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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

in Vergessenheit geratnen Gegenstand hingewiesen hat, hat der bekannte Freiburger
Germanist Friedrich Kluge in ähnlicher Weise auf seine Berufsgenossen eingewirkt.
Im Jahre 1901 hat dieser Sprachforscher, angeregt durch seine Studien über
die Standessprachen, insbesondre die deutsche Studentensprache (Straßburg, 1895),
ein großes Werk über "Rotwelsch" in Angriff genommen, von dem bisher jedoch
nur der erste Band -- enthaltend einen Abdruck der wichtigsten Quellen in
chronologischer Folge -- vorliegt.*) Die Ausgabe des wichtigen zweiten Teils,
der --- unter Beihilfe der Professoren Euting in Straßburg und Pischel in
Berlin -- das eigentliche Wörterbuch sowie eine Einleitung über Bau und Ge¬
schichte der deutscheu Geheimsprachen bringen soll, wird infolge eines Augenleidens
des perdienten Gelehrten leider wohl Vor Ablauf eines längern Zeitraums noch
nicht zu erwarten sein.

Einige allgemeine Bemerkungen erheischt noch die Frage nach dem Entstehungs¬
gründe der Gaunersprache. Keiner der ältern Schriftsteller hat je im mindesten
daran gezweifelt, daß die Ganner ihre Sprache zu dem Zweck "erfunden" haben,
sich ihrer untereinander als geheimen, allen Nichteingeweihten unzugänglichen Ver¬
ständigungsmittels zu bedienen^ ja man hat sogar ausdrücklich auf den Unterschied
einer solchen künstlich "gemachten" oder "konventionellen" Sprache von einer "natur¬
gemäß gewordnen" hingewiesen (Pott). Erst infolge der Lombrososchen Lehre,
die deur "gebornen Verbrecher" nicht nur besondre körperliche, sondern auch psychische
Eigenheiten zuschreibt, scheint man darauf verfallen zu sein, die Gaunersprache für
ein naturnotwendiges Erzeugnis einer bestimmten Menschenklasse auszugeben, eine
Ansicht, die neuerdings namentlich auch Hanns Groß vertritt, obgleich er sonst durch¬
aus nicht zu den strikten Anhängern Lombrosos gehört.

Das Richtige scheint mir auch bei dieser Streitfrage -- wie so oft -- in der
Mitte zu liegen. Daran wird man allerdings zunächst wohl festhalten müssen, daß
die Gaunersprache ihren Ursprung hauptsächlich dem erwähnten praktischen Zwecke der
Geheimhaltung bestimmter Mitteilungen vor andern Menschen verdankt. Daß sich
dann aber diese Geheimsprache gerade so entwickelt hat, wie wir sie heute vor
uns sehen, das hängt natürlich mit den besondern Anschauungen, mit dem ganzen
Wesen und Geiste des Gaunertums zusammen. Richtig bemerkt Lombroso (I^'uowo
ciölincluontö, deutsche Bearbeitung von M. O. Frnenkel, Hamburg 1887, S. 393),
daß wir "fast in allen Ständen und Gewerben spezielle und technische Ausdrücke"
finden, "die den andern Kreisen mehr oder minder fremd und unverständlich sind, . . .
eigentümliche Jdeenassozicitionen," die sich nur aus dem besondern Beruf erklären
lasse". Wenn zum Beispiel ein Arzt die Liebe "eine Herzkrankheit" nenne oder
ein Apotheker sage, "seine Liebe sei auf vierzig Grad gestiegen," so sei das eine
Ausdrucksweise, ans die andre Berufe uicht leicht verfallen würden. Ähnliches
aber finden wir auch in der Gaunersprache. Umschreibungen wie etwa "Galgen¬
posamentier" für den Seiler, "schwarzer Gendarm" für den Pfarrer, "Polizei¬
finger" oder "Galgennägel" für gelbe Rüben erscheinen uns im Munde von
Gaunern und Vagabunden nicht allzu befremdlich, da im Leben dieser Leute Galgen,
Polizei und Gendarmen eben eine sehr hervorragende Rolle spielen. Daher erklärt
sich denn auch der überraschende Reichtum des Rotwelsch an Synonymen gerade
für die strafverfolgenden Behörden und die Strafen, dann aber natürlich auch für
die Delikte der Gauner (Betteln, Stehlen, Rauben, Betrügen usw.), für die dabei
etwa gebrauchten Werkzeuge oder Waffen, sowie für die sinnlichen Genüsse und
Zerstreuungen, die sie sich mit Hilfe des zu erbeutenden Geldes zu verschaffen hoffen,
wie gutes Essen und Trinken, bequemes Schlafen, Karten- und Würfelspiel, Tanzen
und sonstigen Verkehr mit dem andern Geschlechte, kurz ein angenehmes und ver¬
gnügtes Leben in den Wirtshäusern. Denn nur auf solche äußerliche, reale, konkrete



