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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

"weil Abendbrotzcit war"; die Sozialdemokratin aber hielten aus, sie holten die
säumigen Genossen heran und waren aus diese Weise bei der Stichwahl die
Stärker". In einem Vorort von Berlin riefen die sozialdemokratischen Sieger
beim Verlassen des Saals den überraschten Besiegten zu: "Ausdauer! Ausdauer
führt zum Ziel!" Sie haben damit das Stichwort für die Wahlkämpfe in Deutsch¬
land gegeben. An Ausdauer wie an Vollzähligkeit werden die Sozinldemokratcn
wegen ihrer vorzüglichen Organisation, ihres Parteiterrorismus und der von ihnen
geübten Kontrolle doch immer die Stärkern sein. Man konnte in frühern Jahr¬
zehnten annehmen, daß viele Arbeiter und sonstige Angestellte, sei es ans Scham¬
gefühl, sei es aus Besorgnis für ihre Stellung, vor der offnen Stimmabgabe zurück¬
schrecken würden. Namentlich Fürst Bismarck hat bis in die letzten Jahre seines
Lebens daran geglaubt und deu Nationalliberalen nie verziehen, daß sie ihm die
geheime Stimmabgabe in das Neichswahlrecht in einen- Augenblick hineingebracht
hatten, wo die Sache für ihn auf Annehmen oder Ablehnen stand. Bis zum
Ähre 1890 mag das vielleicht uoch zutreffend gewesen sein. Seitdem hat mit der
gewaltig entwickelten Organisation der Arbeiter, die heute einen Staat im Staate
bilden, mit ihrem gesteigerten Klassenbewußtsein und mit dem dadurch in ent¬
sprechendem Maße' vertieften Klassengegensatz die Schen vor der öffentlichen
Stimmabgabe wenn anch noch nicht ganz aufgehört, so doch jedenfalls sehr stark
abgenommen. Die meisten machen in ihrer ganzen Haltung kein Hehl daraus,
daß sie auch jede einzelne offne Stimmabgabe als einen von dem sozialdemokra¬
tischen Stnrmbock gegen das verhaßte Staats- und Gesellschaftsgebäude gerichteten
Stoß betrachte". Ein großer Teil der Mitläufer mag freilich ausgeblieben sein,
es ist geradezu unglaublich, aus welchen Elementen sich diese mischen. Kann man
doch gelegentlich anch von sonst konservativ denkenden Staatsbeamten die Äußerung
hören: ein paar Sozinldemokraten im Avgevrdnetenhcmse würden gar nichts schade",
und die "Freisinnige Zeitung" bringt die unwiderlegt gebliebne Meldung, daß sich
sogar ein Mann wie Professor Schmoller, Mitglied des preußischen Staatsrath
und des Herrenhauses, im Interesse eines Kompromisses der Nationalliberalen mit
den Sozialdemokraten bemüht habe! Als ob der Reichstag nicht auch mit
2 Sozialdemokraten angefangen hätte, und heute sind es ihrer 81! Die "National-
liberale Korrespondenz" hat es zwar als ein Gebot der Klugheit (!) und Gerechtig¬
keit empfohlen, "der stärksten Partei Einlaß in das Abgeordnetenhaus dnrch Reform
des Wahlrechts zu gewähren," eine Idee, die hoffentlich dauernd um dem Nein des
Herrenhauses scheitern wird. Darin beruht ebeu der Gruudirrtum: dort, wo die
Sozialdemokraten die "stärkste Partei" angeblich -- in. Wirklichkeit nicht -- sind,
haben sie ihre Vertretung; unter den preußischen Landtagswählern sind sie eben nicht
die stärkste Partei und werden es hoffentlich auch nicht werden. Im Wahlkreise
Veeskow-Teltow, vor den Toren Berlins, hatten sie sich zwar schon in die Positur der
Ebenbürtigkeit gesetzt und den Nationalliberalen gegen Zusage der Unterstützung für
ein Mandat -- das zweite abgefordert. Man hat ihnen mit Recht erwidert, daß
die natinnalliberalen Wahlmänner ans bestimmte Kandidaten hin gewählt seien, die
Zentrallcitung also nicht in der Lage wäre, dem Vorschlage zu entsprechen, "wir
'missen es -- so heißt es dann weiter -- der Sozialdemokratie überlassen, ob
s'e durch ihre Haltung die Reaktion in der Verhinderung einer Reform des Wahl¬
rechts unterstützen will." . .

