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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Sie christliche Mystik und die Religion der Zukunft

Naturerklärung den Krieg, behaupten, nicht der Geist müsse aus der Materie,
sondern die Natur müsse aus dem Selbstbewußtsein des Menschen erklärt
werden. Ähnliches hat ja bei uns auch Fechner versucht; Carpenter jedoch geht
so weit, die mechanistische Erklürungsweise nicht einmal im Gebiete der Körper¬
welt und auf diese beschränkt gelten zu lassen, er erklärt die Grundgesetze der
Physik und der Chemie für falsch.

Dieses Suchen nach der neuen Religion hat jetzt der Verlag von Eugen
Diederichs in Jena förmlich organisiert. Er zeigt Werke von Tolstoi, von
Willy Pastor, von dem unsern Lesern bekannten Neugnostiker Eugen Heinrich
Schmitt und andern unter dem Gesamttitel "Religiöse Kultur" an und schreibt:
"Will man von einer Weiterentwicklung der Religion reden, so kann sich der
moderne Mensch darunter nicht neue, fest formulierte Lehren vorstellen, sondern
"r verlegt in sein eignes Innere die Gesetze, die frühern Religionsformen einem
außerhalb der Erde wohnenden Gott zuschrieben. Gott stirbt und vergeht, sagt
Meister Eckehart, nur die Gottheit besteht." Dieses Meister Eckehart Schriften
gehören nun auch zu den unter jener Überschrift angezeigten Büchern: "Meister
Eckehcirts Schriften und Predigten aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und
herausgegeben von Hermann Büttner. Erster Band" (1903). Der Herausgeber, der
sich mit Begeisterung der schwierigen Arbeit gewidmet hat, das Echte vom Unechten
zu scheiden, aus einer Unzahl verdorbner Texte die vermutlich richtigste Lesart
herzustellen und sie dann möglichst ohne Einbuße an ihrer ursprünglichen
Schönheit und Kraft in unsrer heutigen Sprache wiederzugeben, stellt in der
Einleitung die Lehre Eckeharts dar als eine Erneuerung der Religion Jesu,
deren Wesen das Bewußtsein der Seele von ihrer Einheit mit dem Weltgrunde sei.
Zugleich hat Gustav Landauer "Meister Eckharts mystische Schriften"
in unsre Sprache übertragen (Berlin, Karl Schnabel, 1903). Im Vorwort
schreibt er: "Mit der Freiheit, die Liebe und Verehrung gibt, habe ich alles
weggelassen, was uns nichts sagt. Meister Eckhart ist zu gut für historische
Würdigung; er muß als Lebendiger auferstehn . . . Das allermeiste, was von
ihm überliefert ist, ist für uns völlig wertlos geworden, da es nur logisches
Wortgetiftel ist, das damals die Naturwissenschaft ersetzen mußte." Wie Büttner
nennt auch Landauer den großen Prediger den Schöpfer der deutschen wissen¬
schaftlichen Prosa. Um den Lesern ein selbständiges Urteil darüber zu ermög¬
lichen, ob und wie weit uns dieser Mystiker bei unsern Versuchen einer Fort¬
bildung der Religion helfen könne, wollen wir aus beiden Ausgaben einige
Stellen anführen, von denen wir glauben, daß sie das Wesentliche seiner Lehre

enthalten.

(Fortsetzung folgt)




Sie christliche Mystik und die Religion der Zukunft

Naturerklärung den Krieg, behaupten, nicht der Geist müsse aus der Materie,
sondern die Natur müsse aus dem Selbstbewußtsein des Menschen erklärt
werden. Ähnliches hat ja bei uns auch Fechner versucht; Carpenter jedoch geht
so weit, die mechanistische Erklürungsweise nicht einmal im Gebiete der Körper¬
welt und auf diese beschränkt gelten zu lassen, er erklärt die Grundgesetze der
Physik und der Chemie für falsch.

