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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Philosophie sei sie grundverschieden. Ihre Originalität ist ihm das Kennzeichen der
Echtheit. Zum andern glaubt er, daß den Synoptikern und dem vierten Evan¬
gelium je eine Urschrift zugrunde liege, die beide wortgetreue Aufzeichnungen der
Lehre Jesu gewesen seien. Namentlich der Autor der Reden des vierten Evan¬
geliums sei der tiefste MetaPhysiker gewesen, den es nur einmal in der Welt ge¬
geben habe, und der eben kein andrer sein könne als der Jesus der drei ersten
Evangelien. Diese seien freilich später geschrieben worden als die Paulusbriefe,
aber die beiden Urevangclien seien der Zeit nach älter, und Paulus sei kein un¬
bedingt zuverlässiger Interpret der Lehre Jesu. In allen: diesem stimmen wir
Kirchbach bei, wenn wir auch nicht so weit gehn, Paulus für einen "rationalistischen
Phantasten" zu erklären und den Pcmlinismns für etwas vom Christentum Grund-
verschiednes, ja ihm Entgegengesetztes und Feindliches zu halten. Auch dem Alten
Testament wird Kirchbach gerecht. Er preist die schönen, von liebevoller Beobach¬
tung zeugenden Naturschilderungen, die erhabne, echt ethische Gesinnung und die
Humanität der Propheten, die Teilnahme am Schicksale der Tiere und die zarte
Fürsorge für sie und zeigt, daß die Bibel weder in der Schöpfungsgeschichte noch
in den Psalmen einen Protest gegen Darwin enthalte, vielmehr mit ihrer Nntur-
ansicht ganz auf dem Boden der Entwicklungslehre stehe. Er hätte nur nicht bloß
den Protest der Orthodoxen gegen Darwin, der keineswegs immer einen Protest
gegen die Entwicklungslehre bedeutet, erwähnen sollen, sondern auch deu Kampf
der Darwinianer gegen die Bibel. Was dann die Exegese der von ihm für echt
gehaltnen Jesusworte betrifft, so finden wir sie vielfach zutreffend und gut. Seine
Erklärung des "Dies ist mein Leib" mag der Beachtung des Schriftgelehrten
dringend empfohlen werden. Das Brot sei weder der Leib Jesu oder gar Christi,
noch bedeute es diesen Leib, sondern es bedeute die "Bundeseinheit zur Erfüllung
der Lebensanschauung Jesu, die materielle Durchdringung der Menschheit mit dem
höchsten Sittenleben." Nur sollte Kirchbach beachten -- vielleicht weiß er das gar
nicht -->, daß alle seine Erklärungen/ namentlich die von dem Genuß des Lebens¬
brotes als der Aneignung der geistig-sittlichen Substanz Jesu, den christlichen
Lehrern aller Konfessionen nicht unbekannt und den bessern von ihnen geläufig
sind. Übrigens trifft er nicht immer ins Schwarze. Bei den Seligpreisungen
zum Beispiel, mit denen die Bergpredigt beginnt, übersieht er, was ihm, der den
Poeten für den berufensten Interpreten der Bibel hält, zu allererst hätte in
die Augen fallen müssen: daß die Wirkung dieses großartigsten aller Meister¬
stücke poetischer Rhetorik auf der Umwertung aller Werte beruht, daß darin alles,
was die Welt schätzt, entwertet, das Gegenteil empfohlen wird, darum das Wort
Bettler wörtlich genommen und in seinem gemeinen Sinne verstanden werden muß,
gleichviel, wie man das beigefügte "im Geiste" erklären mag. Und "was ihr
wollt, daß euch die Menschen tun sollen, das tuet ihr ihnen auch," fällt keines¬
wegs rin der kantischen Regel zusammen: "Handle so, daß die Maxime deines
Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese
Regel ist, wie wir öfter gezeigt haben, ganz unbrauchbar, weil ein Gesetz, das
unter allen Umständen, überall und immer für alle ohne Ausnahme gelten könnte,
nicht denkbar ist; ein Stantsgesetz nämlich, das die Handlungen regelt, und ein
solches meint Kant; mit dem Moralgesetz, das die Gesinnung regelt, ists anders.