^ Die Reaktion! Man Wird unwillkürlich an das Goethische: "Denn eben wo
^griffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" erinnert. Reaktion i
w "usem Tagen, im Zeitalter der Weltpvlitik. ein ererbtes Schlagwort das n
den Jahren von 1848 bis 1858 eine gewisse Berechtigung hatte nud Bestrebungen
"uf Aufhebung der Verfassung und auf Wiederherstellung des absoluten Staat s
sichtet waren, zusammenfaßte. Wer denkt hente noch daran! Heute liegt d
Reaktion einzig bei der Sozialdemokratie; sie ist die eigentliche "reaktionäre
^"sse." die einzige Partei, die die Verfassung umstürzen und beseitigen will, um
"n deren Stelle die se!zialdemokratische Diktatur zu setzen. Die Vorgänge an einzelnen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

„weil Abendbrotzcit war"; die Sozialdemokratin aber hielten aus, sie holten die
säumigen Genossen heran und waren aus diese Weise bei der Stichwahl die
Stärker». In einem Vorort von Berlin riefen die sozialdemokratischen Sieger
beim Verlassen des Saals den überraschten Besiegten zu: „Ausdauer! Ausdauer
führt zum Ziel!" Sie haben damit das Stichwort für die Wahlkämpfe in Deutsch¬
land gegeben. An Ausdauer wie an Vollzähligkeit werden die Sozinldemokratcn
wegen ihrer vorzüglichen Organisation, ihres Parteiterrorismus und der von ihnen
geübten Kontrolle doch immer die Stärkern sein. Man konnte in frühern Jahr¬
zehnten annehmen, daß viele Arbeiter und sonstige Angestellte, sei es ans Scham¬
gefühl, sei es aus Besorgnis für ihre Stellung, vor der offnen Stimmabgabe zurück¬
schrecken würden. Namentlich Fürst Bismarck hat bis in die letzten Jahre seines
Lebens daran geglaubt und deu Nationalliberalen nie verziehen, daß sie ihm die
geheime Stimmabgabe in das Neichswahlrecht in einen- Augenblick hineingebracht
hatten, wo die Sache für ihn auf Annehmen oder Ablehnen stand. Bis zum
Ähre 1890 mag das vielleicht uoch zutreffend gewesen sein. Seitdem hat mit der
gewaltig entwickelten Organisation der Arbeiter, die heute einen Staat im Staate
bilden, mit ihrem gesteigerten Klassenbewußtsein und mit dem dadurch in ent¬
sprechendem Maße' vertieften Klassengegensatz die Schen vor der öffentlichen
Stimmabgabe wenn anch noch nicht ganz aufgehört, so doch jedenfalls sehr stark
abgenommen. Die meisten machen in ihrer ganzen Haltung kein Hehl daraus,
daß sie auch jede einzelne offne Stimmabgabe als einen von dem sozialdemokra¬
tischen Stnrmbock gegen das verhaßte Staats- und Gesellschaftsgebäude gerichteten
Stoß betrachte». Ein großer Teil der Mitläufer mag freilich ausgeblieben sein,
es ist geradezu unglaublich, aus welchen Elementen sich diese mischen. Kann man
doch gelegentlich anch von sonst konservativ denkenden Staatsbeamten die Äußerung
hören: ein paar Sozinldemokraten im Avgevrdnetenhcmse würden gar nichts schade»,
und die „Freisinnige Zeitung" bringt die unwiderlegt gebliebne Meldung, daß sich
sogar ein Mann wie Professor Schmoller, Mitglied des preußischen Staatsrath
und des Herrenhauses, im Interesse eines Kompromisses der Nationalliberalen mit
den Sozialdemokraten bemüht habe! Als ob der Reichstag nicht auch mit
2 Sozialdemokraten angefangen hätte, und heute sind es ihrer 81! Die „National-
