Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Chamberlains britische Reichspolitik einer starken Energie, mit der Chamberlain diese Dinge aus dem Kreise der dem Zunächst darf ich auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den An¬ Chamberlain, der früher den Vorschlag eines Neichszollvereins befürwortet Von allen englischen Staatsmännern ist Chamberlain offenbar zur Lösung Chamberlains britische Reichspolitik einer starken Energie, mit der Chamberlain diese Dinge aus dem Kreise der dem Zunächst darf ich auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den An¬ Chamberlain, der früher den Vorschlag eines Neichszollvereins befürwortet Von allen englischen Staatsmännern ist Chamberlain offenbar zur Lösung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294745"/> <fw type="header" place="top"> Chamberlains britische Reichspolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1407" prev="#ID_1406"> einer starken Energie, mit der Chamberlain diese Dinge aus dem Kreise der dem<lb/> Engländer genehmen pomadigen akademischen Erörterung in die Bahn der prak¬<lb/> tischen Politik hineinzureißen bemüht ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1408"> Zunächst darf ich auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den An¬<lb/> schauungen Balfours und Chamberlains hinweisen. Balfour hat die Erfahrung<lb/> aufgegriffen, daß England beim Freihandel gegenüber einer fest geschlossenen<lb/> Phalanx von Schutzzollstaaten keinerlei Waffen in der Hand hat, Handelver¬<lb/> träge abzuschließen, d. h. Zollnachlässe von den Schutzzolllündern zu er¬<lb/> halten. Er tritt deshalb für die Einführung von Schutzzöllen als Ver¬<lb/> handlungszöllen ein, die er wieder ermüßigen will, damit auch andre Länder<lb/> England gegenüber die Zölle herabsetzen. Zum zweiten sollen diese Zölle die<lb/> englische Industrie, nicht aber die Landwirtschaft schützen. Das ist ein sehr<lb/> bescheidnes Ziel, da Balfour das Problem des Verhältnisses zu den Kolonien<lb/> gar nicht behandelt. Anders Chamberlain.</p><lb/> <p xml:id="ID_1409"> Chamberlain, der früher den Vorschlag eines Neichszollvereins befürwortet<lb/> hatte, macht sich nunmehr die Gedanken der vnitöck Lmxirs 'Iracks I^sus<lb/> vollständig zu eigen; er will impörial rsoixrooir^, und dazu muß das Mutter¬<lb/> land einen ausgedehnten Schutzzoll schaffen, von dem auch Industrie und<lb/> Landwirtschaft Vorteil haben. Und so wie das Mutterland die Kolonien<lb/> durch Vorzugzölle begünstigt, sollen diese wiederum dem Mutterlande durch<lb/> niedrigere Zölle Vorteile einräumen. Auch Chamberlain stellt vorläufig die<lb/> Ziele eiuer politischen straffem Organisation des Reiches, wie sie die Iinperml<lb/> ?eäerMcm I^s-Aus will, etwas zurück, und wir werden nachher noch sehen,<lb/> warum er das tut. Während aber die Linpirs ^rg-as I-of-Aus bei einer<lb/> theoretischen Empfehlung dieses „Systems" der gegenseitigen Vorzugzölle stehn<lb/> geblieben war, schreitet Chamberlain sofort zur Praxis, und zwar in einer für<lb/> einen frühern Minister unerhörten und für die englische Regierung eigentlich<lb/> beschämenden Form. Er setzte einen Ausschuß ein, der augenblicklich an der<lb/> Arbeit ist, einen Zolltarif für England aufzustellen, der all die gewaltige Vor¬<lb/> bereitungsarbeit einer neuen Handelpolitik, die eigentlich der Regierung zufällt,<lb/> übernimmt, und wir werden abwarten müssen, was dabei zutage kommt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1410" next="#ID_1411"> Von allen englischen Staatsmännern ist Chamberlain offenbar zur Lösung<lb/> der Aufgabe, die er sich gestellt hat, am meisten berufen. Chamberlains Vater<lb/> war ein vermögender Schuhmacher in London, der allmählich zum Schuhfabri¬<lb/> kanten aufstieg. Chamberlain trat dann 1854 in eine Fabrik für hölzerne<lb/> Schrauben in Birmingham ein, die er mit dem Schwager seines Vaters so er¬<lb/> folgreich leitete, daß er sich 1874 mit einem genügenden eignen Vermögen von<lb/> dem Unternehmen zurückziehn konnte. Hier in Birmingham, in der typischen<lb/> Industriestadt konnte er, der aus dem väterlichen Hause eine liberale Gesinnung<lb/> mitgebracht hatte, diese Grundlage zu einer tiefen sozialen Bildung ausbauen.<lb/> Er erkannte hier die Schwächen des englischen Liberalismus und wurde radikal.<lb/> Er griff persönlich ein, um die Bildung seiner eignen Arbeiter zu heben durch<lb/> eine Abendschule, in der er selbst Unterricht erteilte. Er studierte die soziale<lb/> Gesetzgebung. Im politischen Leben trat er zuerst auf, als Gladstone und<lb/> Disraeli um die Reform des parlamentarischen Wahlrechts kämpften, und wenn</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Chamberlains britische Reichspolitik
einer starken Energie, mit der Chamberlain diese Dinge aus dem Kreise der dem
Engländer genehmen pomadigen akademischen Erörterung in die Bahn der prak¬
tischen Politik hineinzureißen bemüht ist.
