Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners wohl kaum über eine andre Standes- oder Berufssprache so gut unterrichtet sind Eine eigne, wichtige Gruppe der spätern rotwelscheu Literatur in Deutschland Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners wohl kaum über eine andre Standes- oder Berufssprache so gut unterrichtet sind Eine eigne, wichtige Gruppe der spätern rotwelscheu Literatur in Deutschland <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294463"/> <fw type="header" place="top"> Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners</fw><lb/> <p xml:id="ID_123" prev="#ID_122"> wohl kaum über eine andre Standes- oder Berufssprache so gut unterrichtet sind<lb/> wie über das Rotwelsch, daß aber freilich auch die einzelnen Quellen oft recht un¬<lb/> gleichen Wert haben. Schon der Zeit nach liegen sie weit auseinander; denn während<lb/> die ältesten Nachrichten etwa aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts stammen,<lb/> sind die neusten Arbeiten erst in den allerletzten Jahren erschienen. Nicht weniger<lb/> verschieden ist das räumliche Gebiet, da hierfür keineswegs etwa bloß die oben<lb/> speziell angeführten „Räuberländer" im Süden und im Westen Deutschlands, sondern<lb/> — wenngleich seltner — auch der Norden (z. B. Schleswig-Holstein) und der<lb/> Osten (z. B. Schlesien) in Betracht kommen. Vollends aber sachlich gehören die<lb/> einzelnen Werke den mannigfachsten Wissenszweigen an. In dieser Beziehung kaun<lb/> man sie im wesentlichen in zwei Hauptklassen sondern, je nachdem sie über die<lb/> Gaunersprache nur gelegentlich, bei der Behandlung irgend eines andern Themas,<lb/> einigen, oft ganz unerwarteten Aufschluß geben oder diese mehr oder weniger selb¬<lb/> ständig behandeln, sei es in besondern Abschnitten, als „Anhang" zu andern Ab¬<lb/> handlungen oder gar in eignen Wörtersammlungen. Zu der ersten Klasse gehören<lb/> nicht nur theologische, grammatisch-linguistische, juristische und statistische, geschichtliche<lb/> und geographische Schriften, sondern — namentlich in älterer Zeit — mich poetische<lb/> Erzeugnisse, wie zum Beispiel Sebastian Brants bekanntes „Narrenschiff" (1494),<lb/> die sogenannten Schelmenromane, nach Art von Grimmelshausens „Simplicius<lb/> Simplicissimus" (1669), ja sogar vereinzelte dramatische Werke. An der Spitze der<lb/> zweiten Klasse steht der schon erwähnte I^iboi- Va^toium oder „Der Better Orden,"<lb/> der an dieser Stelle noch einmal zu nennen ist als die Hauptquelle auch des ältern<lb/> Rotwelsch, über das sein dritter Teil ein schon ziemlich reichhaltiges, alphabetisch<lb/> geordnetes Vokabular enthält. Während man die Abfassungszeit dieses berühmten<lb/> Werkes — ans hier nicht näher darzulegenden Gründen — auf das Jahr 1510<lb/> ansetzen darf, ist die Aufgabe, seinen Verfasser (der höchstwahrscheinlich ein Ge¬<lb/> lehrter gewesen ist) zu ermitteln, nach wie vor als „unlösbar" zu bezeichnen<lb/> (Kluge). Fest steht dagegen eine nahe Verwandtschaft des I^ibsr V^eorum zu<lb/> einer noch ältern, früher meist fälschlich als „Ratsmandat" bezeichneten Baseler<lb/> Urkunde (den sogenannten „Betrügnissen der Gyler" um 1450). Wie hoch schon<lb/> die Zeitgenossen die Arbeit schätzte», beweist wohl am deutlichsten die Tatsache,<lb/> daß kein Geringerer als Martin Luther sie im Jahre 1528 unter dem Titel<lb/> „Von der falschen Bettlerbüberey" neu herausgegeben und mit einer Vorrede<lb/> ausgestattet hat, wodurch auch das Interesse der protestantischen Theologen für das<lb/> Buch geweckt worden ist, das seitdem nie ganz erloschen ist. In der Folgezeit knüpfen<lb/> fast alle Arbeiten über Rotwelsch zunächst mehr oder weniger an dieses swuäarä<lb/> >porte über Gaunersprache an, das bald in zahllosen Ausgaben verbreitet, schon<lb/> von dem Baseler Dichter und Drucker Pamphilns Gengenbach in Verse gebracht,<lb/> in andre deutsche Dialekte (niederdeutsch, Niederrheinisch) übertragen und sogar in<lb/> fremde Sprachen (Holländisch, Englisch usw.) übersetzt wurde; ja manche Arbeiten,<lb/> wie zum Beispiel die unter dem Namen „Rotwelsche Grammatik" bis ins achtzehnte<lb/> Jahrhundert hinein (zuletzt 1755) erschienenen Bücher stellen sich bei näherer Be¬<lb/> trachtung nur als — nicht gerade mit sehr glücklicher Hand vorgenommne — Er¬<lb/> weiterungen des 1>idoi- Vass-i-eorum dar.</p><lb/> <p xml:id="ID_124" next="#ID_125"> Eine eigne, wichtige Gruppe der spätern rotwelscheu Literatur in Deutschland<lb/> sind noch die nach Akten bearbeiteten Schilderungen des Treibens hervorragender<lb/> einzelner Ganner oder ganzer Diebes- und Räuberbanden, die etwa seit der Mitte<lb/> des achtzehnten Jahrhunderts unter Titeln wie „Gründliche, ausführliche, akkurate,<lb/> aktenmäßige Relation, Spezifikation, Designntion, Nachricht, Beschreibung" usw. in<lb/> großer Menge erschienen sind und als Anhang zuweilen ganze Vokabularien des<lb/> Rotwelsch enthalten. Besonders wertvoll aber sind die im amtlichen Auftrage, von<lb/> Behörde,: veröffentlichten Wörterbücher, namentlich wenn sie auf direkten Mitteilungen<lb/> aus Gauuermuude beruhen, wie zum Beispiel das vom badischen Bezirksamte zu Pfullen-<lb/> dorf 1820 zu Karlsruhe herausgegebne „Jammer-Wörterbuch." Ihre Bedeutung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners
