganter, edler Krümmung. Unter den Männern viel Dekadenz, wenige dnrchgcistigte Charakterköpfe, Geschäftsgcsichter, reichliche Körperfülle. Und wie schon bemerkt, sehr viele mit Hut und Stock auch im Zuschauerraum. Auffallend groß ist um solchen Abenden der Prozentsatz jüdischer Abstammung und die Menge der Unerwachsnen, die wohl mitgenommen werden, daß sie einmal gutes Französisch hören. Es geht sehr lebhaft zu, man begrüßt sich mit allen Bekannten — und die Bekanntschaft ist sehr groß —, die auf denselben Plätzen, und allenfalls auch solchen, die auf teureren Plätzen sitzen, und diese Be¬ grüßung geht häufig recht geräuschvoll von statten — selbstverständlich nur französisch; im Saal und in den Wandelgängen, im Foyer und in der Restauration erklingt kaum ein einziges schriftdentsches Wort, hier und da etwas Elsässerdictsch, ober meist nur Französisch. Dazu ist mau ja da. Das ist ja „der Zweck der Übung." Man will zeigen, daß man anhänglich ist, daß man die Sprache und die Geistesschätze der großen Nation, der man — sei es nun selbst oder in seinen Vätern — an¬ gehört hat, nicht vergessen hat und nicht vergessen will. Keine Spur von Protestlertum. Nicht der leiseste Schatten von Geheimbündelei. Man freut sich eben, mit einem Grenzboten IV 1903 23

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/185
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/185>, abgerufen am 17.06.2024.