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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

klemmung in einen schmerzlichen Zorn, und sie erklärte, sie werde nun mich kein
Blatt vor den Mund nehmen, sondern ihr Gewissen ohne Rücksicht auf andre ent¬
laste". Sie brachte also unser nächtliches Treiben ans Licht und schonte auch das
Andenken ihres Vaters nicht, hob vielmehr die schlechte Erziehung, die sie genossen,
das üble Vorbild, das sie ihr Leben lang vor Auge" gehabt, und den moralischen
Druck, unter dem sie gestanden hatte, zur Herbeiführung mildernder Umstände nach¬
drücklich hervor. Und nachdem sie ihres Vaters Schuld aufgedeckt hatte, holte sie
uns ans den Opfertisch, ja sie griff sogar über unsern Kreis hinaus und rührte
an Geschichten, die sie nur vom Hörensagen kannte, sodaß mit einemmal Licht nach
allen Seiten strahlte und die Gerechtigkeit ein fröhliches Erntefest feierte. Den
vormaligen Schlossermeister traf man in seinem gewöhnlichen Wirtshaus an und
entriß ihn seinem schwermütigen Brüten, und auch die übrigen Spießgesellen bis
zu unserm letzten Hehler holte man ebenfalls ans ihren Schlupfwinkeln hervor.
Auch die andern, die sich keines Zusammenhangs mit uns bewußt Ware", wurden
nach und nach zur Strecke gebracht und fanden sich im Gerichtsgebäude ein, wo
sie in Verwunderung über ihr seltsames Schicksal ihre Aburteilung erwarteten und
bis dahin Zeit fände", über das Walten der Vorsehung tiefsinnige Betrachtungen
anzustellen. Nur Heinemann war wie vom Erdboden verschwunden, aber auch er
kam wieder aus seiner Verborgenheit hervor, als er des einsamen Umherirrens müde
anfing, das Zuchthaus als eine Erlösung anzusehen.

So hatte also das goldne Spinneneier sein Werk getan und durfte nun, nach¬
dem es während der kurzen Zeit seines Wanderlebens in der Rolle des rächenden
Schicksals soviel Unheil angerichtet hatte, als es in der Eile geschehn konnte, wieder
in seinem frühern Behältnis zur Ruhe gehn. Ich kam gelinder weg als meine
Mitschuldigen, da man wohl das Narrenseil, an dem ich geführt worden war, er¬
kannte. Aber fünf Jahre Gefängnis waren doch das Ende. Vielleicht wäre ich
mit noch mildern Augen angesehen worden, hätte ich, was in all den vergangnen
Tagen an Rene und Bitternis über mich hergegangen war, enthüllen können. Aber
darüber ließ sich nichts sagen. Man würde mir auch schwerlich geglaubt haben.
Es wurden der Trauer so viele vergossen, und die Richter bekamen von Beteuerungen
aus demi schönsten Munde soviel zu hören, daß sie daran genug hatten Ich hatte
nur immer Furcht, das gute Marthchen könne in diesen Schmutz hineingezogen
werden, und atmete erleichtert ans, als das nicht geschah. So schwieg ich und ließ
die andern reden, weinen, klagen und lügen, nur zu mir selber sagte ich: Leb wohl,
Glück und Leben. Nun ist alles aus.

Vou den Tagen, die auf meine Verurteilung folgten, habe ich nur eine ver¬
worrene Erinnerung. Es ist da eine Lücke in meinem Leben, es ist nicht etwas
verwischt, sondern es ist etwas herausgerissen worden. Während der Verhandlungen,
als noch alles in einem ungewissen Scheine lag, hatte ich mich aufrecht erhalten
und voller Neugierde erwartet, worauf das alles hinauswolle. Ja ich weiß noch,
daß ich zwei Sperlinge mit großem Interesse beobachtet habe, die an den Verhand¬
lungen Anteil zu nehmen schienen, und als begehrten sie ihren in Bedrängnis geratuen
menschlichen Zunftgenossen zu Hilfe zu eilen, ihren Platz auf dem Fenstersims unter
vielem Lärmen hartnäckig behaupteten, zuweilen auch heftig mit den Flügeln gegen die
Scheiben schlugen. Aber als dann die Akten über uns geschlossen wurden, erlosch
plötzlich das letzte Licht über mir, und ich wandelte nun in eine große schmerzliche
Finsternis hinein. Noch sehe ich aus dieser Nacht eine rührende Gestalt hervor¬
kommen, schwarz gekleidet und mit blassem Antlitz, die, wie sie vor mir stand, Augen
voll unsagbarer Trauer und Liebe zu mir erhob und endlich nnter bitterm Leide
wieder von mir ging. Ich weiß aber nicht, ob ich das wirklich gesehen habe, oder
ob es mir ein Traum vortäuscht. Ich glaube, es ist uur ein Traum, es hat damals
noch manche andre Gestalt vor mir gestanden und ist an mir vorübergegangen,
von der ich sicher weiß, daß sie mir nie mehr in den Weg gekommen ist. Vielleicht
aber haben diese guten Augen, die vor kurzem noch in so Heller Freude schimmerten,


