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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

wcir, daß ich dem Ruf, der aus deu Zeiten meiner Kindheit an mein Herz drang,
Wenn auch mit einigen Zweifeln, ob ich recht täte, mich in meiner Lage mit Höf¬
lichkeiten abzugeben, Folge leistete. Martha wohnte bei einem Bahnbeamten weit
draußen in der Vorstadt. Da ich mich erst nach Feierabend zu ihr auf den Weg
machen konnte, so war es schon spät, als ich endlich vor dem Häuschen stand,
worin ich sie zu suchen hatte. Da es aber ein schöner Junitag gewesen war, so
schimmerte noch ein prächtiges Abendrot über der Gegend. Wie ich die Gattertür
zu dem Vorgarten öffnete, hörte ich muntere Stimmen in einer Laube und da¬
zwischen Saitenspiel. Verlegen blieb ich stehn, ich war gar nicht in der Stimmung,
unter heitere Menschen zu treten, und unschlüssig, ob ich mich nicht lieber jetzt noch
davon schleichen solle, wollte ich schon die Tür wieder zuziehn, als sich aus dem
Blätterwerk die Gestalt eines schlanken Mädchens herauslöste, das mich einen Augen¬
blick forschend betrachtete, worauf ein sanftes Erröten über ihre freundlichen Züge
lief, aus dem schließlich ein liebliches Lächeln wurde. Mein Vetter Heinrich, sagte
sie und reichte mir die Hand. Hierauf zog sie mich vertraulich, als wenn sie mir
niemals fremd geworden wäre, in den Garten und in die Laube hinein.

Dort fand ich eine kleine Gesellschaft vor. Der Hausherr im Schlafrock
rauchte seine Pfeife. Neben ihm war ein junger Manu eifrig bemüht, eine alte
Zither klar zu stimmen, und endlich saß noch ein Trupp blondhaariger Kinder um
die Mutter geschart und erwartete mit Spannung den Augenblick, wo das Spiel
beginnen konnte. Man hatte sich offenbar auf einen vergnüglichen Abend ein¬
gerichtet, den man in der Sommerlanbe und unter einem funkelnden Sternen¬
himmel, der sich wolkenlos über der blnmenduftenden Erde ausspannte, unter sich
genießen wollte, und betrachtete deshalb das Eindringen eines wildfremden Menschen
nicht eben als einen Gewinn. Die Zither wurde betrübt zur Seite gestellt, und
die Kinder machten ein Mnulcheu. Darauf begann eine gezwungne Unterhaltung,
an der ich mich nur mit Mühe beteiligen konnte, da meine Augen immer wieder
das feine, zierliche Wesen suchten, das vorgab, mein ehemaliges Pflegeschwesterchen
zu sein. Sie bemerkte, welchen Eindruck sie auf mich machte, und sagte: Ja, wir
haben uns lange nicht gesehen! Lange nicht, wiederholte ich und dachte, was für
ein Unglücksmensch ich doch wäre, daß ich mein Leben lang immer hinter gleißenden
Irrlichtern hergelaufen war, während ich im Schein des schönsten und liebreichsten
Sternes hätte wandeln können. Die Hausfrau stand, nachdem ein unbehagliches
halbes Stündchen verflossen war, endlich auf und brachte ihre Kleinen zu Bett.
Nun erinnerte sich auch ihr Mann daran, daß er noch eine Verabredung mit Be¬
kannten habe, und veranlaßte auch seinen Kollegen, der recht sichtbar in eine ver¬
drießliche Laune geraten war, sich ihm anzuschließen. So fanden wir uns mit
einemmal allein und hätten nun vertraulich zusammen reden können, aber die Be¬
fangenheit, in der ich meiner Verwandten von Anfang an entgegengetreten war,
wurde nur noch stärker. Daß ich mich in allen den vergangnen Jahren nicht um
sie bekümmert hatte, erschien mir jetzt, wo ich sie als ein anmutiges und begehrens¬
wertes Fräulein, dem es an tröstlichen Umgang auch keineswegs mangelte, vor
mir sah, als ein unentschuldbares Versäumnis, und fast hätte ich nun gewünscht,
sie in einer mißlichen Lage wieder gefunden zu haben, da sich dann wohl eine
Gelegenheit gefunden hätte, ihr nieine Reue und meine mit aller Gewalt hervor¬
brechende Zuneigung auf eine glaubhafte Weise zu zeigen. Martha sah meine
Unruhe, ließ sich jedoch nicht von ihr anstecken, sondern da sie sich immer treu ge¬
blieben war, so konnte sie sich nun auch geben, wie sie immer gefühlt hatte, und
brauchte keine Luftsprünge zu machen. Die ruhige Freundlichkeit, mit der sie meinen
Versuchen, in das frühere trauliche Kiuderverhältnis wieder hineinzukommen, be¬
gegnete, wirkte nun zwar auf mich wie eine neue Bezauberung, hatte aber zugleich
die Eigenschaft eines abkühlenden Regens und brachte mich nach und uach wieder
zur Besinnung. Wie sie mir mit dem vollen Frieden einer niemals gestörten
Freundschaft entgegentrat und mir, als ich zaghaft ihre Hand ergriff, die meinige


