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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das wurde mir erst ganz klar, als ich, einer liebenswürdigen Einladung der
Administration folgend, die sich eines lateinischen Gratulationsgedichts meines Vor¬
gängers Robbe zum dreihundertjährigen Jubiläum der Klosterschule mit weitgehender
Dankbarkeit erinnert hatte, am Nachmittage des 27. Juni in Naumburg eintraf.
Denn auf dem Bahnsteige sah ich mich plötzlich inmitten eines großen Kreises von
Offizieren, Beamten und Rittergutsbesitzern, die fröhlich und wohlgemut einander
begrüßten und auf der Unstruttalbahn weiter fahren wollten, also alte "Roßleber,"
und im Coupe des Zuges, der um mehrere Wagen verstärkt werden mußte, gab
es sofort allerlei Schulerinnerungen. Im Sonnenlicht eines frischen Sommertages
dehnte sich das anmutige grüne Unstruttal aus, eine breite, üppig fruchtbare Tal¬
sohle, wo mächtige Weizen- und Rübenfelder die Nähe großer Güter verrieten,
durchflossen von der schmalen, aber tiefen Unstrut zwischen weiten Wiesengründen,
"us denen hier und da, oft ohne daß man das Wasser sah, das sie trug, die
Masten ansehnlicher Flußschiffe auftauchten, denn die Unstrut ist bis Artern hinauf
mit Schleusen kanalisiert, und die großen Sandsteinbrüche bei Nebra liefern ein
weithin gesuchtes Baumaterial. Ansehnliche Höhenrücken säumen das Tal ein, im
untersten Teile um Freyburg mit Weingärten bedeckt, weiter hinauf mit Wald.
Dieses Unstruttal war lange Zeit der Kern Thüringens und ist heute noch erfüllt
Von historischen Erinnerungen. Dort oben über Freyburg ragt aus Weinbergen
bie Neuenburg empor, die Ludwig der Springer 1075 als den östlichen Eckpfeiler
seiner Macht begründete, wie im Westen die Wartburg; in Freyburg selbst hat der
"Turnvater" Ludwig Jahr viele Jahre bis an seinen Tod 1852 gehaust. Bei
Burgscheidungen, von dessen Schloß nur das hohe Doppeldach von der Bahn aus
sichtbar ist, brach 531 in sagenumwobner Mordschlacht das thüringische Königreich
unter der Streitaxt der Franken zusammen, und die Leichen der Erschlagnen bil¬
deten einen Damm durch den tiefen Fluß. Hinter der Felsenenge bet Nebra, die
östlich von der Burg Nebra, im Westen von der glänzend erneuerten Vitzenvurg
auf hohem Sandsteinfelsen beherrscht wird, erweitert sich das Tal zum südlichsten
Teile der "Goldner Ane," und grüngolden wogte in der Tat schon der Weizen in
mächtigen Breiten. Dort in der Niederung an der Unstrut zwischen Wiesen und
Feldern liegt abseits neben dem Dorfe der alte Königshof Memleben, wo König
Heinrich der Erste und Kaiser Otto der Große gestorben sind, so recht deutlich den
sozusagen ländlichen Charakter unsers alten Königtums offenbarend, das sich meist
mit einem Gutshof als Residenz begnügte. Weiterhin erhebt sich hoch über der
Unstrut die ausgedehnte Burg Wendelstein, die einst Heinrich von Witzleben besaß,
und am südlichen Talrande am grünen AbHange liegt Wiese, die Heimat Leopold
Rankes. Wer Frende an historischen Konstruktionen hat, der kann ja sagen, daß
der große Historiker notwendigerweise aus diesem Milieu hervorgehn mußte.

Der Pfiff der Lokomotive rief in die Gegenwart zurück; ein ansehnliches,
stadtähnliches Dorf mit roten Ziegeldächern lag vor uns, und wehende Flaggen
zeigten, daß wir am Ziele angelangt seien. Die Jugend von Roßleben drängte
sich neugierig am Bahnhofe, und ein Strom von Gästen überflutete den Ort.
