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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aufgaben gestellt sein, die auch über unsern spießbürgerlichen Parlamentarismus in
der Heimat sehr schnell zur Tagesordnung übergehn würde. Wahrend England
und Frankreich ihre Machtmittel in Ostasien mit unverkennbarer Eile verstärken,
vertieft sich unser Reichstag in Erörterungen, wieviel Offiziere, Ärzte und Spiel¬
leute wohl an unserm dortigen Truvpeubestcmd zu kürzen seien. Dazu das Drängen
nach Zurückziehung der Truppe, womit allen andern Interessen gedient sein, würde,
nur den deutschen nicht. Eine Beseitigung des Blitzableiters während eines
heraufziehenden Gewitters! Immer wieder der Beweis politischer Unfähigkeit und
Kurzsichtigkeit.

Eine Beteiligung Chinas am Kriege würde wahrscheinlich zur Folge haben,
daß China schließlich die Kosten zu tragen hätte. Rußland kann sich mit Japan
beim Friedensschluß leicht über Korea verständigen, zumal da der Krieg, wie er auch
enden möge, doch nur eine Etappe sein wird. China dagegen würde sich kaum um
den Preis der Mandschurei loskaufen können, wobei dann für andre Mächte,
namentlich für England, sofort die Frage des Gleichgewichts begönne.

Einstweilen bleibt England in der angenehmen Lage, zur gegebnen Zeit, wenn
beide Mächte erschöpft sein werden, und Japan am Ende seiner militärischen und
finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen sein wird, seine guten Dienste sür die
Friedensvermittlung anzubieten und dadurch wieder in die Stellung als arbitrs für
Ostasien zu kommen, zugleich auch in die dankbare Position des tsi-tius ^^nasus.
Rußland wäre dann Wohl kaum imstande, englischen Forderungen ernsten Widerspruch
entgegen zu setzen, mit Frankreich würde das Londoner Kabinett sich zu verständigen
wissen, und Deutschland hätte das Nachsehen, namentlich wenn der deutsche Reichstag
fort und fort zu erkennen gibt, daß ihm die ostasiatischen wie überhaupt die über¬
seeischen Interessen gleichgiltig sind, und daß die deutsche Regierung hierin auf eine
freudige und nachhaltige Unterstützung ihrer Volksvertretung nicht rechnen kann.
Allerdings sind ja neuerdings fast alle Beschlüsse unsers Reichstags nur noch Minoritäts¬
beschlüsse, meist sogar einer minimalen Minorität, aber unsre Regierung pflegt ja
nun einmal damit zu rechnen und diesen Beschlüssen eine Bedeutung zuzuerkennen,
die ihnen verfassungsmäßig gar nicht beiwohnt und nicht zukommt. Denn Artikel 28
der deutschen Verfassung besagt: "Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmen-
mehrheit. Zur Giltigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der
gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich." Somit wären die Verbündeten
Regierungen berechtigt, eigentlich wohl verpflichtet, jeden Reichstagsbeschluß als
ungiltig zu behandeln, der dieser Voraussetzung nicht entspricht. Die Möglichkeit,
daß davon gelegentlich einmal Gebrauch gemacht werde, ist ja nicht ausgeschlossen,
zunächst drängt sich theoretisch die Frage auf, ob man nicht auf diesem sehr ein¬
fachen Wege der chronischen Beschlußunfähigkeit des Reichstags abhelfen könnte.

In Ostasien wird aber zur gegebnen Zeit noch eine ganz andre Macht
auftreten: Amerika. Auch die Amerikaner sorgen vor. Sie schicken Schiffe nach
Ostasien, Truppen nach den Philippinen und, was zunächst am bedeutsamsten ist,
in größter Eile Konsule in die Mandschurei. Damit etablieren sie "ein Auge"
auf dem Kriegsschauplatz. Der für Dalny bestimmte Konsul wird ja einstweilen
in Schanghai bleiben, aber Amerika hat deutlich genug zu erkennen gegeben, daß
ohne Mitwirkung des Washingtoner Kabinetts große Veränderungen an den asiatischen
Gestaden des Stillen Ozeans nicht mehr stattfinden sollen. Es will dort zu ge¬
gebner Zeit die Vorherrschaft antreten, die ihm schon Goethe zuerkannt hat, und
Rußland sieht sich unmittelbar seinem großen Zukunftskonkurrenten gegenüber, auf
den der jetzige Zar einst als Thronfolger bei einem Besuche in Berlin hingewiesen
hat. Um so bemerkenswerter ist die Mühe, die man sich in England bei der
Regierung gibt, die öffentliche Meinung nicht gegen Rußland einnehmen zu lassen,
Während die englische Presse Deutschland auf jede Weise bei den Russen zu dis¬
kreditieren sucht. England will freie Hand behalten, um je nach Bedarf Japan zu
unterstützen, oder sich Rußland als Friedensstifter und Befreier aus großer Berlegen-


