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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Gräfin Susann"

Und nun werde ich Ihnen das nennte Weltwunder zeigen, wenn Sie mit¬
kommen wollen, versprach sie.

Sie führte ihn durch einen langen, breiten Weg, der auf beiden Seiten von
leuchtenden Hortensien in voller Blüte eingefaßt wurde, die in allen Farben des
Regenbogens prangten.

Das neunte Wunder der Welt geht neben mir, dachte er, wahrend sie die
herrlichen Schattierungen der blühenden Hortensien bewunderte. Der Weg führte
auf eine Rosenlande zu, in der Gnrtenstühle und ein Tisch standen.

Wollen mir uus hier ein wenig setzen? fragte Susanna.

Sie legte ihren Sonnenschirm auf deu Tisch, und sie machten es sich unter
dem duftigen Rvsendach bequem. Auf dem Tisch stand eine chinesische Vase, rot
und golden, mit einem Deckel, der Drachenhenkel hatte.

Gelegenheit ist alles -- auf die kommt alles an, dachte Anthony, aber wie
erkennen, ob eine Gelegenheit die richtige ist -- darin liegt die Schwierigkeit!
Ob dies wohl meine Gelegenheit ist?

Er sah sie an, und sein Herz klopfte und hielt ihn zurück.

Wie herrlich die Rosen duften! rief Susanna. Wie sie das wohl machen?
Ein Büschel Sonnenstrahlen, ein paar Tautropfen, eine Handvoll brauner Erde,
und aus diese" Zutaten destillieren sie diesen himmlischen Duft!

Sie sprach leise, als fürchtete sie, belauscht zu werden.

Anthony sah sich um.

Noch vor einem Augenblick war nirgends ein Vogel zu sehen gewesen, obgleich
die Luft von Vogelsang erfüllt war. Nun aber tauchten auf dem zur Laube
führenden Wege wenigstens zwanzig Vögel auf -- drei oder vier Spatzen, ein
Pärchen Buchfinken und sonst lauter Grünfinken. Sie lugten alle erwartungsvoll
nach der Laube, hüpften auf sie zu, dann wieder zurück und wieder vorwärts und
kamen allmählich näher, immer näher.

Susanna nahm mit einer vorsichtigen Bewegung den Deckel mit den Drachen-
Henkeln von der Vase. Sie war ganz mit Vogelfutter gefüllt.

Aha, ich verstehe, sagte Anthony, Kostgänger! Aber haben Sie auch bedacht,
daß es die Arbeitsfähigen zu Bettlern macht, wenn man Almosen an sie austeilt?

Bök! flüsterte sie, machen Sie sich unsichtbar und Verhalten Sie sich ganz ruhig.

Dann nahm sie eine Handvoll Körner, beugte sich vor und begann leise, ganz
leise zu singen:

Und so wieder und immer wieder.

Die Vögelchen zauberten anfangs, faßten dann Zutrauen und kamen immer
näher, bis sich schließlich einige der mutigsten in die Laube wagten . . . dann war
das Eis gebrochen. Sie getrauten sich alle zu kommen; drei flatterten in ihren
Schoß und einige ans den Tisch. Sie streute auf den Tisch, in ihren Schoß und
zu ihren Füßen Futter aus. Dann nahm sie eine zweite Handvoll Körner und
frug sauft, ganz sanft, beinahe wie ein Wiegenlied, mit ausgestreckter Hand:

Ein Grünfink flog auf den Tisch, von da auf ihre Knie, dann auf ihre
Schulter und ließ sich schließlich auf ihren Daumen nieder, von wo aus er zu
picken anfing.


Gräfin Susann«

Und nun werde ich Ihnen das nennte Weltwunder zeigen, wenn Sie mit¬
kommen wollen, versprach sie.

Sie führte ihn durch einen langen, breiten Weg, der auf beiden Seiten von
leuchtenden Hortensien in voller Blüte eingefaßt wurde, die in allen Farben des
Regenbogens prangten.

Das neunte Wunder der Welt geht neben mir, dachte er, wahrend sie die
herrlichen Schattierungen der blühenden Hortensien bewunderte. Der Weg führte
auf eine Rosenlande zu, in der Gnrtenstühle und ein Tisch standen.

Wollen mir uus hier ein wenig setzen? fragte Susanna.

Sie legte ihren Sonnenschirm auf deu Tisch, und sie machten es sich unter
dem duftigen Rvsendach bequem. Auf dem Tisch stand eine chinesische Vase, rot
und golden, mit einem Deckel, der Drachenhenkel hatte.

Gelegenheit ist alles — auf die kommt alles an, dachte Anthony, aber wie
erkennen, ob eine Gelegenheit die richtige ist — darin liegt die Schwierigkeit!
Ob dies wohl meine Gelegenheit ist?

Er sah sie an, und sein Herz klopfte und hielt ihn zurück.

Wie herrlich die Rosen duften! rief Susanna. Wie sie das wohl machen?
Ein Büschel Sonnenstrahlen, ein paar Tautropfen, eine Handvoll brauner Erde,
und aus diese» Zutaten destillieren sie diesen himmlischen Duft!

Sie sprach leise, als fürchtete sie, belauscht zu werden.

Anthony sah sich um.

