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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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sie hinfort die stehende Nummer wurde. Man schalt und tröstete sie alle Tage,
und sie nahm die Strafrede mit Ergebung hin und löffelte die dargebotnen Suppen
mit aller geforderten Dankbarkeit. Namentlich wenn wieder einmal etwas Kleines
bei ihr angekommen war, wurden ihr allerlei gute Dinge ins Haus gebracht, von
denen dann einige auch um uns kamen als Dank für manche von meiner Mutter
geleistete Handreichung. Ich weiß nicht, ob wir uns schon damals über diese
sonderbare Verteilung der Erdengüter Gedanken gemacht haben, unsre Mutter ließ
es jedenfalls an spitzen Redensarten nicht fehlen. Bei uns war noch ein ordent¬
licher Haushalt vorhanden, hübsche Schränke nud Tische, reinliche Betten und
sogar ein Sofa, das der Vater auf einer Auktion gekauft hatte, weshalb nach
dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge gnr keine Ursache war, sich zu ver¬
wundern, daß die guten Suppen nu unserm Hauswesen vorüber in die Töpfe
der Fischern flössen.

Neben dem Häuschen, worin wir wohnten, stand ein schöner Apfelbaum, dessen
Äste alle Jahre voll köstlicher Früchte hingen. An diesem Baum habe ich mir
auf dem Felde, auf dem ich später das meinige tun sollte, die ersten Sporen ver¬
dient. Einen Sommer hatten wir thu von ferne angesehen und dabei die schmerz¬
liche Sehnsucht erlitten, der unsre Stnmmeltern erlegen waren. Im folgenden
Sommer war unsre Geduld jedoch zu Ende. Meine ältern Brüder und Geschwister
blieben unter ängstlich stehn, während ich hinaufkletterte und thue" die roten Früchte
hinabwarf. Von diesem Tage an übernahm ich die Führung unter dem jüngern
Teil unsrer Familie und stellte den Helden vor, dem die meiste Ehre gebührt,
dessen Schicksal es jedoch auch ist, harte Leiden auf sich zu nehmen. Meine Mutter
sagte nichts zu dem unerwarteten Segen, den wir ihr von den Feldern ins Haus
brachten, denn ob sie auch sonst eine rechtliche Frau war, so mochte sie doch über
die Wald- und Feldfrüchte freiere Geburten haben, oder sie war damals von
Hunger und Kummer mürbe geworden. Mein Vater merkte in seiner nieder¬
gedrückten Stimmung nicht, was wir trieben. Erst als ich bei einem etwas wag¬
halsigen Stück erwischt, und während meine Geschwister sich in Sicherheit brachten,
an deu Haare" nach Hause gezerrt wurde, wachte er erschrocken auf, nahm den
Haselstock und diente mich in der Erinnerung an die makellose Vergangenheit unsrer
Familie schonungslos durch. Zuletzt, während ihm selbst die Tränen über das
Gesicht flössen, ergriff er meine Hand und sagte traurig! Tu das nicht wieder,
Heinrich!

Ich war zu dieser Zeit ein kleiner hübscher Junge und sein besondrer Liebling.
Auch ich liebte ihn zärtlich, und eben jetzt, wo ich von ihm rede, steht das Bild
des einfachen Mannes als ein Heiligtum vor meiner Seele, um dem kein einziger
Flecken haftet. Er war von merkwürdig zurückhaltendem Wesen, eine scheue Natur,
die über das, was sie innerlich bewegte, keine Worte hatte. Auch seiue Liebe zu
mir gab er in einer zarten, fast verschämten Weise zu erkennen, als ein unbeholfner
Mann, der sich gern erschließe" möchte, aber sich vor dem lauten Wort fürchtet.
So ließ er auch jetzt seine guten Augen für sich reden, und unter ihrem Blick ver¬
sprach ich ihm, ein guter Junge zu werden, nicht zu betteln, nicht zu stehlen, und
was sonst noch sein Herz zu vernehmen begehrte. Er horte mein Gelübde mit
freundlichem Gesicht an; wie es freilich möglich sein würde, uns alle in Ehren
durchzubringen, das mochte ihm wohl selbst ein Rätsel sein.

Er ist in jener Zeit schnell gealtert, sein Haar wurde fast über Nacht schloh¬
weiß, und sein Gesicht bedeckte sich mit Furchen. Ich habe diese Furchen damals
oft mit meinen Fingern zu glätten versucht, nachher habe ich am meisten dazu bei¬
getragen, daß sie sich tief in seine Stirn eingruben.