*) Fr. Kluge, Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der ver¬
wandten Geheimsprachen. I: Rotwelsches Quellenbuch. Strajzburg, Karl I. Trübner, 1901.
XVI u. 495 S.
Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

in Vergessenheit geratnen Gegenstand hingewiesen hat, hat der bekannte Freiburger
Germanist Friedrich Kluge in ähnlicher Weise auf seine Berufsgenossen eingewirkt.
Im Jahre 1901 hat dieser Sprachforscher, angeregt durch seine Studien über
die Standessprachen, insbesondre die deutsche Studentensprache (Straßburg, 1895),
ein großes Werk über „Rotwelsch" in Angriff genommen, von dem bisher jedoch
nur der erste Band — enthaltend einen Abdruck der wichtigsten Quellen in
chronologischer Folge — vorliegt.*) Die Ausgabe des wichtigen zweiten Teils,
der —- unter Beihilfe der Professoren Euting in Straßburg und Pischel in
Berlin — das eigentliche Wörterbuch sowie eine Einleitung über Bau und Ge¬
schichte der deutscheu Geheimsprachen bringen soll, wird infolge eines Augenleidens
des perdienten Gelehrten leider wohl Vor Ablauf eines längern Zeitraums noch
nicht zu erwarten sein.

Einige allgemeine Bemerkungen erheischt noch die Frage nach dem Entstehungs¬
gründe der Gaunersprache. Keiner der ältern Schriftsteller hat je im mindesten
daran gezweifelt, daß die Ganner ihre Sprache zu dem Zweck „erfunden" haben,
sich ihrer untereinander als geheimen, allen Nichteingeweihten unzugänglichen Ver¬
ständigungsmittels zu bedienen^ ja man hat sogar ausdrücklich auf den Unterschied
einer solchen künstlich „gemachten" oder „konventionellen" Sprache von einer „natur¬
gemäß gewordnen" hingewiesen (Pott). Erst infolge der Lombrososchen Lehre,
die deur „gebornen Verbrecher" nicht nur besondre körperliche, sondern auch psychische
Eigenheiten zuschreibt, scheint man darauf verfallen zu sein, die Gaunersprache für
ein naturnotwendiges Erzeugnis einer bestimmten Menschenklasse auszugeben, eine
Ansicht, die neuerdings namentlich auch Hanns Groß vertritt, obgleich er sonst durch¬
aus nicht zu den strikten Anhängern Lombrosos gehört.

Das Richtige scheint mir auch bei dieser Streitfrage — wie so oft — in der
Mitte zu liegen. Daran wird man allerdings zunächst wohl festhalten müssen, daß
die Gaunersprache ihren Ursprung hauptsächlich dem erwähnten praktischen Zwecke der
Geheimhaltung bestimmter Mitteilungen vor andern Menschen verdankt. Daß sich
dann aber diese Geheimsprache gerade so entwickelt hat, wie wir sie heute vor
uns sehen, das hängt natürlich mit den besondern Anschauungen, mit dem ganzen
Wesen und Geiste des Gaunertums zusammen. Richtig bemerkt Lombroso (I^'uowo
ciölincluontö, deutsche Bearbeitung von M. O. Frnenkel, Hamburg 1887, S. 393),
daß wir „fast in allen Ständen und Gewerben spezielle und technische Ausdrücke"
finden, „die den andern Kreisen mehr oder minder fremd und unverständlich sind, . . .
eigentümliche Jdeenassozicitionen," die sich nur aus dem besondern Beruf erklären
lasse». Wenn zum Beispiel ein Arzt die Liebe „eine Herzkrankheit" nenne oder
ein Apotheker sage, „seine Liebe sei auf vierzig Grad gestiegen," so sei das eine
Ausdrucksweise, ans die andre Berufe uicht leicht verfallen würden. Ähnliches
aber finden wir auch in der Gaunersprache. Umschreibungen wie etwa „Galgen¬
posamentier" für den Seiler, „schwarzer Gendarm" für den Pfarrer, „Polizei¬
finger" oder „Galgennägel" für gelbe Rüben erscheinen uns im Munde von
Gaunern und Vagabunden nicht allzu befremdlich, da im Leben dieser Leute Galgen,
Polizei und Gendarmen eben eine sehr hervorragende Rolle spielen. Daher erklärt
sich denn auch der überraschende Reichtum des Rotwelsch an Synonymen gerade
für die strafverfolgenden Behörden und die Strafen, dann aber natürlich auch für
die Delikte der Gauner (Betteln, Stehlen, Rauben, Betrügen usw.), für die dabei
etwa gebrauchten Werkzeuge oder Waffen, sowie für die sinnlichen Genüsse und
Zerstreuungen, die sie sich mit Hilfe des zu erbeutenden Geldes zu verschaffen hoffen,
wie gutes Essen und Trinken, bequemes Schlafen, Karten- und Würfelspiel, Tanzen
und sonstigen Verkehr mit dem andern Geschlechte, kurz ein angenehmes und ver¬
gnügtes Leben in den Wirtshäusern. Denn nur auf solche äußerliche, reale, konkrete