Zwei Seelen

klemmung in einen schmerzlichen Zorn, und sie erklärte, sie werde nun mich kein
Blatt vor den Mund nehmen, sondern ihr Gewissen ohne Rücksicht auf andre ent¬
laste». Sie brachte also unser nächtliches Treiben ans Licht und schonte auch das
Andenken ihres Vaters nicht, hob vielmehr die schlechte Erziehung, die sie genossen,
das üble Vorbild, das sie ihr Leben lang vor Auge» gehabt, und den moralischen
Druck, unter dem sie gestanden hatte, zur Herbeiführung mildernder Umstände nach¬
drücklich hervor. Und nachdem sie ihres Vaters Schuld aufgedeckt hatte, holte sie
uns ans den Opfertisch, ja sie griff sogar über unsern Kreis hinaus und rührte
an Geschichten, die sie nur vom Hörensagen kannte, sodaß mit einemmal Licht nach
allen Seiten strahlte und die Gerechtigkeit ein fröhliches Erntefest feierte. Den
vormaligen Schlossermeister traf man in seinem gewöhnlichen Wirtshaus an und
entriß ihn seinem schwermütigen Brüten, und auch die übrigen Spießgesellen bis
zu unserm letzten Hehler holte man ebenfalls ans ihren Schlupfwinkeln hervor.
Auch die andern, die sich keines Zusammenhangs mit uns bewußt Ware«, wurden
nach und nach zur Strecke gebracht und fanden sich im Gerichtsgebäude ein, wo
sie in Verwunderung über ihr seltsames Schicksal ihre Aburteilung erwarteten und
bis dahin Zeit fände«, über das Walten der Vorsehung tiefsinnige Betrachtungen
anzustellen. Nur Heinemann war wie vom Erdboden verschwunden, aber auch er
kam wieder aus seiner Verborgenheit hervor, als er des einsamen Umherirrens müde
anfing, das Zuchthaus als eine Erlösung anzusehen.

So hatte also das goldne Spinneneier sein Werk getan und durfte nun, nach¬
dem es während der kurzen Zeit seines Wanderlebens in der Rolle des rächenden
Schicksals soviel Unheil angerichtet hatte, als es in der Eile geschehn konnte, wieder
in seinem frühern Behältnis zur Ruhe gehn. Ich kam gelinder weg als meine
Mitschuldigen, da man wohl das Narrenseil, an dem ich geführt worden war, er¬
kannte. Aber fünf Jahre Gefängnis waren doch das Ende. Vielleicht wäre ich
mit noch mildern Augen angesehen worden, hätte ich, was in all den vergangnen
Tagen an Rene und Bitternis über mich hergegangen war, enthüllen können. Aber
darüber ließ sich nichts sagen. Man würde mir auch schwerlich geglaubt haben.
Es wurden der Trauer so viele vergossen, und die Richter bekamen von Beteuerungen
aus demi schönsten Munde soviel zu hören, daß sie daran genug hatten Ich hatte
nur immer Furcht, das gute Marthchen könne in diesen Schmutz hineingezogen
werden, und atmete erleichtert ans, als das nicht geschah. So schwieg ich und ließ
die andern reden, weinen, klagen und lügen, nur zu mir selber sagte ich: Leb wohl,
Glück und Leben. Nun ist alles aus.

Vou den Tagen, die auf meine Verurteilung folgten, habe ich nur eine ver¬
worrene Erinnerung. Es ist da eine Lücke in meinem Leben, es ist nicht etwas
verwischt, sondern es ist etwas herausgerissen worden. Während der Verhandlungen,
als noch alles in einem ungewissen Scheine lag, hatte ich mich aufrecht erhalten
und voller Neugierde erwartet, worauf das alles hinauswolle. Ja ich weiß noch,
daß ich zwei Sperlinge mit großem Interesse beobachtet habe, die an den Verhand¬
lungen Anteil zu nehmen schienen, und als begehrten sie ihren in Bedrängnis geratuen
menschlichen Zunftgenossen zu Hilfe zu eilen, ihren Platz auf dem Fenstersims unter
vielem Lärmen hartnäckig behaupteten, zuweilen auch heftig mit den Flügeln gegen die
Scheiben schlugen. Aber als dann die Akten über uns geschlossen wurden, erlosch
plötzlich das letzte Licht über mir, und ich wandelte nun in eine große schmerzliche
Finsternis hinein. Noch sehe ich aus dieser Nacht eine rührende Gestalt hervor¬
kommen, schwarz gekleidet und mit blassem Antlitz, die, wie sie vor mir stand, Augen
voll unsagbarer Trauer und Liebe zu mir erhob und endlich nnter bitterm Leide
wieder von mir ging. Ich weiß aber nicht, ob ich das wirklich gesehen habe, oder
ob es mir ein Traum vortäuscht. Ich glaube, es ist uur ein Traum, es hat damals
noch manche andre Gestalt vor mir gestanden und ist an mir vorübergegangen,
von der ich sicher weiß, daß sie mir nie mehr in den Weg gekommen ist. Vielleicht
aber haben diese guten Augen, die vor kurzem noch in so Heller Freude schimmerten,


