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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Ausblicke übers Meer

Festlande, hinein in die schwerfällige, unbehilfliche Masse des chinesischen Reichs,
des Mutterlandes der japanischen Kultur, mußte es vor allem Korea bemustern,
eine dünnbevölkerte, in der Entwicklung weit zurückgebliebne Halbinsel fast von
der Größe Italiens. So stoßen hier zwei Offensiven aufeinander, beide un¬
vermeidlich, deshalb beide innerlich berechtigt.

Binnen acht Tagen haben nun die Japaner, allen weitem Verhandlungen
und Zögerungen rasch ein Ende machend, umsichtig, kühn und energisch, wie
sie sich schon vor zehn Jahren gegenüber China gezeigt haben, mit plötzlichen
Angriffsstößen die Herrschaft zur See an sich gerissen, indem sie eine Anzahl
der russischen Schiffe auf längere Zeit hinaus kampfunfähig machten oder ver¬
nichteten, und Korea in ihren Besitz gebracht, wo sie eine Armee von
80000 Mann gelandet haben sollen. Sie haben sich also des wichtigsten
Kampfpreises schon versichert; sie haben es jetzt völlig in der Hand, die noch
von Westen langsam und vereinzelt herankommenden russischen Kriegsschiffe
abzufangen und ihrer Armee in Korea, das ja wenig leistungsfähig ist, zur
See alles nachzuführen, was sie braucht. Dieser ebenso kräftigen als plan¬
vollen Kriegführung gegenüber haben die Russen bisher eine erstaunliche Unbe-
hilflichkeit gezeigt und sich von ihr völlig in die Defensive werfen lassen.
Es fragt sich, ob sie noch aus dieser herauskommen können, denn der Auf¬
marsch ist bekanntlich das Entscheidende bei jedem Feldzuge. Wäre es ihnen
möglich, wenigstens den größten Teil ihrer Flotte nach Ostasien zu bringen,
so könnten sie vielleicht noch die Überlegenheit der Japaner zur See brechen,
aber darüber müssen bei den riesigen Entfernungen Monate vergehn, und bis
dahin können zu Lande große Entscheidungen gefallen sein. Ob zugunsten der
Russen? Die russische Armee ist gewiß hervorragend tüchtig, aber selbständige
Initiative der einzelnen Befehlshaber und vollends des einzelnen Mannes
liegt nicht im Volkscharakter; Rußland ist deshalb immer in der Verteidigung
viel stärker gewesen als im Angriff, wie auf der einen Seite schon der Krim¬
krieg, auf der andern der letzte russisch-türkische Krieg beweisen kann, und
jetzt hat es den schweren Nachteil, daß es für alle Nachschübe nach dem Osten
nur eine Tausende von Kilometern lange, eingleisige und noch wenig leistungs¬
fähige, nicht einmal solid gebaute Eisenbahn besitzt, die obendrein leicht unter¬
brochen werden kann, und daß seine nächste Operationsbasis, die Mandschurei,
für den längern Unterhalt einer großen Armee gar nicht die Mittel bietet. Ob
da die Russen überhaupt zu einem umfassenden Angriff auf Korea kommen
werden, der doch immer auch, solange die Japaner die See beherrschen, gefähr¬
lichen Flankenstößen ausgesetzt bliebe, ist sehr zweifelhaft. Daß aber der Krieg
trotzdem kein kurzer sein wird, dazu ist bei dem Selbstgefühl und der Stärke
der beiden Gegner alle Aussicht.