Es war um diese Zeit, daß der jüngste Bruder meines Vaters, ein
Postbeamter, mit seiner Frau zu uns zu Besuch kam. Sie fuhren in einem
grünen Wägelchen vor, das mit einem Vrannen bespannt war, und in dessen
Tiefe verschiedne geheimnisvolle Körbe verstaut waren. Das war nun ein


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sie hinfort die stehende Nummer wurde. Man schalt und tröstete sie alle Tage,
und sie nahm die Strafrede mit Ergebung hin und löffelte die dargebotnen Suppen
mit aller geforderten Dankbarkeit. Namentlich wenn wieder einmal etwas Kleines
bei ihr angekommen war, wurden ihr allerlei gute Dinge ins Haus gebracht, von
denen dann einige auch um uns kamen als Dank für manche von meiner Mutter
geleistete Handreichung. Ich weiß nicht, ob wir uns schon damals über diese
sonderbare Verteilung der Erdengüter Gedanken gemacht haben, unsre Mutter ließ
es jedenfalls an spitzen Redensarten nicht fehlen. Bei uns war noch ein ordent¬
licher Haushalt vorhanden, hübsche Schränke nud Tische, reinliche Betten und
sogar ein Sofa, das der Vater auf einer Auktion gekauft hatte, weshalb nach
dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge gnr keine Ursache war, sich zu ver¬
wundern, daß die guten Suppen nu unserm Hauswesen vorüber in die Töpfe
der Fischern flössen.

Neben dem Häuschen, worin wir wohnten, stand ein schöner Apfelbaum, dessen
Äste alle Jahre voll köstlicher Früchte hingen. An diesem Baum habe ich mir
auf dem Felde, auf dem ich später das meinige tun sollte, die ersten Sporen ver¬
dient. Einen Sommer hatten wir thu von ferne angesehen und dabei die schmerz¬
liche Sehnsucht erlitten, der unsre Stnmmeltern erlegen waren. Im folgenden
Sommer war unsre Geduld jedoch zu Ende. Meine ältern Brüder und Geschwister
blieben unter ängstlich stehn, während ich hinaufkletterte und thue» die roten Früchte
hinabwarf. Von diesem Tage an übernahm ich die Führung unter dem jüngern
Teil unsrer Familie und stellte den Helden vor, dem die meiste Ehre gebührt,
dessen Schicksal es jedoch auch ist, harte Leiden auf sich zu nehmen. Meine Mutter
sagte nichts zu dem unerwarteten Segen, den wir ihr von den Feldern ins Haus
brachten, denn ob sie auch sonst eine rechtliche Frau war, so mochte sie doch über
die Wald- und Feldfrüchte freiere Geburten haben, oder sie war damals von
Hunger und Kummer mürbe geworden. Mein Vater merkte in seiner nieder¬
gedrückten Stimmung nicht, was wir trieben. Erst als ich bei einem etwas wag¬
halsigen Stück erwischt, und während meine Geschwister sich in Sicherheit brachten,
an deu Haare» nach Hause gezerrt wurde, wachte er erschrocken auf, nahm den
Haselstock und diente mich in der Erinnerung an die makellose Vergangenheit unsrer
Familie schonungslos durch. Zuletzt, während ihm selbst die Tränen über das
Gesicht flössen, ergriff er meine Hand und sagte traurig! Tu das nicht wieder,
Heinrich!

Ich war zu dieser Zeit ein kleiner hübscher Junge und sein besondrer Liebling.
Auch ich liebte ihn zärtlich, und eben jetzt, wo ich von ihm rede, steht das Bild
des einfachen Mannes als ein Heiligtum vor meiner Seele, um dem kein einziger
Flecken haftet. Er war von merkwürdig zurückhaltendem Wesen, eine scheue Natur,
die über das, was sie innerlich bewegte, keine Worte hatte. Auch seiue Liebe zu
mir gab er in einer zarten, fast verschämten Weise zu erkennen, als ein unbeholfner
Mann, der sich gern erschließe» möchte, aber sich vor dem lauten Wort fürchtet.
So ließ er auch jetzt seine guten Augen für sich reden, und unter ihrem Blick ver¬
sprach ich ihm, ein guter Junge zu werden, nicht zu betteln, nicht zu stehlen, und
was sonst noch sein Herz zu vernehmen begehrte. Er horte mein Gelübde mit
freundlichem Gesicht an; wie es freilich möglich sein würde, uns alle in Ehren
durchzubringen, das mochte ihm wohl selbst ein Rätsel sein.

Er ist in jener Zeit schnell gealtert, sein Haar wurde fast über Nacht schloh¬
weiß, und sein Gesicht bedeckte sich mit Furchen. Ich habe diese Furchen damals
oft mit meinen Fingern zu glätten versucht, nachher habe ich am meisten dazu bei¬
getragen, daß sie sich tief in seine Stirn eingruben.

Es war um diese Zeit, daß der jüngste Bruder meines Vaters, ein
Postbeamter, mit seiner Frau zu uns zu Besuch kam. Sie fuhren in einem
grünen Wägelchen vor, das mit einem Vrannen bespannt war, und in dessen
Tiefe verschiedne geheimnisvolle Körbe verstaut waren. Das war nun ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/62>, abgerufen am 17.06.2024.