Grenzboten I 1904 72
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Aufgaben gestellt sein, die auch über unsern spießbürgerlichen Parlamentarismus in
der Heimat sehr schnell zur Tagesordnung übergehn würde. Wahrend England
und Frankreich ihre Machtmittel in Ostasien mit unverkennbarer Eile verstärken,
vertieft sich unser Reichstag in Erörterungen, wieviel Offiziere, Ärzte und Spiel¬
leute wohl an unserm dortigen Truvpeubestcmd zu kürzen seien. Dazu das Drängen
nach Zurückziehung der Truppe, womit allen andern Interessen gedient sein, würde,
nur den deutschen nicht. Eine Beseitigung des Blitzableiters während eines
heraufziehenden Gewitters! Immer wieder der Beweis politischer Unfähigkeit und
Kurzsichtigkeit.

Eine Beteiligung Chinas am Kriege würde wahrscheinlich zur Folge haben,
daß China schließlich die Kosten zu tragen hätte. Rußland kann sich mit Japan
beim Friedensschluß leicht über Korea verständigen, zumal da der Krieg, wie er auch
enden möge, doch nur eine Etappe sein wird. China dagegen würde sich kaum um
den Preis der Mandschurei loskaufen können, wobei dann für andre Mächte,
namentlich für England, sofort die Frage des Gleichgewichts begönne.

Einstweilen bleibt England in der angenehmen Lage, zur gegebnen Zeit, wenn
beide Mächte erschöpft sein werden, und Japan am Ende seiner militärischen und
finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen sein wird, seine guten Dienste sür die
Friedensvermittlung anzubieten und dadurch wieder in die Stellung als arbitrs für
Ostasien zu kommen, zugleich auch in die dankbare Position des tsi-tius ^^nasus.
Rußland wäre dann Wohl kaum imstande, englischen Forderungen ernsten Widerspruch
entgegen zu setzen, mit Frankreich würde das Londoner Kabinett sich zu verständigen
wissen, und Deutschland hätte das Nachsehen, namentlich wenn der deutsche Reichstag
fort und fort zu erkennen gibt, daß ihm die ostasiatischen wie überhaupt die über¬
seeischen Interessen gleichgiltig sind, und daß die deutsche Regierung hierin auf eine
freudige und nachhaltige Unterstützung ihrer Volksvertretung nicht rechnen kann.
Allerdings sind ja neuerdings fast alle Beschlüsse unsers Reichstags nur noch Minoritäts¬
beschlüsse, meist sogar einer minimalen Minorität, aber unsre Regierung pflegt ja
nun einmal damit zu rechnen und diesen Beschlüssen eine Bedeutung zuzuerkennen,
die ihnen verfassungsmäßig gar nicht beiwohnt und nicht zukommt. Denn Artikel 28
der deutschen Verfassung besagt: „Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmen-
mehrheit. Zur Giltigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der
gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich." Somit wären die Verbündeten
Regierungen berechtigt, eigentlich wohl verpflichtet, jeden Reichstagsbeschluß als
ungiltig zu behandeln, der dieser Voraussetzung nicht entspricht. Die Möglichkeit,
daß davon gelegentlich einmal Gebrauch gemacht werde, ist ja nicht ausgeschlossen,
zunächst drängt sich theoretisch die Frage auf, ob man nicht auf diesem sehr ein¬
fachen Wege der chronischen Beschlußunfähigkeit des Reichstags abhelfen könnte.

In Ostasien wird aber zur gegebnen Zeit noch eine ganz andre Macht
auftreten: Amerika. Auch die Amerikaner sorgen vor. Sie schicken Schiffe nach
Ostasien, Truppen nach den Philippinen und, was zunächst am bedeutsamsten ist,
in größter Eile Konsule in die Mandschurei. Damit etablieren sie „ein Auge"
auf dem Kriegsschauplatz. Der für Dalny bestimmte Konsul wird ja einstweilen
in Schanghai bleiben, aber Amerika hat deutlich genug zu erkennen gegeben, daß
ohne Mitwirkung des Washingtoner Kabinetts große Veränderungen an den asiatischen
Gestaden des Stillen Ozeans nicht mehr stattfinden sollen. Es will dort zu ge¬
gebner Zeit die Vorherrschaft antreten, die ihm schon Goethe zuerkannt hat, und
Rußland sieht sich unmittelbar seinem großen Zukunftskonkurrenten gegenüber, auf
den der jetzige Zar einst als Thronfolger bei einem Besuche in Berlin hingewiesen
hat. Um so bemerkenswerter ist die Mühe, die man sich in England bei der
Regierung gibt, die öffentliche Meinung nicht gegen Rußland einnehmen zu lassen,
Während die englische Presse Deutschland auf jede Weise bei den Russen zu dis¬
kreditieren sucht. England will freie Hand behalten, um je nach Bedarf Japan zu
unterstützen, oder sich Rußland als Friedensstifter und Befreier aus großer Berlegen-