Denn 229 alte Schüler hatten sich angemeldet, von den Ehrengästen abgesehen,
And der Ort war zu klein, sie alle angemessen unterzubringen, sodciß die Gast¬
freiheit der Schloßherren von Nebra und Vitzenburg helfend eingreifen mußte; sie
stellten sogar Extrazüge für den Verkehr nach und von Roßleben. Die Kloster¬
schule, wo mir Quartier angewiesen war, liegt etwa zehn Minuten vom Bahn¬
hof am westlichen Ende des Dorfes unmittelbar über der Unstrut. Welches
Idyll! Ein schlichter aber mächtiger, schloßartiger, zweistöckiger Barockbau aus
grauem Sandstein unter hohem Doppeldach, mit einem etwas vorspringenden
Mittelbau, über dessen breitem, mit dem Wappen der Witzleben geschmücktem Giebel
ein Glockentürmchen emporragt, umschließt mit zwei Flügeln hufeisenförmig einen
kiesbestreuten Hof, hinter diesem dehnt sich der große Wirtschaftshof. Von dem
Dorfe ist das Ganze durch Gartenanlagen völlig abgeschlossen, sodaß nichts von


Grenzboten HI 1904 8
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Das wurde mir erst ganz klar, als ich, einer liebenswürdigen Einladung der
Administration folgend, die sich eines lateinischen Gratulationsgedichts meines Vor¬
gängers Robbe zum dreihundertjährigen Jubiläum der Klosterschule mit weitgehender
Dankbarkeit erinnert hatte, am Nachmittage des 27. Juni in Naumburg eintraf.
Denn auf dem Bahnsteige sah ich mich plötzlich inmitten eines großen Kreises von
Offizieren, Beamten und Rittergutsbesitzern, die fröhlich und wohlgemut einander
begrüßten und auf der Unstruttalbahn weiter fahren wollten, also alte „Roßleber,"
und im Coupe des Zuges, der um mehrere Wagen verstärkt werden mußte, gab
es sofort allerlei Schulerinnerungen. Im Sonnenlicht eines frischen Sommertages
dehnte sich das anmutige grüne Unstruttal aus, eine breite, üppig fruchtbare Tal¬
sohle, wo mächtige Weizen- und Rübenfelder die Nähe großer Güter verrieten,
durchflossen von der schmalen, aber tiefen Unstrut zwischen weiten Wiesengründen,
«us denen hier und da, oft ohne daß man das Wasser sah, das sie trug, die
Masten ansehnlicher Flußschiffe auftauchten, denn die Unstrut ist bis Artern hinauf
mit Schleusen kanalisiert, und die großen Sandsteinbrüche bei Nebra liefern ein
weithin gesuchtes Baumaterial. Ansehnliche Höhenrücken säumen das Tal ein, im
untersten Teile um Freyburg mit Weingärten bedeckt, weiter hinauf mit Wald.