Und ein solches stellt Jesus auf, ein unbedingt erfüllbares: jeder kann sich in die
Lage des andern, mit dem er zu tun hat, versetzen und sich fragen: Was würde
ich von meinem Gegenpart wünschen, wenn unsre Lagen vertauscht wären? Das
hat immer nur,eine ganz individuelle Entscheidung zur Folge, auf die sich ein
Staatsgesetz nicht gründen läßt. Abgesehen von solchen kleinen Meinungsverschieden¬
heiten können wir Kirchbach versichern, daß seine geistige und moralische Deutung
der Worte Jesu den gläubigen Religionslehrern durchaus nicht fremd ist, und daß
sie ganz so wie er auch die Wundertäter Jesu sinnbildlich und moralisch deuten;
es ist in der Kirche seit der patristischen Zeit von jeher gelehrt worden, daß das


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Philosophie sei sie grundverschieden. Ihre Originalität ist ihm das Kennzeichen der
Echtheit. Zum andern glaubt er, daß den Synoptikern und dem vierten Evan¬
gelium je eine Urschrift zugrunde liege, die beide wortgetreue Aufzeichnungen der
Lehre Jesu gewesen seien. Namentlich der Autor der Reden des vierten Evan¬
geliums sei der tiefste MetaPhysiker gewesen, den es nur einmal in der Welt ge¬
geben habe, und der eben kein andrer sein könne als der Jesus der drei ersten
Evangelien. Diese seien freilich später geschrieben worden als die Paulusbriefe,
aber die beiden Urevangclien seien der Zeit nach älter, und Paulus sei kein un¬
bedingt zuverlässiger Interpret der Lehre Jesu. In allen: diesem stimmen wir
Kirchbach bei, wenn wir auch nicht so weit gehn, Paulus für einen „rationalistischen
Phantasten" zu erklären und den Pcmlinismns für etwas vom Christentum Grund-
verschiednes, ja ihm Entgegengesetztes und Feindliches zu halten. Auch dem Alten
Testament wird Kirchbach gerecht. Er preist die schönen, von liebevoller Beobach¬
tung zeugenden Naturschilderungen, die erhabne, echt ethische Gesinnung und die
Humanität der Propheten, die Teilnahme am Schicksale der Tiere und die zarte
Fürsorge für sie und zeigt, daß die Bibel weder in der Schöpfungsgeschichte noch
in den Psalmen einen Protest gegen Darwin enthalte, vielmehr mit ihrer Nntur-
ansicht ganz auf dem Boden der Entwicklungslehre stehe. Er hätte nur nicht bloß
den Protest der Orthodoxen gegen Darwin, der keineswegs immer einen Protest
gegen die Entwicklungslehre bedeutet, erwähnen sollen, sondern auch deu Kampf
der Darwinianer gegen die Bibel. Was dann die Exegese der von ihm für echt
gehaltnen Jesusworte betrifft, so finden wir sie vielfach zutreffend und gut. Seine
Erklärung des „Dies ist mein Leib" mag der Beachtung des Schriftgelehrten
dringend empfohlen werden. Das Brot sei weder der Leib Jesu oder gar Christi,
noch bedeute es diesen Leib, sondern es bedeute die „Bundeseinheit zur Erfüllung
der Lebensanschauung Jesu, die materielle Durchdringung der Menschheit mit dem
höchsten Sittenleben." Nur sollte Kirchbach beachten — vielleicht weiß er das gar
nicht —>, daß alle seine Erklärungen/ namentlich die von dem Genuß des Lebens¬
brotes als der Aneignung der geistig-sittlichen Substanz Jesu, den christlichen
Lehrern aller Konfessionen nicht unbekannt und den bessern von ihnen geläufig
sind. Übrigens trifft er nicht immer ins Schwarze. Bei den Seligpreisungen
zum Beispiel, mit denen die Bergpredigt beginnt, übersieht er, was ihm, der den
Poeten für den berufensten Interpreten der Bibel hält, zu allererst hätte in
die Augen fallen müssen: daß die Wirkung dieses großartigsten aller Meister¬
stücke poetischer Rhetorik auf der Umwertung aller Werte beruht, daß darin alles,
was die Welt schätzt, entwertet, das Gegenteil empfohlen wird, darum das Wort
Bettler wörtlich genommen und in seinem gemeinen Sinne verstanden werden muß,
gleichviel, wie man das beigefügte „im Geiste" erklären mag. Und „was ihr
wollt, daß euch die Menschen tun sollen, das tuet ihr ihnen auch," fällt keines¬
wegs rin der kantischen Regel zusammen: „Handle so, daß die Maxime deines
Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese
Regel ist, wie wir öfter gezeigt haben, ganz unbrauchbar, weil ein Gesetz, das
unter allen Umständen, überall und immer für alle ohne Ausnahme gelten könnte,
nicht denkbar ist; ein Stantsgesetz nämlich, das die Handlungen regelt, und ein
solches meint Kant; mit dem Moralgesetz, das die Gesinnung regelt, ists anders.
