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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Hohe Berge und tiefe Täter bedeuten ihm nicht einmal im Sommer landschaftliche
Schönheit, geschweige denn im Winter; der bewußte Eindruck größerer landschaftlicher
Schönheit fehlte damals in Deutschland überhaupt noch. Berge und Täter waren
nur Verkehrsunebenheiten, ärgerlich wie Stock und Stein und verdrießlich wie die
trostlosen dürren Schneestangen, die die Bauern in den tiefen Schnee gesteckt haben
zur Wegmarkierung. Was er in einem solchen Winter von lebenden Wesen nußer
seiner Frau, die in diesen Wintergedichten eine etwas komische Rolle spielt, und
seinen kleinen Schreihälsen zu sehen bekommt, das sind

Man stelle sich mit dem Dichter den Gegensatz höfischer blasser Frauen von
damals -- lilienweiße Haut galt noch immer als erste Bedingung höchster Schön¬
heit -- und der dunkel gebrcuinten, schwarzhaarigen Kcistelruter Bauern vor! Und
welche Ehren waren ihm früher von Fürsten und Königinnen angetan worden!
"Daß büeß ich alles unter einem Dach." Dazu das Tosen des nahen Bergbachs:

und Wölfe genug in der Nähe, und vier Monate lang kein Sonnenstrahl über
Hauenstein, das unten an der Nordwand des kolossalen Schlern hängt. Der
Winter ist wie ein belagernder lärmender Feind vor der Burg; er bringt heran

Wir sehen auch genau die Straße, auf der der Feind Winter zur Belagerung
herangezogen ist. "Aus des Pösniers Haus" ist er gekommen, d. h. von Norden.
Gerade gegenüber von Hauenstein schaut vom Nordrande der Seiser Mulde -- etwa
aus derselben Höhe wie die Burg im Süden -- der Psaierhof, wie er heute heißt,
auf Seis herab, das alte Gerichtshaus unter den Vnleittiuer Höfen, ein sehens¬
werter Bau mit schweren gotischen Steintürgewänden, einer mit abwechslungsreich
geschnitzten Streifen gezierten Holzdecke der "Stube" und allerlei Malerei an den
Außenwänden, auch das alte Gefängnisloch wird im Keller noch gezeigt. Sein Be¬
sitzer zu Oswalds Zeiten mag dem Ritter nicht grün gewesen sein, sonst würde
dieser nicht, wenn auch mit Beziehung eins den dort herüber kommenden. Winter,
die etymologische Spielerei eingeflochten haben:

Und nun ist der Winter bis nahe an die Tür von Hauenstein herangerückt.
Der Hauenstein zunächst liegende alte Valentiner Bauernhof unten am Bach heißt
Winterklaub; mit einer sonderbaren Anspielung darauf beginnt Oswald sein Winter¬

lamento:

Erst nach solchem Winterverdruß ist die ausgelassene Frühlings- und Sommer-



d. i, der vorige; gemeint ist: wie im vorigen Jahre.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Hohe Berge und tiefe Täter bedeuten ihm nicht einmal im Sommer landschaftliche
Schönheit, geschweige denn im Winter; der bewußte Eindruck größerer landschaftlicher
Schönheit fehlte damals in Deutschland überhaupt noch. Berge und Täter waren
nur Verkehrsunebenheiten, ärgerlich wie Stock und Stein und verdrießlich wie die
trostlosen dürren Schneestangen, die die Bauern in den tiefen Schnee gesteckt haben
zur Wegmarkierung. Was er in einem solchen Winter von lebenden Wesen nußer
seiner Frau, die in diesen Wintergedichten eine etwas komische Rolle spielt, und
seinen kleinen Schreihälsen zu sehen bekommt, das sind

Man stelle sich mit dem Dichter den Gegensatz höfischer blasser Frauen von
damals — lilienweiße Haut galt noch immer als erste Bedingung höchster Schön¬
heit — und der dunkel gebrcuinten, schwarzhaarigen Kcistelruter Bauern vor! Und
welche Ehren waren ihm früher von Fürsten und Königinnen angetan worden!
„Daß büeß ich alles unter einem Dach." Dazu das Tosen des nahen Bergbachs:

und Wölfe genug in der Nähe, und vier Monate lang kein Sonnenstrahl über
Hauenstein, das unten an der Nordwand des kolossalen Schlern hängt. Der
Winter ist wie ein belagernder lärmender Feind vor der Burg; er bringt heran