Dieses Unstruttal war lange Zeit der Kern Thüringens und ist heute noch erfüllt
Von historischen Erinnerungen. Dort oben über Freyburg ragt aus Weinbergen
bie Neuenburg empor, die Ludwig der Springer 1075 als den östlichen Eckpfeiler
seiner Macht begründete, wie im Westen die Wartburg; in Freyburg selbst hat der
„Turnvater" Ludwig Jahr viele Jahre bis an seinen Tod 1852 gehaust. Bei
Burgscheidungen, von dessen Schloß nur das hohe Doppeldach von der Bahn aus
sichtbar ist, brach 531 in sagenumwobner Mordschlacht das thüringische Königreich
unter der Streitaxt der Franken zusammen, und die Leichen der Erschlagnen bil¬
deten einen Damm durch den tiefen Fluß. Hinter der Felsenenge bet Nebra, die
östlich von der Burg Nebra, im Westen von der glänzend erneuerten Vitzenvurg
auf hohem Sandsteinfelsen beherrscht wird, erweitert sich das Tal zum südlichsten
Teile der „Goldner Ane," und grüngolden wogte in der Tat schon der Weizen in
mächtigen Breiten. Dort in der Niederung an der Unstrut zwischen Wiesen und
Feldern liegt abseits neben dem Dorfe der alte Königshof Memleben, wo König
Heinrich der Erste und Kaiser Otto der Große gestorben sind, so recht deutlich den
sozusagen ländlichen Charakter unsers alten Königtums offenbarend, das sich meist
mit einem Gutshof als Residenz begnügte. Weiterhin erhebt sich hoch über der
Unstrut die ausgedehnte Burg Wendelstein, die einst Heinrich von Witzleben besaß,
und am südlichen Talrande am grünen AbHange liegt Wiese, die Heimat Leopold
Rankes. Wer Frende an historischen Konstruktionen hat, der kann ja sagen, daß
der große Historiker notwendigerweise aus diesem Milieu hervorgehn mußte.

Der Pfiff der Lokomotive rief in die Gegenwart zurück; ein ansehnliches,
stadtähnliches Dorf mit roten Ziegeldächern lag vor uns, und wehende Flaggen
zeigten, daß wir am Ziele angelangt seien. Die Jugend von Roßleben drängte
sich neugierig am Bahnhofe, und ein Strom von Gästen überflutete den Ort.
Denn 229 alte Schüler hatten sich angemeldet, von den Ehrengästen abgesehen,
And der Ort war zu klein, sie alle angemessen unterzubringen, sodciß die Gast¬
freiheit der Schloßherren von Nebra und Vitzenburg helfend eingreifen mußte; sie
stellten sogar Extrazüge für den Verkehr nach und von Roßleben. Die Kloster¬
schule, wo mir Quartier angewiesen war, liegt etwa zehn Minuten vom Bahn¬
hof am westlichen Ende des Dorfes unmittelbar über der Unstrut. Welches
Idyll! Ein schlichter aber mächtiger, schloßartiger, zweistöckiger Barockbau aus
grauem Sandstein unter hohem Doppeldach, mit einem etwas vorspringenden
Mittelbau, über dessen breitem, mit dem Wappen der Witzleben geschmücktem Giebel
ein Glockentürmchen emporragt, umschließt mit zwei Flügeln hufeisenförmig einen
kiesbestreuten Hof, hinter diesem dehnt sich der große Wirtschaftshof. Von dem
Dorfe ist das Ganze durch Gartenanlagen völlig abgeschlossen, sodaß nichts von


Grenzboten HI 1904 8
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[0065] Maßgebliches und Unmaßgebliches Das wurde mir erst ganz klar, als ich, einer liebenswürdigen Einladung der Administration folgend, die sich eines lateinischen Gratulationsgedichts meines Vor¬ gängers Robbe zum dreihundertjährigen Jubiläum der Klosterschule mit weitgehender Dankbarkeit erinnert hatte, am Nachmittage des 27. Juni in Naumburg eintraf. Denn auf dem Bahnsteige sah ich mich plötzlich inmitten eines großen Kreises von Offizieren, Beamten und Rittergutsbesitzern, die fröhlich und wohlgemut einander begrüßten und auf der Unstruttalbahn weiter fahren wollten, also alte „Roßleber," und im Coupe des Zuges, der um mehrere Wagen verstärkt werden mußte, gab es sofort allerlei Schulerinnerungen. Im