Zwei Seelen

wcir, daß ich dem Ruf, der aus deu Zeiten meiner Kindheit an mein Herz drang,
Wenn auch mit einigen Zweifeln, ob ich recht täte, mich in meiner Lage mit Höf¬
lichkeiten abzugeben, Folge leistete. Martha wohnte bei einem Bahnbeamten weit
draußen in der Vorstadt. Da ich mich erst nach Feierabend zu ihr auf den Weg
machen konnte, so war es schon spät, als ich endlich vor dem Häuschen stand,
worin ich sie zu suchen hatte. Da es aber ein schöner Junitag gewesen war, so
schimmerte noch ein prächtiges Abendrot über der Gegend. Wie ich die Gattertür
zu dem Vorgarten öffnete, hörte ich muntere Stimmen in einer Laube und da¬
zwischen Saitenspiel. Verlegen blieb ich stehn, ich war gar nicht in der Stimmung,
unter heitere Menschen zu treten, und unschlüssig, ob ich mich nicht lieber jetzt noch
davon schleichen solle, wollte ich schon die Tür wieder zuziehn, als sich aus dem
Blätterwerk die Gestalt eines schlanken Mädchens herauslöste, das mich einen Augen¬
blick forschend betrachtete, worauf ein sanftes Erröten über ihre freundlichen Züge
lief, aus dem schließlich ein liebliches Lächeln wurde. Mein Vetter Heinrich, sagte
sie und reichte mir die Hand. Hierauf zog sie mich vertraulich, als wenn sie mir
niemals fremd geworden wäre, in den Garten und in die Laube hinein.

