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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches n"d Unmaßgebliches

Schriftwort außer seinem Wortsinn auch einen symbolischen und namentlich einen
moralischen Sinn habe. Aber freilich: außer dem Wortsinn; dieser wird nicht
verworfen oder für Legende oder Mißverständnis der Jünger erklärt wie in
Kirchbachs Buch. Wir unsrerseits haben nichts dagegen, daß man legendenhafte Zusätze
zu den Urevangelien und Anbequemungen Jesu an den Volksaberglauben im Neuen
Testament findet. Aber wir halten nicht alles Übernatürliche, was dann vorkommt,
für Legende, und wir glauben nicht, daß Jesus die Messiaswürde ausdrücklich ab¬
gelehnt, von seiner besondern Gottsohnschaft nichts gewußt habe und von einer jen¬
seitigen Seligkeit nichts habe wissen wollen.

In dieser Beziehung halten wir es mit Hegel, dem gerade die Gottheit
Christi das Wesentliche war. "Wenn Christus nur ein vortreffliches, sogar unfund-
liches Individuum und uur dies sein soll, so ist die Vorstellung der spekulativen
Idee, der absoluten Wahrheit geleugnet. Um diese aber ist es zu tun, und von
dieser ist auszugehn. Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr
wollt; ebenso zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren der Kirche auf den Konzilien
durch dieses oder jenes Interesse oder durch die Leidenschaft der Bischöfe zustande
gekommen oder von da oder dorther geflossen sind -- alle solche Umstände mögen
beschaffen sein, wie sie wollen; es fragt sich allein, was die Idee oder die Wahr¬
heit an und für sich ist." Eduard von Hartmann will sogar, daß sich die Christen
nur an den Logos halten und den Menschen Jesus als eine halbmythische und
gleichgiltige Person fallen lassen sollen. Dieser Übertreibung gegenüber halten wir
wieder mit der Kirche daran fest, daß der Logos ohne den Menschen Jesus nicht
wirksam geworden wäre, und daß dieser Mensch Jesus für die Menschen aller
Zeiten die Offenbarung des Logos und der Führer zum Vater bleibt. Jesus soll
nach Kirchbach ganz kantisch die Unerkennbarkeit Gottes gelehrt haben. Mag sein!
Das schließt nicht aus, daß er für seine Person eine nicht unteilbare Kenntnis des
Jenseits hatte, wie viele seiner Worte andeuten. Eben weil wir das Jenseits,
"den Urgrund," nicht kennen, ist die Wnnderscheu töricht. Wir sehen täglich deut¬
licher ein, daß uns das Hervorgehn von Materie und Geist aus dem Urgründe,
ja schon das Hervorgehn einer Erscheinung aus der andern, des Organischen aus
dem Unorganischen, der Übergang einer Energieform in die andre Geheimnis
bleibt, ein Wunder, wie Otto Liebmann sagt, und darum halten wir es nicht für
ungereimt, daß Gott den, den er mit der wichtigsten aller Sendungen betraut hatte,
durch Zeichen beglaubigt habe, die sich in die kausale Verkettung der Naturvorgänge
nicht einfügen lassen. Das inwendige Reich Gottes, nach Kirchbach der Kern der
Jesuslehre, ist dem christlichen Lehrer und dem gläubigen Christen wahrhaftig nichts
neues; aber die Form, in der Kirchbach diese alte Wahrheit vorträgt, mit aus¬
drücklicher Abweisung eines äußerlichen Reichs Gottes, das erst im Jenseits seine
Vollendung finden soll, leidet an zwei Übelständen, die die Verbreitung der christ¬
lichen Religion unmöglich gemacht haben würden, wenn die Urgemeinde die Lehre
Jesu so verstanden und erklärt hätte. Er übersetzt Basileia ton Uranon mit "Macht
des Alls" und erklärt: "Die Macht des Alls soll unser innerer Besitz werden; das
All soll sich in uns konzentrieren, das Bewußtsein der Unendlichkeit und Gesetz¬
mäßigkeit des Alls, des Daseins soll uns stets begleiten." und daraus soll die
Sittlichkeit hervorsprießeu. Das versteht nun von tausend Menschen kaum einer,
und für den einen, der es versteht, ist es noch kein Leitstern für den Wandel,
keine Schutzwehr vor Versuchungen und keine Stütze in Widerwärtigkeiten. Alles dieses
dagegen ist und leistet die leicht verständliche Kirchenlehre, daß wir einen allmäch¬
tigen und allgüttgen Vater im Himmel haben, der uns so viel von sich, als wir
zu unserm Heile brauchen, durch seinen Sohn bekannt gemacht hat. und der das
in diesem unvollkommnen Erdenleben ungestillt bleibende Sehnen unsers Herzens
im Jenseits befriedigen wird. Das inwendige Himmelreich zu erstreben, ist Pflicht
jedes Christen; aber die Zahl derer, die es so vollkommen erlangen, daß sie seiner
Vollendung und Ergänzung im Jenseits nicht bedürfen, ist so klein, daß die christ-