wohl kaum über eine andre Standes- oder Berufssprache so gut unterrichtet sind
wie über das Rotwelsch, daß aber freilich auch die einzelnen Quellen oft recht un¬
gleichen Wert haben. Schon der Zeit nach liegen sie weit auseinander; denn während
die ältesten Nachrichten etwa aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts stammen,
sind die neusten Arbeiten erst in den allerletzten Jahren erschienen. Nicht weniger
verschieden ist das räumliche Gebiet, da hierfür keineswegs etwa bloß die oben
speziell angeführten „Räuberländer" im Süden und im Westen Deutschlands, sondern
— wenngleich seltner — auch der Norden (z. B. Schleswig-Holstein) und der
Osten (z. B. Schlesien) in Betracht kommen. Vollends aber sachlich gehören die
einzelnen Werke den mannigfachsten Wissenszweigen an. In dieser Beziehung kaun
man sie im wesentlichen in zwei Hauptklassen sondern, je nachdem sie über die
Gaunersprache nur gelegentlich, bei der Behandlung irgend eines andern Themas,
einigen, oft ganz unerwarteten Aufschluß geben oder diese mehr oder weniger selb¬
ständig behandeln, sei es in besondern Abschnitten, als „Anhang" zu andern Ab¬
handlungen oder gar in eignen Wörtersammlungen. Zu der ersten Klasse gehören
nicht nur theologische, grammatisch-linguistische, juristische und statistische, geschichtliche
und geographische Schriften, sondern — namentlich in älterer Zeit — mich poetische
Erzeugnisse, wie zum Beispiel Sebastian Brants bekanntes „Narrenschiff" (1494),
die sogenannten Schelmenromane, nach Art von Grimmelshausens „Simplicius
Simplicissimus" (1669), ja sogar vereinzelte dramatische Werke. An der Spitze der
zweiten Klasse steht der schon erwähnte I^iboi- Va^toium oder „Der Better Orden,"
der an dieser Stelle noch einmal zu nennen ist als die Hauptquelle auch des ältern
Rotwelsch, über das sein dritter Teil ein schon ziemlich reichhaltiges, alphabetisch
geordnetes Vokabular enthält. Während man die Abfassungszeit dieses berühmten
Werkes — ans hier nicht näher darzulegenden Gründen — auf das Jahr 1510
ansetzen darf, ist die Aufgabe, seinen Verfasser (der höchstwahrscheinlich ein Ge¬
lehrter gewesen ist) zu ermitteln, nach wie vor als „unlösbar" zu bezeichnen
(Kluge). Fest steht dagegen eine nahe Verwandtschaft des I^ibsr V^eorum zu
einer noch ältern, früher meist fälschlich als „Ratsmandat" bezeichneten Baseler
Urkunde (den sogenannten „Betrügnissen der Gyler" um 1450). Wie hoch schon
die Zeitgenossen die Arbeit schätzte», beweist wohl am deutlichsten die Tatsache,
daß kein Geringerer als Martin Luther sie im Jahre 1528 unter dem Titel
„Von der falschen Bettlerbüberey" neu herausgegeben und mit einer Vorrede
ausgestattet hat, wodurch auch das Interesse der protestantischen Theologen für das
Buch geweckt worden ist, das seitdem nie ganz erloschen ist. In der Folgezeit knüpfen
fast alle Arbeiten über Rotwelsch zunächst mehr oder weniger an dieses swuäarä
>porte über Gaunersprache an, das bald in zahllosen Ausgaben verbreitet, schon
von dem Baseler Dichter und Drucker Pamphilns Gengenbach in Verse gebracht,
in andre deutsche Dialekte (niederdeutsch, Niederrheinisch) übertragen und sogar in
fremde Sprachen (Holländisch, Englisch usw.) übersetzt wurde; ja manche Arbeiten,
wie zum Beispiel die unter dem Namen „Rotwelsche Grammatik" bis ins achtzehnte
Jahrhundert hinein (zuletzt 1755) erschienenen Bücher stellen sich bei näherer Be¬
trachtung nur als — nicht gerade mit sehr glücklicher Hand vorgenommne — Er¬
weiterungen des 1>idoi- Vass-i-eorum dar.
Eine eigne, wichtige Gruppe der spätern rotwelscheu Literatur in Deutschland
sind noch die nach Akten bearbeiteten Schilderungen des Treibens hervorragender
einzelner Ganner oder ganzer Diebes- und Räuberbanden, die etwa seit der Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts unter Titeln wie „Gründliche, ausführliche, akkurate,
aktenmäßige Relation, Spezifikation, Designntion, Nachricht, Beschreibung" usw. in
großer Menge erschienen sind und als Anhang zuweilen ganze Vokabularien des
Rotwelsch enthalten. Besonders wertvoll aber sind die im amtlichen Auftrage, von
Behörde,: veröffentlichten Wörterbücher, namentlich wenn sie auf direkten Mitteilungen
aus Gauuermuude beruhen, wie zum Beispiel das vom badischen Bezirksamte zu Pfullen-
dorf 1820 zu Karlsruhe herausgegebne „Jammer-Wörterbuch." Ihre Bedeutung
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