Dieses Suchen nach der neuen Religion hat jetzt der Verlag von Eugen
Diederichs in Jena förmlich organisiert. Er zeigt Werke von Tolstoi, von
Willy Pastor, von dem unsern Lesern bekannten Neugnostiker Eugen Heinrich
Schmitt und andern unter dem Gesamttitel „Religiöse Kultur" an und schreibt:
„Will man von einer Weiterentwicklung der Religion reden, so kann sich der
moderne Mensch darunter nicht neue, fest formulierte Lehren vorstellen, sondern
«r verlegt in sein eignes Innere die Gesetze, die frühern Religionsformen einem
außerhalb der Erde wohnenden Gott zuschrieben. Gott stirbt und vergeht, sagt
Meister Eckehart, nur die Gottheit besteht." Dieses Meister Eckehart Schriften
gehören nun auch zu den unter jener Überschrift angezeigten Büchern: „Meister
Eckehcirts Schriften und Predigten aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und
herausgegeben von Hermann Büttner. Erster Band" (1903). Der Herausgeber, der
sich mit Begeisterung der schwierigen Arbeit gewidmet hat, das Echte vom Unechten
zu scheiden, aus einer Unzahl verdorbner Texte die vermutlich richtigste Lesart
herzustellen und sie dann möglichst ohne Einbuße an ihrer ursprünglichen
Schönheit und Kraft in unsrer heutigen Sprache wiederzugeben, stellt in der
Einleitung die Lehre Eckeharts dar als eine Erneuerung der Religion Jesu,
deren Wesen das Bewußtsein der Seele von ihrer Einheit mit dem Weltgrunde sei.
Zugleich hat Gustav Landauer „Meister Eckharts mystische Schriften"
in unsre Sprache übertragen (Berlin, Karl Schnabel, 1903). Im Vorwort
schreibt er: „Mit der Freiheit, die Liebe und Verehrung gibt, habe ich alles
weggelassen, was uns nichts sagt. Meister Eckhart ist zu gut für historische
Würdigung; er muß als Lebendiger auferstehn . . . Das allermeiste, was von
ihm überliefert ist, ist für uns völlig wertlos geworden, da es nur logisches
Wortgetiftel ist, das damals die Naturwissenschaft ersetzen mußte." Wie Büttner
nennt auch Landauer den großen Prediger den Schöpfer der deutschen wissen¬
schaftlichen Prosa. Um den Lesern ein selbständiges Urteil darüber zu ermög¬
lichen, ob und wie weit uns dieser Mystiker bei unsern Versuchen einer Fort¬
bildung der Religion helfen könne, wollen wir aus beiden Ausgaben einige
Stellen anführen, von denen wir glauben, daß sie das Wesentliche seiner Lehre

enthalten.

(Fortsetzung folgt)




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[0409] Sie christliche Mystik und die Religion der Zukunft Naturerklärung den Krieg, behaupten, nicht der Geist müsse aus der Materie, sondern die Natur müsse aus dem Selbstbewußtsein des Menschen erklärt werden. Ähnliches hat ja bei uns auch Fechner versucht; Carpenter jedoch geht so weit, die mechanistische Erklürungsweise nicht einmal im Gebiete der Körper¬ welt und auf diese beschränkt gelten zu lassen, er erklärt die Grundgesetze der Physik und der Chemie für falsch. Dieses Suchen nach der neuen Religion hat jetzt der Verlag von Eugen Diederichs in Jena förmlich organisiert. Er zeigt Werke von Tolstoi, von Willy Pastor, von dem unsern Lesern bekannten Neugnostiker Eugen Heinrich Schmitt und andern unter dem Gesamttitel „Religiöse Kultur" an und schreibt: „Will man von einer Weiterentwicklung der Religion reden, so kann sich der moderne Mensch darunter nicht neue, fest formulierte Lehren vorstellen, sondern «r verlegt in sein eignes Innere die Gesetze, die frühern Religionsformen einem außerhalb der Erde wohnenden Gott zuschrieben. Gott stirbt und vergeht, sagt Meister Eckehart, nur die Gottheit besteht." Dieses Meister Eckehart Schriften gehören nun auch zu den unter jener Überschrift angezeigten Büchern: „Meister Eckehcirts Schriften und Predigten aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und herausgegeben von Hermann Büttner. Erster Band" (1903). Der Herausgeber, der sich mit Begeisterung der schwierigen Arbeit gewidmet hat, das Echte vom Unechten zu scheiden, aus einer Unzahl verdorbner Texte die vermutlich richtigste Lesart herzustellen und sie dann möglichst ohne Einbuße an ihrer ursprünglichen Schönheit und Kraft in unsrer heutigen Sprache wiederzugeben, stellt in der Einleitung die Lehre Eckeharts dar als eine Erneuerung der Religion Jesu, deren Wesen das Bewußtsein der Seele von ihrer Einheit mit dem Weltgrunde sei. Zugleich hat Gustav Landauer „Meister Eckharts mystische Schriften" in unsre Sprache übertragen (Berlin, Karl Schnabel, 1903). Im Vorwort schreibt er: „Mit der Freiheit, die Liebe und Verehrung gibt, habe ich alles weggelassen, was uns nichts sagt. Meister Eckhart ist zu gut für historische Würdigung; er muß als Lebendiger auferstehn . . . Das allermeiste, was von ihm überliefert ist, ist für uns völlig wertlos geworden, da es nur logisches Wortgetiftel ist, das damals die Naturwissenschaft ersetzen mußte." Wie Büttner nennt auch Landauer den großen Prediger den Schöpfer der deutschen wissen¬ schaftlichen Prosa. Um den Lesern ein selbständiges Urteil darüber zu ermög¬ lichen, ob und wie weit uns dieser Mystiker bei unsern Versuchen einer Fort¬ bildung der Religion helfen könne, wollen wir aus beiden Ausgaben einige Stellen anführen, von denen wir glauben, daß sie das Wesentliche seiner Lehre enthalten. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/409>, abgerufen am 13.05.2024.