Maßgebliches n»d Unmaßgebliches

Schriftwort außer seinem Wortsinn auch einen symbolischen und namentlich einen
moralischen Sinn habe. Aber freilich: außer dem Wortsinn; dieser wird nicht
verworfen oder für Legende oder Mißverständnis der Jünger erklärt wie in
Kirchbachs Buch. Wir unsrerseits haben nichts dagegen, daß man legendenhafte Zusätze
zu den Urevangelien und Anbequemungen Jesu an den Volksaberglauben im Neuen
Testament findet. Aber wir halten nicht alles Übernatürliche, was dann vorkommt,
für Legende, und wir glauben nicht, daß Jesus die Messiaswürde ausdrücklich ab¬
gelehnt, von seiner besondern Gottsohnschaft nichts gewußt habe und von einer jen¬
seitigen Seligkeit nichts habe wissen wollen.

In dieser Beziehung halten wir es mit Hegel, dem gerade die Gottheit
Christi das Wesentliche war. „Wenn Christus nur ein vortreffliches, sogar unfund-
liches Individuum und uur dies sein soll, so ist die Vorstellung der spekulativen
Idee, der absoluten Wahrheit geleugnet. Um diese aber ist es zu tun, und von
dieser ist auszugehn. Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr
wollt; ebenso zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren der Kirche auf den Konzilien
durch dieses oder jenes Interesse oder durch die Leidenschaft der Bischöfe zustande
gekommen oder von da oder dorther geflossen sind — alle solche Umstände mögen
beschaffen sein, wie sie wollen; es fragt sich allein, was die Idee oder die Wahr¬
heit an und für sich ist." Eduard von Hartmann will sogar, daß sich die Christen
nur an den Logos halten und den Menschen Jesus als eine halbmythische und
gleichgiltige Person fallen lassen sollen. Dieser Übertreibung gegenüber halten wir
wieder mit der Kirche daran fest, daß der Logos ohne den Menschen Jesus nicht
wirksam geworden wäre, und daß dieser Mensch Jesus für die Menschen aller
Zeiten die Offenbarung des Logos und der Führer zum Vater bleibt. Jesus soll
nach Kirchbach ganz kantisch die Unerkennbarkeit Gottes gelehrt haben. Mag sein!
Das schließt nicht aus, daß er für seine Person eine nicht unteilbare Kenntnis des
Jenseits hatte, wie viele seiner Worte andeuten. Eben weil wir das Jenseits,
„den Urgrund," nicht kennen, ist die Wnnderscheu töricht. Wir sehen täglich deut¬
licher ein, daß uns das Hervorgehn von Materie und Geist aus dem Urgründe,
ja schon das Hervorgehn einer Erscheinung aus der andern, des Organischen aus
dem Unorganischen, der Übergang einer Energieform in die andre Geheimnis
bleibt, ein Wunder, wie Otto Liebmann sagt, und darum halten wir es nicht für
ungereimt, daß Gott den, den er mit der wichtigsten aller Sendungen betraut hatte,
durch Zeichen beglaubigt habe, die sich in die kausale Verkettung der Naturvorgänge
nicht einfügen lassen. Das inwendige Reich Gottes, nach Kirchbach der Kern der
Jesuslehre, ist dem christlichen Lehrer und dem gläubigen Christen wahrhaftig nichts
neues; aber die Form, in der Kirchbach diese alte Wahrheit vorträgt, mit aus¬
drücklicher Abweisung eines äußerlichen Reichs Gottes, das erst im Jenseits seine
Vollendung finden soll, leidet an zwei Übelständen, die die Verbreitung der christ¬
lichen Religion unmöglich gemacht haben würden, wenn die Urgemeinde die Lehre
Jesu so verstanden und erklärt hätte. Er übersetzt Basileia ton Uranon mit „Macht
des Alls" und erklärt: „Die Macht des Alls soll unser innerer Besitz werden; das
All soll sich in uns konzentrieren, das Bewußtsein der Unendlichkeit und Gesetz¬
mäßigkeit des Alls, des Daseins soll uns stets begleiten." und daraus soll die
Sittlichkeit hervorsprießeu. Das versteht nun von tausend Menschen kaum einer,
und für den einen, der es versteht, ist es noch kein Leitstern für den Wandel,
keine Schutzwehr vor Versuchungen und keine Stütze in Widerwärtigkeiten. Alles dieses
dagegen ist und leistet die leicht verständliche Kirchenlehre, daß wir einen allmäch¬
tigen und allgüttgen Vater im Himmel haben, der uns so viel von sich, als wir
zu unserm Heile brauchen, durch seinen Sohn bekannt gemacht hat. und der das
in diesem unvollkommnen Erdenleben ungestillt bleibende Sehnen unsers Herzens
im Jenseits befriedigen wird. Das inwendige Himmelreich zu erstreben, ist Pflicht
jedes Christen; aber die Zahl derer, die es so vollkommen erlangen, daß sie seiner
Vollendung und Ergänzung im Jenseits nicht bedürfen, ist so klein, daß die christ-