liberale Korrespondenz" hat es zwar als ein Gebot der Klugheit (!) und Gerechtig¬
keit empfohlen, „der stärksten Partei Einlaß in das Abgeordnetenhaus dnrch Reform
des Wahlrechts zu gewähren," eine Idee, die hoffentlich dauernd um dem Nein des
Herrenhauses scheitern wird. Darin beruht ebeu der Gruudirrtum: dort, wo die
Sozialdemokraten die „stärkste Partei" angeblich — in. Wirklichkeit nicht — sind,
haben sie ihre Vertretung; unter den preußischen Landtagswählern sind sie eben nicht
die stärkste Partei und werden es hoffentlich auch nicht werden. Im Wahlkreise
Veeskow-Teltow, vor den Toren Berlins, hatten sie sich zwar schon in die Positur der
Ebenbürtigkeit gesetzt und den Nationalliberalen gegen Zusage der Unterstützung für
ein Mandat — das zweite abgefordert. Man hat ihnen mit Recht erwidert, daß
die natinnalliberalen Wahlmänner ans bestimmte Kandidaten hin gewählt seien, die
Zentrallcitung also nicht in der Lage wäre, dem Vorschlage zu entsprechen, „wir
'missen es — so heißt es dann weiter — der Sozialdemokratie überlassen, ob
s'e durch ihre Haltung die Reaktion in der Verhinderung einer Reform des Wahl¬
rechts unterstützen will." . .

^ Die Reaktion! Man Wird unwillkürlich an das Goethische: „Denn eben wo
^griffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" erinnert. Reaktion i
w »usem Tagen, im Zeitalter der Weltpvlitik. ein ererbtes Schlagwort das n
den Jahren von 1848 bis 1858 eine gewisse Berechtigung hatte nud Bestrebungen
"uf Aufhebung der Verfassung und auf Wiederherstellung des absoluten Staat s
sichtet waren, zusammenfaßte. Wer denkt hente noch daran! Heute liegt d
Reaktion einzig bei der Sozialdemokratie; sie ist die eigentliche „reaktionäre
^"sse." die einzige Partei, die die Verfassung umstürzen und beseitigen will, um
"n deren Stelle die se!zialdemokratische Diktatur zu setzen. Die Vorgänge an einzelnen


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[0607] Maßgebliches und Unmaßgebliches „weil Abendbrotzcit war"; die Sozialdemokratin aber hielten aus, sie holten die säumigen Genossen heran und waren aus diese Weise bei der Stichwahl die Stärker». In einem Vorort von Berlin riefen die sozialdemokratischen Sieger beim Verlassen des Saals den überraschten Besiegten zu: „Ausdauer! Ausdauer führt zum Ziel!" Sie haben damit das Stichwort für die Wahlkämpfe in Deutsch¬ land gegeben. An Ausdauer wie an Vollzähligkeit werden die Sozinldemokratcn wegen ihrer vorzüglichen Organisation, ihres Parteiterrorismus und der von ihnen geübten Kontrolle doch immer die Stärkern sein. Man konnte in frühern Jahr¬ zehnten annehmen, daß viele Arbeiter und sonstige Angestellte, sei es ans Scham¬ gefühl, sei es aus Besorgnis für ihre Stellung, vor der offnen Stimmabgabe zurück¬ schrecken würden. Namentlich Fürst Bismarck hat bis in die letzten Jahre seines Lebens daran geglaubt und deu Nationalliberalen nie verziehen, daß sie ihm die geheime Stimmabgabe in das Neichswahlrecht in einen- Augenblick hineingebracht hatten, wo die Sache für ihn auf Annehmen oder Ablehnen stand. Bis zum Ähre 1890 mag das vielleicht uoch zutreffend gewesen sein. Seitdem hat mit der gewaltig entwickelten Organisation