Und ein solches stellt Jesus auf, ein unbedingt erfüllbares: jeder kann sich in die
Lage des andern, mit dem er zu tun hat, versetzen und sich fragen: Was würde
ich von meinem Gegenpart wünschen, wenn unsre Lagen vertauscht wären? Das
hat immer nur,eine ganz individuelle Entscheidung zur Folge, auf die sich ein
Staatsgesetz nicht gründen läßt. Abgesehen von solchen kleinen Meinungsverschieden¬
heiten können wir Kirchbach versichern, daß seine geistige und moralische Deutung
der Worte Jesu den gläubigen Religionslehrern durchaus nicht fremd ist, und daß
sie ganz so wie er auch die Wundertäter Jesu sinnbildlich und moralisch deuten;
es ist in der Kirche seit der patristischen Zeit von jeher gelehrt worden, daß das


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[0192] Maßgebliches und Unmaßgebliches Philosophie sei sie grundverschieden. Ihre Originalität ist ihm das Kennzeichen der Echtheit. Zum andern glaubt er, daß den Synoptikern und dem vierten Evan¬ gelium je eine Urschrift zugrunde liege, die beide wortgetreue Aufzeichnungen der Lehre Jesu gewesen seien. Namentlich der Autor der Reden des vierten Evan¬ geliums sei der tiefste MetaPhysiker gewesen, den es nur einmal in der Welt ge¬ geben habe, und der eben kein andrer sein könne als der Jesus der drei ersten Evangelien. Diese seien freilich später geschrieben worden als die Paulusbriefe, aber die beiden Urevangclien seien der Zeit nach älter, und Paulus sei kein un¬ bedingt zuverlässiger Interpret der Lehre Jesu. In allen: diesem stimmen wir Kirchbach bei, wenn wir auch nicht so weit gehn, Paulus für einen „rationalistischen Phantasten" zu erklären und den Pcmlinismns für etwas vom Christentum Grund- verschiednes, ja ihm Entgegengesetztes und Feindliches zu halten. Auch dem Alten Testament wird Kirchbach gerecht. Er preist die schönen, von liebevoller Beobach¬ tung zeugenden Naturschilderungen, die erhabne, echt ethische Gesinnung und die Humanität der Propheten, die Teilnahme am Schicksale der Tiere und die zarte Fürsorge für sie und zeigt, daß die Bibel weder in der Schöpfungsgeschichte noch in den Psalmen einen Protest gegen Darwin enthalte, vielmehr mit ihrer Nntur- ansicht ganz auf dem Boden der Entwicklungslehre stehe. Er hätte nur nicht bloß den Protest der Orthodoxen gegen Darwin, der keineswegs immer einen Protest gegen die Entwicklungslehre bedeutet, erwähnen sollen, sondern auch deu Kampf der Darwinianer gegen die Bibel. Was dann die Exegese der von ihm für echt gehaltnen Jesusworte betrifft, so finden wir sie vielfach zutreffend und gut. Seine Erklärung des „Dies ist mein Leib" mag der Beachtung des Schriftgelehrten dringend empfohlen werden. Das Brot sei weder der Leib Jesu oder gar Christi, noch bedeute es diesen Leib, sondern es bedeute die „Bundeseinheit zur Erfüllung der Lebensanschauung Jesu, die materielle Durchdringung der Menschheit mit dem höchsten Sittenleben." Nur sollte Kirchbach beachten — vielleicht weiß er das gar nicht —>, daß alle seine Erklärungen/ namentlich die von dem Genuß des Lebens¬ brotes als der Aneignung der geistig-sittlichen Substanz Jesu, den christlichen Lehrern aller Konfessionen nicht unbekannt und den bessern von ihnen geläufig sind. Übrigens trifft er nicht immer ins Schwarze. Bei den Seligpreisungen zum Beispiel, mit denen die Bergpredigt beginnt, übersieht er, was ihm, der den Poeten für den berufensten Interpreten der Bibel hält, zu allererst hätte in die Augen fallen müssen: daß die Wirkung dieses großartigsten aller Meister¬ stücke poetischer Rhetorik auf der Umwertung aller Werte beruht, daß darin alles, was die Welt schätzt, entwertet, das Gegenteil empfohlen wird, darum das Wort Bettler wörtlich genommen und in seinem gemeinen Sinne verstanden werden muß, gleichviel, wie man das beigefügte „im Geiste" erklären mag. Und „was ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, das tuet ihr ihnen auch," fällt keines¬ wegs rin der kantischen Regel zusammen: „Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese Regel ist, wie wir öfter gezeigt haben, ganz unbrauchbar, weil ein Gesetz, das unter allen Umständen, überall und immer für alle ohne Ausnahme gelten könnte, nicht denkbar ist; ein Stantsgesetz nämlich, das die Handlungen regelt, und ein solches meint Kant; mit dem Moralgesetz, das die Gesinnung regelt, ists anders. Und ein solches stellt Jesus auf, ein unbedingt erfüllbares: jeder kann sich in die Lage des andern, mit dem er zu tun hat, versetzen und sich fragen: Was würde ich von meinem Gegenpart wünschen, wenn unsre Lagen vertauscht wären? Das hat immer nur,eine ganz individuelle Entscheidung zur Folge, auf die sich ein Staatsgesetz nicht gründen läßt. Abgesehen von solchen kleinen Meinungsverschieden¬ heiten können wir Kirchbach versichern, daß seine geistige und moralische Deutung der Worte Jesu den gläubigen Religionslehrern durchaus nicht fremd ist, und daß sie ganz so wie er auch die Wundertäter Jesu sinnbildlich und moralisch deuten; es ist in der Kirche seit der patristischen Zeit von jeher gelehrt worden, daß das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/192>, abgerufen am 17.06.2024.