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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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zum Teil sie offen ablehnte. Es bestand ein Gegensatz der Weltanschauungen
auf dem Boden der Kirche selbst. Und auch bei den treuen Gliedern der
Kirche zeigte sich eine Verstärkung des persönlichen Charakters der Frömmig¬
keit, die den einzelnen schließlich zum Gegner der herrschenden Form der Kirche,
des politischen Papsttums, der römischen Verderbung des Christentums machen
mußte. Walter wollte durchaus ein weltlicher Dichter sein, war aber dabei
ein frommer Christ, der über Sünde und Gnade nachdachte, nach sittlicher
Vollkommenheit strebte, Maria als das jungfräuliche Ideal pries. Aber laut
und schneidend stritt er mit seinem Liede wider den Papst. Auch hier erkennt
man die Folgen des kirchlichen Kampfes. "Seit den kirchlichen Streitigkeiten
der Hohenstaufenzeit gab es fromme Gesinnung, für die die Ehrfurcht vor
den amtsmäßigen Vertretern der Religion kein notwendiger Bestandteil war;
seitdem gab es Religiosität, der Rom als Sammelname für jedes Unrecht
galt." Die Art der Frömmigkeit dagegen, die die Kirche selbst immer mehr
ausbildete, ist bezeichnet durch die Entstehung des Bußsakraments und die
Verbreitung der Ablässe, die besonders seit den Kreuzzügen immer üblicher
wurden. In beiden vollendete sich mehr und mehr die verzerrte Gestalt des
Christentums in der römischen Kirche: durch das Papsttum war es zu einer
politischen Größe geworden, durch das Sakrament wurde es zur Magie, durch
den Ablaß zu einem Handelsgeschäft erniedrigt. Die Ausartung der Heiligen¬
verehrung und der Zauber- und der Hexenwahn, die sich immer mehr ver¬
breiteten, entwickelten sich zwar ans dem Volke selbst; aber die Kirche duldete,
was sie hätte bekämpfen sollen, und zog ihren Nutzen dcirans. So kam es zu
der tiefen Entartung der mittelalterlichen kirchlichen Frömmigkeit, der schließlich
mit dem Erwachen der Geister in der Reformationszeit das Urteil gesprochen
wurde.

Von den Jahrzehnten aber schon, in die wir uns eben versetzt haben,
sagt Hauck an einer Stelle seines Werkes: "Nie vorherhatte Deutschland eine
Zeit erlebt, in der in ähnlicher Weise die Geister erwachten." Und wirklich
gewinnt man, wenn man seiner Führung folgt, einen tiefen Eindruck davon,
daß jene Zeit ein Vorfrühling der deutschen Reformation genaunt werde"
kann. Die Kräfte, die später, durch Luthers Ruf erweckt, ein neues Zeitalter
herbeiführten, begannen sich damals schon im deutscheu Volke zu regen. Diesem
Wehen des Geistes einmal aufmerksam zu lauschen, bedeutet eine erhebende
Stärkung des Glaubens an den Beruf unsers Volkes und eine Vergewisserung
über die lebendigen Quellen seiner Kraft. Solcher Stärkung und Verge-
wissernng bedarf aber unser Geschlecht in besonderm Maße. Möchte Haucks
Werk dieser großen Aufgabe, der höchsten des nationalen Geschichtschreibers,
auch an seinem Teile dienen!




zum Teil sie offen ablehnte. Es bestand ein Gegensatz der Weltanschauungen
auf dem Boden der Kirche selbst. Und auch bei den treuen Gliedern der
Kirche zeigte sich eine Verstärkung des persönlichen Charakters der Frömmig¬
keit, die den einzelnen schließlich zum Gegner der herrschenden Form der Kirche,
des politischen Papsttums, der römischen Verderbung des Christentums machen
mußte. Walter wollte durchaus ein weltlicher Dichter sein, war aber dabei
ein frommer Christ, der über Sünde und Gnade nachdachte, nach sittlicher
Vollkommenheit strebte, Maria als das jungfräuliche Ideal pries. Aber laut
und schneidend stritt er mit seinem Liede wider den Papst. Auch hier erkennt
man die Folgen des kirchlichen Kampfes. „Seit den kirchlichen Streitigkeiten
der Hohenstaufenzeit gab es fromme Gesinnung, für die die Ehrfurcht vor
den amtsmäßigen Vertretern der Religion kein notwendiger Bestandteil war;
seitdem gab es Religiosität, der Rom als Sammelname für jedes Unrecht
galt." Die Art der Frömmigkeit dagegen, die die Kirche selbst immer mehr
ausbildete, ist bezeichnet durch die Entstehung des Bußsakraments und die
Verbreitung der Ablässe, die besonders seit den Kreuzzügen immer üblicher
wurden. In beiden vollendete sich mehr und mehr die verzerrte Gestalt des
Christentums in der römischen Kirche: durch das Papsttum war es zu einer
politischen Größe geworden, durch das Sakrament wurde es zur Magie, durch
den Ablaß zu einem Handelsgeschäft erniedrigt. Die Ausartung der Heiligen¬
verehrung und der Zauber- und der Hexenwahn, die sich immer mehr ver¬
breiteten, entwickelten sich zwar ans dem Volke selbst; aber die Kirche duldete,
was sie hätte bekämpfen sollen, und zog ihren Nutzen dcirans. So kam es zu
der tiefen Entartung der mittelalterlichen kirchlichen Frömmigkeit, der schließlich
mit dem Erwachen der Geister in der Reformationszeit das Urteil gesprochen
wurde.

Von den Jahrzehnten aber schon, in die wir uns eben versetzt haben,
sagt Hauck an einer Stelle seines Werkes: „Nie vorherhatte Deutschland eine
Zeit erlebt, in der in ähnlicher Weise die Geister erwachten." Und wirklich
gewinnt man, wenn man seiner Führung folgt, einen tiefen Eindruck davon,
daß jene Zeit ein Vorfrühling der deutschen Reformation genaunt werde»
kann. Die Kräfte, die später, durch Luthers Ruf erweckt, ein neues Zeitalter
herbeiführten, begannen sich damals schon im deutscheu Volke zu regen. Diesem
Wehen des Geistes einmal aufmerksam zu lauschen, bedeutet eine erhebende
Stärkung des Glaubens an den Beruf unsers Volkes und eine Vergewisserung
über die lebendigen Quellen seiner Kraft. Solcher Stärkung und Verge-
wissernng bedarf aber unser Geschlecht in besonderm Maße. Möchte Haucks
Werk dieser großen Aufgabe, der höchsten des nationalen Geschichtschreibers,
auch an seinem Teile dienen!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/712>, abgerufen am 14.05.2024.