*) Fr. Kluge, Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der ver¬
wandten Geheimsprachen. I: Rotwelsches Quellenbuch. Strajzburg, Karl I. Trübner, 1901.
XVI u. 495 S.
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[0048] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners in Vergessenheit geratnen Gegenstand hingewiesen hat, hat der bekannte Freiburger Germanist Friedrich Kluge in ähnlicher Weise auf seine Berufsgenossen eingewirkt. Im Jahre 1901 hat dieser Sprachforscher, angeregt durch seine Studien über die Standessprachen, insbesondre die deutsche Studentensprache (Straßburg, 1895), ein großes Werk über „Rotwelsch" in Angriff genommen, von dem bisher jedoch nur der erste Band — enthaltend einen Abdruck der wichtigsten Quellen in chronologischer Folge — vorliegt.*) Die Ausgabe des wichtigen zweiten Teils, der —- unter Beihilfe der Professoren Euting in Straßburg und Pischel in Berlin — das eigentliche Wörterbuch sowie eine Einleitung über Bau und Ge¬ schichte der deutscheu Geheimsprachen bringen soll, wird infolge eines Augenleidens des perdienten Gelehrten leider wohl Vor Ablauf eines längern Zeitraums noch nicht zu erwarten sein. Einige allgemeine Bemerkungen erheischt noch die Frage nach dem Entstehungs¬ gründe der Gaunersprache. Keiner der ältern Schriftsteller hat je im mindesten daran gezweifelt, daß die Ganner ihre Sprache zu dem Zweck „erfunden" haben, sich ihrer untereinander als geheimen, allen Nichteingeweihten unzugänglichen Ver¬ ständigungsmittels zu bedienen^ ja man hat sogar ausdrücklich auf den Unterschied einer solchen künstlich „gemachten" oder „konventionellen" Sprache von einer „natur¬ gemäß gewordnen" hingewiesen (Pott). Erst infolge der Lombrososchen Lehre, die deur „gebornen Verbrecher" nicht nur besondre körperliche, sondern auch psychische Eigenheiten zuschreibt, scheint man darauf verfallen zu sein, die Gaunersprache für ein naturnotwendiges Erzeugnis einer bestimmten Menschenklasse auszugeben, eine Ansicht, die neuerdings namentlich auch Hanns Groß vertritt, obgleich er sonst durch¬ aus nicht zu den strikten Anhängern Lombrosos gehört. Das Richtige scheint mir auch bei dieser Streitfrage — wie so oft — in der Mitte zu liegen. Daran wird man allerdings zunächst wohl festhalten müssen, daß die Gaunersprache ihren Ursprung hauptsächlich dem erwähnten praktischen Zwecke der Geheimhaltung bestimmter Mitteilungen vor andern Menschen verdankt. Daß sich dann aber diese Geheimsprache gerade so entwickelt hat, wie wir sie heute vor uns sehen, das hängt natürlich mit den besondern Anschauungen, mit dem ganzen Wesen und Geiste des Gaunertums zusammen. Richtig bemerkt Lombroso (I^'uowo ciölincluontö, deutsche Bearbeitung von M. O. Frnenkel, Hamburg 1887, S. 393), daß wir „fast in allen Ständen und Gewerben spezielle und technische Ausdrücke" finden, „die den andern Kreisen mehr oder minder fremd und unverständlich sind, . . . eigentümliche Jdeenassozicitionen," die sich nur aus dem besondern Beruf erklären lasse». Wenn zum Beispiel ein Arzt die Liebe „eine Herzkrankheit" nenne oder ein Apotheker sage, „seine Liebe sei auf vierzig Grad gestiegen," so sei das eine Ausdrucksweise, ans die andre Berufe uicht leicht verfallen würden. Ähnliches aber finden wir auch in der Gaunersprache. Umschreibungen wie etwa „Galgen¬ posamentier" für den Seiler, „schwarzer Gendarm" für den Pfarrer, „Polizei¬ finger" oder „Galgennägel" für gelbe Rüben erscheinen uns im Munde von Gaunern und Vagabunden nicht allzu befremdlich, da im Leben dieser Leute Galgen, Polizei und Gendarmen eben eine sehr hervorragende Rolle spielen. Daher erklärt sich denn auch der überraschende Reichtum des Rotwelsch an Synonymen gerade für die strafverfolgenden Behörden und die Strafen, dann aber natürlich auch für die Delikte der Gauner (Betteln, Stehlen, Rauben, Betrügen usw.), für die dabei etwa gebrauchten Werkzeuge oder Waffen, sowie für die sinnlichen Genüsse und Zerstreuungen, die sie sich mit Hilfe des zu erbeutenden Geldes zu verschaffen hoffen, wie gutes Essen und Trinken, bequemes Schlafen, Karten- und Würfelspiel, Tanzen und sonstigen Verkehr mit dem andern Geschlechte, kurz ein angenehmes und ver¬ gnügtes Leben in den Wirtshäusern. Denn nur auf solche äußerliche, reale, konkrete *) Fr. Kluge, Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der ver¬ wandten Geheimsprachen. I: Rotwelsches Quellenbuch. Strajzburg, Karl I. Trübner, 1901. XVI u. 495 S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/48>, abgerufen am 13.05.2024.