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[0598] Zwei Seelen klemmung in einen schmerzlichen Zorn, und sie erklärte, sie werde nun mich kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern ihr Gewissen ohne Rücksicht auf andre ent¬ laste». Sie brachte also unser nächtliches Treiben ans Licht und schonte auch das Andenken ihres Vaters nicht, hob vielmehr die schlechte Erziehung, die sie genossen, das üble Vorbild, das sie ihr Leben lang vor Auge» gehabt, und den moralischen Druck, unter dem sie gestanden hatte, zur Herbeiführung mildernder Umstände nach¬ drücklich hervor. Und nachdem sie ihres Vaters Schuld aufgedeckt hatte, holte sie uns ans den Opfertisch, ja sie griff sogar über unsern Kreis hinaus und rührte an Geschichten, die sie nur vom Hörensagen kannte, sodaß mit einemmal Licht nach allen Seiten strahlte und die Gerechtigkeit ein fröhliches Erntefest feierte. Den vormaligen Schlossermeister traf man in seinem gewöhnlichen Wirtshaus an und entriß ihn seinem schwermütigen Brüten, und auch die übrigen Spießgesellen bis zu unserm letzten Hehler holte man ebenfalls ans ihren Schlupfwinkeln hervor. Auch die andern, die sich keines Zusammenhangs mit uns bewußt Ware«, wurden nach und nach zur Strecke gebracht und fanden sich im Gerichtsgebäude ein, wo sie in Verwunderung über ihr seltsames Schicksal ihre Aburteilung erwarteten und bis dahin Zeit fände«, über das Walten der Vorsehung tiefsinnige Betrachtungen anzustellen. Nur Heinemann war wie vom Erdboden verschwunden, aber auch er kam wieder aus seiner Verborgenheit hervor, als er des einsamen Umherirrens müde anfing, das Zuchthaus als eine Erlösung anzusehen. So hatte also das goldne Spinneneier sein Werk getan und durfte nun, nach¬ dem es während der kurzen Zeit seines Wanderlebens in der Rolle des rächenden Schicksals soviel Unheil angerichtet hatte, als es in der Eile geschehn konnte, wieder in seinem frühern Behältnis zur Ruhe gehn. Ich kam gelinder weg als meine Mitschuldigen, da man wohl das Narrenseil, an dem ich geführt worden war, er¬ kannte. Aber fünf Jahre Gefängnis waren doch das Ende. Vielleicht wäre ich mit noch mildern Augen angesehen worden, hätte ich, was in all den vergangnen Tagen an Rene und Bitternis über mich hergegangen war, enthüllen können. Aber darüber ließ sich nichts sagen. Man würde mir auch schwerlich geglaubt haben. Es wurden der Trauer so viele vergossen, und die Richter bekamen von Beteuerungen aus demi schönsten Munde soviel zu hören, daß sie daran genug hatten Ich hatte nur immer Furcht, das gute Marthchen könne in diesen Schmutz hineingezogen werden, und atmete erleichtert ans, als das nicht geschah. So schwieg ich und ließ die andern reden, weinen, klagen und lügen, nur zu mir selber sagte ich: Leb wohl, Glück und Leben. Nun ist alles aus. Vou den Tagen, die auf meine Verurteilung folgten, habe ich nur eine ver¬ worrene Erinnerung. Es ist da eine Lücke in meinem Leben, es ist nicht etwas verwischt, sondern es ist etwas herausgerissen worden. Während der Verhandlungen, als noch alles in einem ungewissen Scheine lag, hatte ich mich aufrecht erhalten und voller Neugierde erwartet, worauf das alles hinauswolle. Ja ich weiß noch, daß ich zwei Sperlinge mit großem Interesse beobachtet habe, die an den Verhand¬ lungen Anteil zu nehmen schienen, und als begehrten sie ihren in Bedrängnis geratuen menschlichen Zunftgenossen zu Hilfe zu eilen, ihren Platz auf dem Fenstersims unter vielem Lärmen hartnäckig behaupteten, zuweilen auch heftig mit den Flügeln gegen die Scheiben schlugen. Aber als dann die Akten über uns geschlossen wurden, erlosch plötzlich das letzte Licht über mir, und ich wandelte nun in eine große schmerzliche Finsternis hinein. Noch sehe ich aus dieser Nacht eine rührende Gestalt hervor¬ kommen, schwarz gekleidet und mit blassem Antlitz, die, wie sie vor mir stand, Augen voll unsagbarer Trauer und Liebe zu mir erhob und endlich nnter bitterm Leide wieder von mir ging. Ich weiß aber nicht, ob ich das wirklich gesehen habe, oder ob es mir ein Traum vortäuscht. Ich glaube, es ist uur ein Traum, es hat damals noch manche andre Gestalt vor mir gestanden und ist an mir vorübergegangen, von der ich sicher weiß, daß sie mir nie mehr in den Weg gekommen ist. Vielleicht aber haben diese guten Augen, die vor kurzem noch in so Heller Freude schimmerten,

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/598>, abgerufen am 24.05.2024.