Die Sympathie der unbeteiligten Zuschauer wendet sich leicht dem Sieger
zu, aber wir Deutschen haben doch Wohl allmählich gelernt, in solchen Fällen
nach unsern eignen Interessen zu fragen, statt Partei zu ergreifen wie vor fünfzig
Jahren etwa im Krimkriege, wo wir eifrig russisch oder türkisch waren, weil wir
nicht wußten, wo Deutschland eigentlich lag und was sein Interesse sei. Heute


Ausblicke übers Meer

Festlande, hinein in die schwerfällige, unbehilfliche Masse des chinesischen Reichs,
des Mutterlandes der japanischen Kultur, mußte es vor allem Korea bemustern,
eine dünnbevölkerte, in der Entwicklung weit zurückgebliebne Halbinsel fast von
der Größe Italiens. So stoßen hier zwei Offensiven aufeinander, beide un¬
vermeidlich, deshalb beide innerlich berechtigt.

Binnen acht Tagen haben nun die Japaner, allen weitem Verhandlungen
und Zögerungen rasch ein Ende machend, umsichtig, kühn und energisch, wie
sie sich schon vor zehn Jahren gegenüber China gezeigt haben, mit plötzlichen
Angriffsstößen die Herrschaft zur See an sich gerissen, indem sie eine Anzahl
der russischen Schiffe auf längere Zeit hinaus kampfunfähig machten oder ver¬
nichteten, und Korea in ihren Besitz gebracht, wo sie eine Armee von
80000 Mann gelandet haben sollen. Sie haben sich also des wichtigsten
Kampfpreises schon versichert; sie haben es jetzt völlig in der Hand, die noch
von Westen langsam und vereinzelt herankommenden russischen Kriegsschiffe
abzufangen und ihrer Armee in Korea, das ja wenig leistungsfähig ist, zur
See alles nachzuführen, was sie braucht. Dieser ebenso kräftigen als plan¬
vollen Kriegführung gegenüber haben die Russen bisher eine erstaunliche Unbe-
hilflichkeit gezeigt und sich von ihr völlig in die Defensive werfen lassen.
Es fragt sich, ob sie noch aus dieser herauskommen können, denn der Auf¬
marsch ist bekanntlich das Entscheidende bei jedem Feldzuge. Wäre es ihnen
möglich, wenigstens den größten Teil ihrer Flotte nach Ostasien zu bringen,
so könnten sie vielleicht noch die Überlegenheit der Japaner zur See brechen,
aber darüber müssen bei den riesigen Entfernungen Monate vergehn, und bis
dahin können zu Lande große Entscheidungen gefallen sein. Ob zugunsten der
Russen? Die russische Armee ist gewiß hervorragend tüchtig, aber selbständige
Initiative der einzelnen Befehlshaber und vollends des einzelnen Mannes
liegt nicht im Volkscharakter; Rußland ist deshalb immer in der Verteidigung
viel stärker gewesen als im Angriff, wie auf der einen Seite schon der Krim¬
krieg, auf der andern der letzte russisch-türkische Krieg beweisen kann, und
jetzt hat es den schweren Nachteil, daß es für alle Nachschübe nach dem Osten
nur eine Tausende von Kilometern lange, eingleisige und noch wenig leistungs¬
fähige, nicht einmal solid gebaute Eisenbahn besitzt, die obendrein leicht unter¬
brochen werden kann, und daß seine nächste Operationsbasis, die Mandschurei,
für den längern Unterhalt einer großen Armee gar nicht die Mittel bietet. Ob
da die Russen überhaupt zu einem umfassenden Angriff auf Korea kommen
werden, der doch immer auch, solange die Japaner die See beherrschen, gefähr¬
lichen Flankenstößen ausgesetzt bliebe, ist sehr zweifelhaft. Daß aber der Krieg
trotzdem kein kurzer sein wird, dazu ist bei dem Selbstgefühl und der Stärke
der beiden Gegner alle Aussicht.