der Arbeiter, die heute einen Staat im Staate bilden, mit ihrem gesteigerten Klassenbewußtsein und mit dem dadurch in ent¬ sprechendem Maße' vertieften Klassengegensatz die Schen vor der öffentlichen Stimmabgabe wenn anch noch nicht ganz aufgehört, so doch jedenfalls sehr stark abgenommen. Die meisten machen in ihrer ganzen Haltung kein Hehl daraus, daß sie auch jede einzelne offne Stimmabgabe als einen von dem sozialdemokra¬ tischen Stnrmbock gegen das verhaßte Staats- und Gesellschaftsgebäude gerichteten Stoß betrachte». Ein großer Teil der Mitläufer mag freilich ausgeblieben sein, es ist geradezu unglaublich, aus welchen Elementen sich diese mischen. Kann man doch gelegentlich anch von sonst konservativ denkenden Staatsbeamten die Äußerung hören: ein paar Sozinldemokraten im Avgevrdnetenhcmse würden gar nichts schade», und die „Freisinnige Zeitung" bringt die unwiderlegt gebliebne Meldung, daß sich sogar ein Mann wie Professor Schmoller, Mitglied des preußischen Staatsrath und des Herrenhauses, im Interesse eines Kompromisses der Nationalliberalen mit den Sozialdemokraten bemüht habe! Als ob der Reichstag nicht auch mit 2 Sozialdemokraten angefangen hätte, und heute sind es ihrer 81! Die „National- liberale Korrespondenz" hat es zwar als ein Gebot der Klugheit (!) und Gerechtig¬ keit empfohlen, „der stärksten Partei Einlaß in das Abgeordnetenhaus dnrch Reform des Wahlrechts zu gewähren," eine Idee, die hoffentlich dauernd um dem Nein des Herrenhauses scheitern wird. Darin beruht ebeu der Gruudirrtum: dort, wo die Sozialdemokraten die „stärkste Partei" angeblich — in. Wirklichkeit nicht — sind, haben sie ihre Vertretung; unter den preußischen Landtagswählern sind sie eben nicht die stärkste Partei und werden es hoffentlich auch nicht werden. Im Wahlkreise Veeskow-Teltow, vor den Toren Berlins, hatten sie sich zwar schon in die Positur der Ebenbürtigkeit gesetzt und den Nationalliberalen gegen Zusage der Unterstützung für ein Mandat — das zweite abgefordert. Man hat ihnen mit Recht erwidert, daß die natinnalliberalen Wahlmänner ans bestimmte Kandidaten hin gewählt seien, die Zentrallcitung also nicht in der Lage wäre, dem Vorschlage zu entsprechen, „wir 'missen es — so heißt es dann weiter — der Sozialdemokratie überlassen, ob s'e durch ihre Haltung die Reaktion in der Verhinderung einer Reform des Wahl¬ rechts unterstützen will." . . ^ Die Reaktion! Man Wird unwillkürlich an das Goethische: „Denn eben wo ^griffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" erinnert. Reaktion i w »usem Tagen, im Zeitalter der Weltpvlitik. ein ererbtes Schlagwort das n den Jahren von 1848 bis 1858 eine gewisse Berechtigung hatte nud Bestrebungen "uf Aufhebung der Verfassung und auf Wiederherstellung des absoluten Staat s sichtet waren, zusammenfaßte. Wer denkt hente noch daran! Heute liegt d Reaktion einzig bei der Sozialdemokratie; sie ist die eigentliche „reaktionäre ^"sse." die einzige Partei, die die Verfassung umstürzen und beseitigen will, um "n deren Stelle die se!zialdemokratische Diktatur zu setzen. Die Vorgänge an einzelnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/607>, abgerufen am 25.05.2024.