Wir sehen auch genau die Straße, auf der der Feind Winter zur Belagerung
herangezogen ist. „Aus des Pösniers Haus" ist er gekommen, d. h. von Norden.
Gerade gegenüber von Hauenstein schaut vom Nordrande der Seiser Mulde — etwa
aus derselben Höhe wie die Burg im Süden — der Psaierhof, wie er heute heißt,
auf Seis herab, das alte Gerichtshaus unter den Vnleittiuer Höfen, ein sehens¬
werter Bau mit schweren gotischen Steintürgewänden, einer mit abwechslungsreich
geschnitzten Streifen gezierten Holzdecke der „Stube" und allerlei Malerei an den
Außenwänden, auch das alte Gefängnisloch wird im Keller noch gezeigt. Sein Be¬
sitzer zu Oswalds Zeiten mag dem Ritter nicht grün gewesen sein, sonst würde
dieser nicht, wenn auch mit Beziehung eins den dort herüber kommenden. Winter,
die etymologische Spielerei eingeflochten haben:

Und nun ist der Winter bis nahe an die Tür von Hauenstein herangerückt.
Der Hauenstein zunächst liegende alte Valentiner Bauernhof unten am Bach heißt
Winterklaub; mit einer sonderbaren Anspielung darauf beginnt Oswald sein Winter¬

lamento:

Erst nach solchem Winterverdruß ist die ausgelassene Frühlings- und Sommer-



d. i, der vorige; gemeint ist: wie im vorigen Jahre.
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[0542] Maßgebliches und Unmaßgebliches Hohe Berge und tiefe Täter bedeuten ihm nicht einmal im Sommer landschaftliche Schönheit, geschweige denn im Winter; der bewußte Eindruck größerer landschaftlicher Schönheit fehlte damals in Deutschland überhaupt noch. Berge und Täter waren nur Verkehrsunebenheiten, ärgerlich wie Stock und Stein und verdrießlich wie die trostlosen dürren Schneestangen, die die Bauern in den tiefen Schnee gesteckt haben zur Wegmarkierung. Was er in einem solchen Winter von lebenden Wesen nußer seiner Frau, die in diesen Wintergedichten eine etwas komische Rolle spielt, und seinen kleinen Schreihälsen zu sehen bekommt, das sind Man stelle sich mit dem Dichter den Gegensatz höfischer blasser Frauen von damals — lilienweiße Haut galt noch immer als erste Bedingung höchster Schön¬ heit — und der dunkel gebrcuinten, schwarzhaarigen Kcistelruter Bauern vor! Und welche Ehren waren ihm früher von Fürsten und Königinnen angetan worden! „Daß büeß ich alles unter einem Dach." Dazu das Tosen des nahen Bergbachs: und Wölfe genug in der Nähe, und vier Monate lang kein Sonnenstrahl über Hauenstein, das unten an der Nordwand des kolossalen Schlern hängt. Der Winter ist wie ein belagernder lärmender Feind vor der Burg; er bringt heran Wir sehen auch genau die Straße, auf der der Feind Winter zur Belagerung herangezogen ist. „Aus des Pösniers Haus" ist er gekommen, d. h. von Norden. Gerade gegenüber von Hauenstein schaut vom Nordrande der Seiser Mulde — etwa aus derselben Höhe wie die Burg im Süden — der Psaierhof, wie er heute heißt, auf Seis herab, das alte Gerichtshaus unter den Vnleittiuer Höfen, ein sehens¬ werter Bau mit schweren gotischen Steintürgewänden, einer mit abwechslungsreich geschnitzten Streifen gezierten Holzdecke der „Stube" und allerlei Malerei an den Außenwänden, auch das alte Gefängnisloch wird im Keller noch gezeigt. Sein Be¬ sitzer zu Oswalds Zeiten mag dem Ritter nicht grün gewesen sein, sonst würde dieser nicht, wenn auch mit Beziehung eins den dort herüber kommenden. Winter, die etymologische Spielerei eingeflochten haben: Und nun ist der Winter bis nahe an die Tür von Hauenstein herangerückt. Der Hauenstein zunächst liegende alte Valentiner Bauernhof unten am Bach heißt Winterklaub; mit einer sonderbaren Anspielung darauf beginnt Oswald sein Winter¬ lamento: Erst nach solchem Winterverdruß ist die ausgelassene Frühlings- und Sommer- d. i, der vorige; gemeint ist: wie im vorigen Jahre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/542>, abgerufen am 17.06.2024.