Dort fand ich eine kleine Gesellschaft vor. Der Hausherr im Schlafrock
rauchte seine Pfeife. Neben ihm war ein junger Manu eifrig bemüht, eine alte
Zither klar zu stimmen, und endlich saß noch ein Trupp blondhaariger Kinder um
die Mutter geschart und erwartete mit Spannung den Augenblick, wo das Spiel
beginnen konnte. Man hatte sich offenbar auf einen vergnüglichen Abend ein¬
gerichtet, den man in der Sommerlanbe und unter einem funkelnden Sternen¬
himmel, der sich wolkenlos über der blnmenduftenden Erde ausspannte, unter sich
genießen wollte, und betrachtete deshalb das Eindringen eines wildfremden Menschen
nicht eben als einen Gewinn. Die Zither wurde betrübt zur Seite gestellt, und
die Kinder machten ein Mnulcheu. Darauf begann eine gezwungne Unterhaltung,
an der ich mich nur mit Mühe beteiligen konnte, da meine Augen immer wieder
das feine, zierliche Wesen suchten, das vorgab, mein ehemaliges Pflegeschwesterchen
zu sein. Sie bemerkte, welchen Eindruck sie auf mich machte, und sagte: Ja, wir
haben uns lange nicht gesehen! Lange nicht, wiederholte ich und dachte, was für
ein Unglücksmensch ich doch wäre, daß ich mein Leben lang immer hinter gleißenden
Irrlichtern hergelaufen war, während ich im Schein des schönsten und liebreichsten
Sternes hätte wandeln können. Die Hausfrau stand, nachdem ein unbehagliches
halbes Stündchen verflossen war, endlich auf und brachte ihre Kleinen zu Bett.
Nun erinnerte sich auch ihr Mann daran, daß er noch eine Verabredung mit Be¬
kannten habe, und veranlaßte auch seinen Kollegen, der recht sichtbar in eine ver¬
drießliche Laune geraten war, sich ihm anzuschließen. So fanden wir uns mit
einemmal allein und hätten nun vertraulich zusammen reden können, aber die Be¬
fangenheit, in der ich meiner Verwandten von Anfang an entgegengetreten war,
wurde nur noch stärker. Daß ich mich in allen den vergangnen Jahren nicht um
sie bekümmert hatte, erschien mir jetzt, wo ich sie als ein anmutiges und begehrens¬
wertes Fräulein, dem es an tröstlichen Umgang auch keineswegs mangelte, vor
mir sah, als ein unentschuldbares Versäumnis, und fast hätte ich nun gewünscht,
sie in einer mißlichen Lage wieder gefunden zu haben, da sich dann wohl eine
Gelegenheit gefunden hätte, ihr nieine Reue und meine mit aller Gewalt hervor¬
brechende Zuneigung auf eine glaubhafte Weise zu zeigen. Martha sah meine
Unruhe, ließ sich jedoch nicht von ihr anstecken, sondern da sie sich immer treu ge¬
blieben war, so konnte sie sich nun auch geben, wie sie immer gefühlt hatte, und
brauchte keine Luftsprünge zu machen. Die ruhige Freundlichkeit, mit der sie meinen
Versuchen, in das frühere trauliche Kiuderverhältnis wieder hineinzukommen, be¬
gegnete, wirkte nun zwar auf mich wie eine neue Bezauberung, hatte aber zugleich
die Eigenschaft eines abkühlenden Regens und brachte mich nach und uach wieder
zur Besinnung. Wie sie mir mit dem vollen Frieden einer niemals gestörten
Freundschaft entgegentrat und mir, als ich zaghaft ihre Hand ergriff, die meinige