Grenzboten I 1904 72
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[0561] Maßgebliches und Unmaßgebliches Aufgaben gestellt sein, die auch über unsern spießbürgerlichen Parlamentarismus in der Heimat sehr schnell zur Tagesordnung übergehn würde. Wahrend England und Frankreich ihre Machtmittel in Ostasien mit unverkennbarer Eile verstärken, vertieft sich unser Reichstag in Erörterungen, wieviel Offiziere, Ärzte und Spiel¬ leute wohl an unserm dortigen Truvpeubestcmd zu kürzen seien. Dazu das Drängen nach Zurückziehung der Truppe, womit allen andern Interessen gedient sein, würde, nur den deutschen nicht. Eine Beseitigung des Blitzableiters während eines heraufziehenden Gewitters! Immer wieder der Beweis politischer Unfähigkeit und Kurzsichtigkeit. Eine Beteiligung Chinas am Kriege würde wahrscheinlich zur Folge haben, daß China schließlich die Kosten zu tragen hätte. Rußland kann sich mit Japan beim Friedensschluß leicht über Korea verständigen, zumal da der Krieg, wie er auch enden möge, doch nur eine Etappe sein wird. China dagegen würde sich kaum um den Preis der Mandschurei loskaufen können, wobei dann für andre Mächte, namentlich für England, sofort die Frage des Gleichgewichts begönne. Einstweilen bleibt England in der angenehmen Lage, zur gegebnen Zeit, wenn beide Mächte erschöpft sein werden, und Japan am Ende seiner militärischen und finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen sein wird, seine guten Dienste sür die Friedensvermittlung anzubieten und dadurch wieder in die Stellung als arbitrs für Ostasien zu kommen, zugleich auch in die dankbare Position des tsi-tius ^^nasus. Rußland wäre dann Wohl kaum imstande, englischen Forderungen ernsten Widerspruch entgegen zu setzen, mit Frankreich würde das Londoner Kabinett sich zu verständigen wissen, und Deutschland hätte das Nachsehen, namentlich wenn der deutsche Reichstag fort und fort zu erkennen gibt, daß ihm die ostasiatischen wie überhaupt die über¬ seeischen Interessen gleichgiltig sind, und daß die deutsche Regierung hierin auf eine freudige und nachhaltige Unterstützung ihrer Volksvertretung nicht rechnen kann. Allerdings sind ja neuerdings fast alle Beschlüsse unsers Reichstags nur noch Minoritäts¬ beschlüsse, meist sogar einer minimalen Minorität, aber unsre Regierung pflegt ja nun einmal damit zu rechnen und diesen Beschlüssen eine Bedeutung zuzuerkennen, die ihnen verfassungsmäßig gar nicht beiwohnt und nicht zukommt. Denn Artikel 28 der deutschen Verfassung besagt: „Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmen- mehrheit. Zur Giltigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich." Somit wären die Verbündeten Regierungen berechtigt, eigentlich wohl verpflichtet, jeden Reichstagsbeschluß als ungiltig zu behandeln, der dieser Voraussetzung nicht entspricht. Die Möglichkeit, daß davon gelegentlich einmal Gebrauch gemacht werde, ist ja nicht ausgeschlossen, zunächst drängt sich theoretisch die Frage auf, ob man nicht auf diesem sehr ein¬ fachen Wege der chronischen Beschlußunfähigkeit des Reichstags abhelfen könnte. In Ostasien wird aber zur gegebnen Zeit noch eine ganz andre Macht auftreten: Amerika. Auch die Amerikaner sorgen vor. Sie schicken Schiffe nach Ostasien, Truppen nach den Philippinen und, was zunächst am bedeutsamsten ist, in größter Eile Konsule in die Mandschurei. Damit etablieren sie „ein Auge" auf dem Kriegsschauplatz. Der für Dalny bestimmte Konsul wird ja einstweilen in Schanghai bleiben, aber Amerika hat deutlich genug zu erkennen gegeben, daß ohne Mitwirkung des Washingtoner Kabinetts große Veränderungen an den asiatischen Gestaden des Stillen Ozeans nicht mehr stattfinden sollen. Es will dort zu ge¬ gebner Zeit die Vorherrschaft antreten, die ihm schon Goethe zuerkannt hat, und Rußland sieht sich unmittelbar seinem großen Zukunftskonkurrenten gegenüber, auf den der jetzige Zar einst als Thronfolger bei einem Besuche in Berlin hingewiesen hat. Um so bemerkenswerter ist die Mühe, die man sich in England bei der Regierung gibt, die öffentliche Meinung nicht gegen Rußland einnehmen zu lassen, Während die englische Presse Deutschland auf jede Weise bei den Russen zu dis¬ kreditieren sucht. England will freie Hand behalten, um je nach Bedarf Japan zu unterstützen, oder sich Rußland als Friedensstifter und Befreier aus großer Berlegen- Grenzboten I 1904 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/561>, abgerufen am 17.06.2024.