Zunächst darf ich auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den An¬
schauungen Balfours und Chamberlains hinweisen. Balfour hat die Erfahrung
aufgegriffen, daß England beim Freihandel gegenüber einer fest geschlossenen
Phalanx von Schutzzollstaaten keinerlei Waffen in der Hand hat, Handelver¬
träge abzuschließen, d. h. Zollnachlässe von den Schutzzolllündern zu er¬
halten. Er tritt deshalb für die Einführung von Schutzzöllen als Ver¬
handlungszöllen ein, die er wieder ermüßigen will, damit auch andre Länder
England gegenüber die Zölle herabsetzen. Zum zweiten sollen diese Zölle die
englische Industrie, nicht aber die Landwirtschaft schützen. Das ist ein sehr
bescheidnes Ziel, da Balfour das Problem des Verhältnisses zu den Kolonien
gar nicht behandelt. Anders Chamberlain.
Chamberlain, der früher den Vorschlag eines Neichszollvereins befürwortet
hatte, macht sich nunmehr die Gedanken der vnitöck Lmxirs 'Iracks I^sus
vollständig zu eigen; er will impörial rsoixrooir^, und dazu muß das Mutter¬
land einen ausgedehnten Schutzzoll schaffen, von dem auch Industrie und
Landwirtschaft Vorteil haben. Und so wie das Mutterland die Kolonien
durch Vorzugzölle begünstigt, sollen diese wiederum dem Mutterlande durch
niedrigere Zölle Vorteile einräumen. Auch Chamberlain stellt vorläufig die
Ziele eiuer politischen straffem Organisation des Reiches, wie sie die Iinperml
?eäerMcm I^s-Aus will, etwas zurück, und wir werden nachher noch sehen,
warum er das tut. Während aber die Linpirs ^rg-as I-of-Aus bei einer
theoretischen Empfehlung dieses „Systems" der gegenseitigen Vorzugzölle stehn
geblieben war, schreitet Chamberlain sofort zur Praxis, und zwar in einer für
einen frühern Minister unerhörten und für die englische Regierung eigentlich
beschämenden Form. Er setzte einen Ausschuß ein, der augenblicklich an der
Arbeit ist, einen Zolltarif für England aufzustellen, der all die gewaltige Vor¬
bereitungsarbeit einer neuen Handelpolitik, die eigentlich der Regierung zufällt,
übernimmt, und wir werden abwarten müssen, was dabei zutage kommt.
Von allen englischen Staatsmännern ist Chamberlain offenbar zur Lösung
der Aufgabe, die er sich gestellt hat, am meisten berufen. Chamberlains Vater
war ein vermögender Schuhmacher in London, der allmählich zum Schuhfabri¬
kanten aufstieg. Chamberlain trat dann 1854 in eine Fabrik für hölzerne
Schrauben in Birmingham ein, die er mit dem Schwager seines Vaters so er¬
folgreich leitete, daß er sich 1874 mit einem genügenden eignen Vermögen von
dem Unternehmen zurückziehn konnte. Hier in Birmingham, in der typischen
Industriestadt konnte er, der aus dem väterlichen Hause eine liberale Gesinnung
mitgebracht hatte, diese Grundlage zu einer tiefen sozialen Bildung ausbauen.
Er erkannte hier die Schwächen des englischen Liberalismus und wurde radikal.
Er griff persönlich ein, um die Bildung seiner eignen Arbeiter zu heben durch
eine Abendschule, in der er selbst Unterricht erteilte. Er studierte die soziale
Gesetzgebung. Im politischen Leben trat er zuerst auf, als Gladstone und
Disraeli um die Reform des parlamentarischen Wahlrechts kämpften, und wenn
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