Noch vor einem Augenblick war nirgends ein Vogel zu sehen gewesen, obgleich
die Luft von Vogelsang erfüllt war. Nun aber tauchten auf dem zur Laube
führenden Wege wenigstens zwanzig Vögel auf — drei oder vier Spatzen, ein
Pärchen Buchfinken und sonst lauter Grünfinken. Sie lugten alle erwartungsvoll
nach der Laube, hüpften auf sie zu, dann wieder zurück und wieder vorwärts und
kamen allmählich näher, immer näher.

Susanna nahm mit einer vorsichtigen Bewegung den Deckel mit den Drachen-
Henkeln von der Vase. Sie war ganz mit Vogelfutter gefüllt.

Aha, ich verstehe, sagte Anthony, Kostgänger! Aber haben Sie auch bedacht,
daß es die Arbeitsfähigen zu Bettlern macht, wenn man Almosen an sie austeilt?

Bök! flüsterte sie, machen Sie sich unsichtbar und Verhalten Sie sich ganz ruhig.

Dann nahm sie eine Handvoll Körner, beugte sich vor und begann leise, ganz
leise zu singen:

Und so wieder und immer wieder.

Die Vögelchen zauberten anfangs, faßten dann Zutrauen und kamen immer
näher, bis sich schließlich einige der mutigsten in die Laube wagten . . . dann war
das Eis gebrochen. Sie getrauten sich alle zu kommen; drei flatterten in ihren
Schoß und einige ans den Tisch. Sie streute auf den Tisch, in ihren Schoß und
zu ihren Füßen Futter aus. Dann nahm sie eine zweite Handvoll Körner und
frug sauft, ganz sanft, beinahe wie ein Wiegenlied, mit ausgestreckter Hand:

Ein Grünfink flog auf den Tisch, von da auf ihre Knie, dann auf ihre
Schulter und ließ sich schließlich auf ihren Daumen nieder, von wo aus er zu
picken anfing.


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[0607] Gräfin Susann« Und nun werde ich Ihnen das nennte Weltwunder zeigen, wenn Sie mit¬ kommen wollen, versprach sie. Sie führte ihn durch einen langen, breiten Weg, der auf beiden Seiten von leuchtenden Hortensien in voller Blüte eingefaßt wurde, die in allen Farben des Regenbogens prangten. Das neunte Wunder der Welt geht neben mir, dachte er, wahrend sie die herrlichen Schattierungen der blühenden Hortensien bewunderte. Der Weg führte auf eine Rosenlande zu, in der Gnrtenstühle und ein Tisch standen. Wollen mir uus hier ein wenig setzen? fragte Susanna. Sie legte ihren Sonnenschirm auf deu Tisch, und sie machten es sich unter dem duftigen Rvsendach bequem. Auf dem Tisch stand eine chinesische Vase, rot und golden, mit einem Deckel, der Drachenhenkel hatte. Gelegenheit ist alles — auf die kommt alles an, dachte Anthony, aber wie erkennen, ob eine Gelegenheit die richtige ist — darin liegt die Schwierigkeit! Ob dies wohl meine Gelegenheit ist? Er sah sie an, und sein Herz klopfte und hielt ihn zurück. Wie herrlich die Rosen duften! rief Susanna. Wie sie das wohl machen? Ein Büschel Sonnenstrahlen, ein paar Tautropfen, eine Handvoll brauner Erde, und aus diese» Zutaten destillieren sie diesen himmlischen Duft! Sie sprach leise, als fürchtete sie, belauscht zu werden. Anthony sah sich um. Noch vor einem Augenblick war nirgends ein Vogel zu sehen gewesen, obgleich die Luft von Vogelsang erfüllt war. Nun aber tauchten auf dem zur Laube führenden Wege wenigstens zwanzig Vögel auf — drei oder vier Spatzen, ein Pärchen Buchfinken und sonst lauter Grünfinken. Sie lugten alle erwartungsvoll nach der Laube, hüpften auf sie zu, dann wieder zurück und wieder vorwärts und kamen allmählich näher, immer näher. Susanna nahm mit einer vorsichtigen Bewegung den Deckel mit den Drachen- Henkeln von der Vase. Sie war ganz mit Vogelfutter gefüllt. Aha, ich verstehe, sagte Anthony, Kostgänger! Aber haben Sie auch bedacht, daß es die Arbeitsfähigen zu Bettlern macht, wenn man Almosen an sie austeilt? Bök! flüsterte sie, machen Sie sich unsichtbar und Verhalten Sie sich ganz ruhig. Dann nahm sie eine Handvoll Körner, beugte sich vor und begann leise, ganz leise zu singen: Und so wieder und immer wieder. Die Vögelchen zauberten anfangs, faßten dann Zutrauen und kamen immer näher, bis sich schließlich einige der mutigsten in die Laube wagten . . . dann war das Eis gebrochen. Sie getrauten sich alle zu kommen; drei flatterten in ihren Schoß und einige ans den Tisch. Sie streute auf den Tisch, in ihren Schoß und zu ihren Füßen Futter aus. Dann nahm sie eine zweite Handvoll Körner und frug sauft, ganz sanft, beinahe wie ein Wiegenlied, mit ausgestreckter Hand: Ein Grünfink flog auf den Tisch, von da auf ihre Knie, dann auf ihre Schulter und ließ sich schließlich auf ihren Daumen nieder, von wo aus er zu picken anfing.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/607>, abgerufen am 12.05.2024.