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[0193] Maßgebliches n»d Unmaßgebliches Schriftwort außer seinem Wortsinn auch einen symbolischen und namentlich einen moralischen Sinn habe. Aber freilich: außer dem Wortsinn; dieser wird nicht verworfen oder für Legende oder Mißverständnis der Jünger erklärt wie in Kirchbachs Buch. Wir unsrerseits haben nichts dagegen, daß man legendenhafte Zusätze zu den Urevangelien und Anbequemungen Jesu an den Volksaberglauben im Neuen Testament findet. Aber wir halten nicht alles Übernatürliche, was dann vorkommt, für Legende, und wir glauben nicht, daß Jesus die Messiaswürde ausdrücklich ab¬ gelehnt, von seiner besondern Gottsohnschaft nichts gewußt habe und von einer jen¬ seitigen Seligkeit nichts habe wissen wollen. In dieser Beziehung halten wir es mit Hegel, dem gerade die Gottheit Christi das Wesentliche war. „Wenn Christus nur ein vortreffliches, sogar unfund- liches Individuum und uur dies sein soll, so ist die Vorstellung der spekulativen Idee, der absoluten Wahrheit geleugnet. Um diese aber ist es zu tun, und von dieser ist auszugehn. Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr wollt; ebenso zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren der Kirche auf den Konzilien durch dieses oder jenes Interesse oder durch die Leidenschaft der Bischöfe zustande gekommen oder von da oder dorther geflossen sind — alle solche Umstände mögen beschaffen sein, wie sie wollen; es fragt sich allein, was die Idee oder die Wahr¬ heit an und für sich ist." Eduard von Hartmann will sogar, daß sich die Christen nur an den Logos halten und den Menschen Jesus als eine halbmythische und gleichgiltige Person fallen lassen sollen. Dieser Übertreibung gegenüber halten wir wieder mit der Kirche daran fest, daß der Logos ohne den Menschen Jesus nicht wirksam geworden wäre, und daß dieser Mensch Jesus für die Menschen aller Zeiten die Offenbarung des Logos und der Führer zum Vater bleibt. Jesus soll nach Kirchbach ganz kantisch die Unerkennbarkeit Gottes gelehrt haben. Mag sein! Das schließt nicht aus, daß er für seine Person eine nicht unteilbare Kenntnis des Jenseits hatte, wie viele seiner Worte andeuten. Eben weil wir das Jenseits, „den Urgrund," nicht kennen, ist die Wnnderscheu töricht. Wir sehen täglich deut¬ licher ein, daß uns das Hervorgehn von Materie und Geist aus dem Urgründe, ja schon das Hervorgehn einer Erscheinung aus der andern, des Organischen aus dem Unorganischen, der Übergang einer Energieform in die andre Geheimnis bleibt, ein Wunder, wie Otto Liebmann sagt, und darum halten wir es nicht für ungereimt, daß Gott den, den er mit der wichtigsten aller Sendungen betraut hatte, durch Zeichen beglaubigt habe, die sich in die kausale Verkettung der Naturvorgänge nicht einfügen lassen. Das inwendige Reich Gottes, nach Kirchbach der Kern der Jesuslehre, ist dem christlichen Lehrer und dem gläubigen Christen wahrhaftig nichts neues; aber die Form, in der Kirchbach diese alte Wahrheit vorträgt, mit aus¬ drücklicher Abweisung eines äußerlichen Reichs Gottes, das erst im Jenseits seine Vollendung finden soll, leidet an zwei Übelständen, die die Verbreitung der christ¬ lichen Religion unmöglich gemacht haben würden, wenn die Urgemeinde die Lehre Jesu so verstanden und erklärt hätte. Er übersetzt Basileia ton Uranon mit „Macht des Alls" und erklärt: „Die Macht des Alls soll unser innerer Besitz werden; das All soll sich in uns konzentrieren, das Bewußtsein der Unendlichkeit und Gesetz¬ mäßigkeit des Alls, des Daseins soll uns stets begleiten." und daraus soll die Sittlichkeit hervorsprießeu. Das versteht nun von tausend Menschen kaum einer, und für den einen, der es versteht, ist es noch kein Leitstern für den Wandel, keine Schutzwehr vor Versuchungen und keine Stütze in Widerwärtigkeiten. Alles dieses dagegen ist und leistet die leicht verständliche Kirchenlehre, daß wir einen allmäch¬ tigen und allgüttgen Vater im Himmel haben, der uns so viel von sich, als wir zu unserm Heile brauchen, durch seinen Sohn bekannt gemacht hat. und der das in diesem unvollkommnen Erdenleben ungestillt bleibende Sehnen unsers Herzens im Jenseits befriedigen wird. Das inwendige Himmelreich zu erstreben, ist Pflicht jedes Christen; aber die Zahl derer, die es so vollkommen erlangen, daß sie seiner Vollendung und Ergänzung im Jenseits nicht bedürfen, ist so klein, daß die christ-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/193>, abgerufen am 27.05.2024.