Sonnenlicht eines frischen Sommertages dehnte sich das anmutige grüne Unstruttal aus, eine breite, üppig fruchtbare Tal¬ sohle, wo mächtige Weizen- und Rübenfelder die Nähe großer Güter verrieten, durchflossen von der schmalen, aber tiefen Unstrut zwischen weiten Wiesengründen, «us denen hier und da, oft ohne daß man das Wasser sah, das sie trug, die Masten ansehnlicher Flußschiffe auftauchten, denn die Unstrut ist bis Artern hinauf mit Schleusen kanalisiert, und die großen Sandsteinbrüche bei Nebra liefern ein weithin gesuchtes Baumaterial. Ansehnliche Höhenrücken säumen das Tal ein, im untersten Teile um Freyburg mit Weingärten bedeckt, weiter hinauf mit Wald. Dieses Unstruttal war lange Zeit der Kern Thüringens und ist heute noch erfüllt Von historischen Erinnerungen. Dort oben über Freyburg ragt aus Weinbergen bie Neuenburg empor, die Ludwig der Springer 1075 als den östlichen Eckpfeiler seiner Macht begründete, wie im Westen die Wartburg; in Freyburg selbst hat der „Turnvater" Ludwig Jahr viele Jahre bis an seinen Tod 1852 gehaust. Bei Burgscheidungen, von dessen Schloß nur das hohe Doppeldach von der Bahn aus sichtbar ist, brach 531 in sagenumwobner Mordschlacht das thüringische Königreich unter der Streitaxt der Franken zusammen, und die Leichen der Erschlagnen bil¬ deten einen Damm durch den tiefen Fluß. Hinter der Felsenenge bet Nebra, die östlich von der Burg Nebra, im Westen von der glänzend erneuerten Vitzenvurg auf hohem Sandsteinfelsen beherrscht wird, erweitert sich das Tal zum südlichsten Teile der „Goldner Ane," und grüngolden wogte in der Tat schon der Weizen in mächtigen Breiten. Dort in der Niederung an der Unstrut zwischen Wiesen und Feldern liegt abseits neben dem Dorfe der alte Königshof Memleben, wo König Heinrich der Erste und Kaiser Otto der Große gestorben sind, so recht deutlich den sozusagen ländlichen Charakter unsers alten Königtums offenbarend, das sich meist mit einem Gutshof als Residenz begnügte. Weiterhin erhebt sich hoch über der Unstrut die ausgedehnte Burg Wendelstein, die einst Heinrich von Witzleben besaß, und am südlichen Talrande am grünen AbHange liegt Wiese, die Heimat Leopold Rankes. Wer Frende an historischen Konstruktionen hat, der kann ja sagen, daß der große Historiker notwendigerweise aus diesem Milieu hervorgehn mußte. Der Pfiff der Lokomotive rief in die Gegenwart zurück; ein ansehnliches, stadtähnliches Dorf mit roten Ziegeldächern lag vor uns, und wehende Flaggen zeigten, daß wir am Ziele angelangt seien. Die Jugend von Roßleben drängte sich neugierig am Bahnhofe, und ein Strom von Gästen überflutete den Ort. Denn 229 alte Schüler hatten sich angemeldet, von den Ehrengästen abgesehen, And der Ort war zu klein, sie alle angemessen unterzubringen, sodciß die Gast¬ freiheit der Schloßherren von Nebra und Vitzenburg helfend eingreifen mußte; sie stellten sogar Extrazüge für den Verkehr nach und von Roßleben. Die Kloster¬ schule, wo mir Quartier angewiesen war, liegt etwa zehn Minuten vom Bahn¬ hof am westlichen Ende des Dorfes unmittelbar über der Unstrut. Welches Idyll! Ein schlichter aber mächtiger, schloßartiger, zweistöckiger Barockbau aus grauem Sandstein unter hohem Doppeldach, mit einem etwas vorspringenden Mittelbau, über dessen breitem, mit dem Wappen der Witzleben geschmücktem Giebel ein Glockentürmchen emporragt, umschließt mit zwei Flügeln hufeisenförmig einen kiesbestreuten Hof, hinter diesem dehnt sich der große Wirtschaftshof. Von dem Dorfe ist das Ganze durch Gartenanlagen völlig abgeschlossen, sodaß nichts von Grenzboten HI 1904 8

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/65>, abgerufen am 11.05.2024.