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[0528] Zwei Seelen wcir, daß ich dem Ruf, der aus deu Zeiten meiner Kindheit an mein Herz drang, Wenn auch mit einigen Zweifeln, ob ich recht täte, mich in meiner Lage mit Höf¬ lichkeiten abzugeben, Folge leistete. Martha wohnte bei einem Bahnbeamten weit draußen in der Vorstadt. Da ich mich erst nach Feierabend zu ihr auf den Weg machen konnte, so war es schon spät, als ich endlich vor dem Häuschen stand, worin ich sie zu suchen hatte. Da es aber ein schöner Junitag gewesen war, so schimmerte noch ein prächtiges Abendrot über der Gegend. Wie ich die Gattertür zu dem Vorgarten öffnete, hörte ich muntere Stimmen in einer Laube und da¬ zwischen Saitenspiel. Verlegen blieb ich stehn, ich war gar nicht in der Stimmung, unter heitere Menschen zu treten, und unschlüssig, ob ich mich nicht lieber jetzt noch davon schleichen solle, wollte ich schon die Tür wieder zuziehn, als sich aus dem Blätterwerk die Gestalt eines schlanken Mädchens herauslöste, das mich einen Augen¬ blick forschend betrachtete, worauf ein sanftes Erröten über ihre freundlichen Züge lief, aus dem schließlich ein liebliches Lächeln wurde. Mein Vetter Heinrich, sagte sie und reichte mir die Hand. Hierauf zog sie mich vertraulich, als wenn sie mir niemals fremd geworden wäre, in den Garten und in die Laube hinein. Dort fand ich eine kleine Gesellschaft vor. Der Hausherr im Schlafrock rauchte seine Pfeife. Neben ihm war ein junger Manu eifrig bemüht, eine alte Zither klar zu stimmen, und endlich saß noch ein Trupp blondhaariger Kinder um die Mutter geschart und erwartete mit Spannung den Augenblick, wo das Spiel beginnen konnte. Man hatte sich offenbar auf einen vergnüglichen Abend ein¬ gerichtet, den man in der Sommerlanbe und unter einem funkelnden Sternen¬ himmel, der sich wolkenlos über der blnmenduftenden Erde ausspannte, unter sich genießen wollte, und betrachtete deshalb das Eindringen eines wildfremden Menschen nicht eben als einen Gewinn. Die Zither wurde betrübt zur Seite gestellt, und die Kinder machten ein Mnulcheu. Darauf begann eine gezwungne Unterhaltung, an der ich mich nur mit Mühe beteiligen konnte, da meine Augen immer wieder das feine, zierliche Wesen suchten, das vorgab, mein ehemaliges Pflegeschwesterchen zu sein. Sie bemerkte, welchen Eindruck sie auf mich machte, und sagte: Ja, wir haben uns lange nicht gesehen! Lange nicht, wiederholte ich und dachte, was für ein Unglücksmensch ich doch wäre, daß ich mein Leben lang immer hinter gleißenden Irrlichtern hergelaufen war, während ich im Schein des schönsten und liebreichsten Sternes hätte wandeln können. Die Hausfrau stand, nachdem ein unbehagliches halbes Stündchen verflossen war, endlich auf und brachte ihre Kleinen zu Bett. Nun erinnerte sich auch ihr Mann daran, daß er noch eine Verabredung mit Be¬ kannten habe, und veranlaßte auch seinen Kollegen, der recht sichtbar in eine ver¬ drießliche Laune geraten war, sich ihm anzuschließen. So fanden wir uns mit einemmal allein und hätten nun vertraulich zusammen reden können, aber die Be¬ fangenheit, in der ich meiner Verwandten von Anfang an entgegengetreten war, wurde nur noch stärker. Daß ich mich in allen den vergangnen Jahren nicht um sie bekümmert hatte, erschien mir jetzt, wo ich sie als ein anmutiges und begehrens¬ wertes Fräulein, dem es an tröstlichen Umgang auch keineswegs mangelte, vor mir sah, als ein unentschuldbares Versäumnis, und fast hätte ich nun gewünscht, sie in einer mißlichen Lage wieder gefunden zu haben, da sich dann wohl eine Gelegenheit gefunden hätte, ihr nieine Reue und meine mit aller Gewalt hervor¬ brechende Zuneigung auf eine glaubhafte Weise zu zeigen. Martha sah meine Unruhe, ließ sich jedoch nicht von ihr anstecken, sondern da sie sich immer treu ge¬ blieben war, so konnte sie sich nun auch geben, wie sie immer gefühlt hatte, und brauchte keine Luftsprünge zu machen. Die ruhige Freundlichkeit, mit der sie meinen Versuchen, in das frühere trauliche Kiuderverhältnis wieder hineinzukommen, be¬ gegnete, wirkte nun zwar auf mich wie eine neue Bezauberung, hatte aber zugleich die Eigenschaft eines abkühlenden Regens und brachte mich nach und uach wieder zur Besinnung. Wie sie mir mit dem vollen Frieden einer niemals gestörten Freundschaft entgegentrat und mir, als ich zaghaft ihre Hand ergriff, die meinige

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/528>, abgerufen am 25.05.2024.