Die Sympathie der unbeteiligten Zuschauer wendet sich leicht dem Sieger
zu, aber wir Deutschen haben doch Wohl allmählich gelernt, in solchen Fällen
nach unsern eignen Interessen zu fragen, statt Partei zu ergreifen wie vor fünfzig
Jahren etwa im Krimkriege, wo wir eifrig russisch oder türkisch waren, weil wir
nicht wußten, wo Deutschland eigentlich lag und was sein Interesse sei. Heute


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[0447] Ausblicke übers Meer Festlande, hinein in die schwerfällige, unbehilfliche Masse des chinesischen Reichs, des Mutterlandes der japanischen Kultur, mußte es vor allem Korea bemustern, eine dünnbevölkerte, in der Entwicklung weit zurückgebliebne Halbinsel fast von der Größe Italiens. So stoßen hier zwei Offensiven aufeinander, beide un¬ vermeidlich, deshalb beide innerlich berechtigt. Binnen acht Tagen haben nun die Japaner, allen weitem Verhandlungen und Zögerungen rasch ein Ende machend, umsichtig, kühn und energisch, wie sie sich schon vor zehn Jahren gegenüber China gezeigt haben, mit plötzlichen Angriffsstößen die Herrschaft zur See an sich gerissen, indem sie eine Anzahl der russischen Schiffe auf längere Zeit hinaus kampfunfähig machten oder ver¬ nichteten, und Korea in ihren Besitz gebracht, wo sie eine Armee von 80000 Mann gelandet haben sollen. Sie haben sich also des wichtigsten Kampfpreises schon versichert; sie haben es jetzt völlig in der Hand, die noch von Westen langsam und vereinzelt herankommenden russischen Kriegsschiffe abzufangen und ihrer Armee in Korea, das ja wenig leistungsfähig ist, zur See alles nachzuführen, was sie braucht. Dieser ebenso kräftigen als plan¬ vollen Kriegführung gegenüber haben die Russen bisher eine erstaunliche Unbe- hilflichkeit gezeigt und sich von ihr völlig in die Defensive werfen lassen. Es fragt sich, ob sie noch aus dieser herauskommen können, denn der Auf¬ marsch ist bekanntlich das Entscheidende bei jedem Feldzuge. Wäre es ihnen möglich, wenigstens den größten Teil ihrer Flotte nach Ostasien zu bringen, so könnten sie vielleicht noch die Überlegenheit der Japaner zur See brechen, aber darüber müssen bei den riesigen Entfernungen Monate vergehn, und bis dahin können zu Lande große Entscheidungen gefallen sein. Ob zugunsten der Russen? Die russische Armee ist gewiß hervorragend tüchtig, aber selbständige Initiative der einzelnen Befehlshaber und vollends des einzelnen Mannes liegt nicht im Volkscharakter; Rußland ist deshalb immer in der Verteidigung viel stärker gewesen als im Angriff, wie auf der einen Seite schon der Krim¬ krieg, auf der andern der letzte russisch-türkische Krieg beweisen kann, und jetzt hat es den schweren Nachteil, daß es für alle Nachschübe nach dem Osten nur eine Tausende von Kilometern lange, eingleisige und noch wenig leistungs¬ fähige, nicht einmal solid gebaute Eisenbahn besitzt, die obendrein leicht unter¬ brochen werden kann, und daß seine nächste Operationsbasis, die Mandschurei, für den längern Unterhalt einer großen Armee gar nicht die Mittel bietet. Ob da die Russen überhaupt zu einem umfassenden Angriff auf Korea kommen werden, der doch immer auch, solange die Japaner die See beherrschen, gefähr¬ lichen Flankenstößen ausgesetzt bliebe, ist sehr zweifelhaft. Daß aber der Krieg trotzdem kein kurzer sein wird, dazu ist bei dem Selbstgefühl und der Stärke der beiden Gegner alle Aussicht. Die Sympathie der unbeteiligten Zuschauer wendet sich leicht dem Sieger zu, aber wir Deutschen haben doch Wohl allmählich gelernt, in solchen Fällen nach unsern eignen Interessen zu fragen, statt Partei zu ergreifen wie vor fünfzig Jahren etwa im Krimkriege, wo wir eifrig russisch oder türkisch waren, weil wir nicht wußten, wo Deutschland eigentlich lag und was sein Interesse sei. Heute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/447>, abgerufen am 10.06.2024.