Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen Die Hessen beginnen ihre Volkshymne gewöhnlich mit folgender Strophe: Glaubt man wirklich, daß solche Nachahmungen, die so allgemein und Es war ein unfruchtbarer Gedanke, eine reine Nachäfferei, daß man die An solchen guten Volksliedern sollte man festhalten, statt die langweiligen Wie achtlos man hierbei am Guten vorbeirennt, das zum Greifen ruhe Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen Die Hessen beginnen ihre Volkshymne gewöhnlich mit folgender Strophe: Glaubt man wirklich, daß solche Nachahmungen, die so allgemein und Es war ein unfruchtbarer Gedanke, eine reine Nachäfferei, daß man die An solchen guten Volksliedern sollte man festhalten, statt die langweiligen Wie achtlos man hierbei am Guten vorbeirennt, das zum Greifen ruhe <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0718" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295135"/> <fw type="header" place="top"> Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen</fw><lb/> <p xml:id="ID_3411"> Die Hessen beginnen ihre Volkshymne gewöhnlich mit folgender Strophe:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_51" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_3412"> Glaubt man wirklich, daß solche Nachahmungen, die so allgemein und<lb/> farblos gehalten sind, daß der Text auf jedes Land und jeden Fürsten paßt,<lb/> im Volke festen Boden fassen werden? Nun, warum nicht? Schließlich bürgert<lb/> sich auch das Schlechte ein — wenn es der Jugend beizeiten in der Schule<lb/> beigebracht wird. In den meisten Staaten wird das wohl schon besorgt sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_3413"> Es war ein unfruchtbarer Gedanke, eine reine Nachäfferei, daß man die<lb/> Volkshymne nach englischem Muster nur in der Form einer Fürstenhymne aus¬<lb/> zugestalten suchte. So fiel alles weg, was einer Nationalhymne erst den rechten<lb/> Kern, die volkstümliche Bedeutung verschaffen kann: der Preis und die Ver¬<lb/> herrlichung des nationalen Wesens. Das ist die Hauptsache, und die fehlt<lb/> gerade in den meisten deutschen Volkshymnen. Es ist nur ein dürftiger Ersatz,<lb/> ein schales Surrogat, wenn in einigen Hymnen, um einen volkstümlichen Ton<lb/> zu markieren — die Landesfarben besungen werden. Diese Entwicklung ist um<lb/> so mehr zu bedauern, als in unsrer Literatur schon eine poetische Gattung vor¬<lb/> handen war, die als Quelle für die nationale Hymnendichtung Hütte dienen<lb/> können. Hier war alles geschaffen, was man dort vermißt: ein volkstümlicher<lb/> Ton und Gehalt, eigne Melodie und echte Begeisterung. Die Preußen hatten<lb/> es wahrhaftig nicht nötig, ihre Nationalhymne aus der Fremde zu holen. Gibt<lb/> es doch ein prächtiges preußisches Volkslied, das alle kennen, das alle lieben,<lb/> das zur Nationalhymne wie geschaffen war: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr<lb/> meine Farben?" Leider hat man es vorgezogen, statt dieses echten Volks-<lb/> gcsanges einen englisch-dänischen Import als preußische Nationalhymne anzu¬<lb/> nehmen. Ähnlich ist es in den meisten andern Staaten des Deutschen Reichs<lb/> gegangen. Ich glaube, es sind nur noch die Braunschweiger, die ein echtes<lb/> Volkslied als patriotischen Festgesang beibehalten haben. Man hat wohl über<lb/> dieses Lied gespottet, aber sehr mit Unrecht; es ist wegen seines frischen Tones<lb/> mehr wert als alle diese gekünstelter Heil- und Segnehymnen. Ich führe hier<lb/> die erste Strophe als Probe an:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_52" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_3414"> An solchen guten Volksliedern sollte man festhalten, statt die langweiligen<lb/> Festpoeme vorzuziehn, die sich allenfalls zu Begrüßungshymuen beim Einzug<lb/> eines Fürsten, aber nicht zu ständigen Volkshymnen eignen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3415" next="#ID_3416"> Wie achtlos man hierbei am Guten vorbeirennt, das zum Greifen ruhe</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0718]
Zur Geschichte der deutschen Nationalhymnen
Die Hessen beginnen ihre Volkshymne gewöhnlich mit folgender Strophe:
Glaubt man wirklich, daß solche Nachahmungen, die so allgemein und
farblos gehalten sind, daß der Text auf jedes Land und jeden Fürsten paßt,
im Volke festen Boden fassen werden? Nun, warum nicht? Schließlich bürgert
sich auch das Schlechte ein — wenn es der Jugend beizeiten in der Schule
beigebracht wird. In den meisten Staaten wird das wohl schon besorgt sein.
Es war ein unfruchtbarer Gedanke, eine reine Nachäfferei, daß man die
Volkshymne nach englischem Muster nur in der Form einer Fürstenhymne aus¬
zugestalten suchte. So fiel alles weg, was einer Nationalhymne erst den rechten
Kern, die volkstümliche Bedeutung verschaffen kann: der Preis und die Ver¬
herrlichung des nationalen Wesens. Das ist die Hauptsache, und die fehlt
gerade in den meisten deutschen Volkshymnen. Es ist nur ein dürftiger Ersatz,
ein schales Surrogat, wenn in einigen Hymnen, um einen volkstümlichen Ton
zu markieren — die Landesfarben besungen werden. Diese Entwicklung ist um
so mehr zu bedauern, als in unsrer Literatur schon eine poetische Gattung vor¬
handen war, die als Quelle für die nationale Hymnendichtung Hütte dienen
können. Hier war alles geschaffen, was man dort vermißt: ein volkstümlicher
Ton und Gehalt, eigne Melodie und echte Begeisterung. Die Preußen hatten
es wahrhaftig nicht nötig, ihre Nationalhymne aus der Fremde zu holen. Gibt
es doch ein prächtiges preußisches Volkslied, das alle kennen, das alle lieben,
das zur Nationalhymne wie geschaffen war: „Ich bin ein Preuße, kennt ihr
meine Farben?" Leider hat man es vorgezogen, statt dieses echten Volks-
gcsanges einen englisch-dänischen Import als preußische Nationalhymne anzu¬
nehmen. Ähnlich ist es in den meisten andern Staaten des Deutschen Reichs
gegangen. Ich glaube, es sind nur noch die Braunschweiger, die ein echtes
Volkslied als patriotischen Festgesang beibehalten haben. Man hat wohl über
dieses Lied gespottet, aber sehr mit Unrecht; es ist wegen seines frischen Tones
mehr wert als alle diese gekünstelter Heil- und Segnehymnen. Ich führe hier
die erste Strophe als Probe an:
An solchen guten Volksliedern sollte man festhalten, statt die langweiligen
Festpoeme vorzuziehn, die sich allenfalls zu Begrüßungshymuen beim Einzug
eines Fürsten, aber nicht zu ständigen Volkshymnen eignen.
Wie achtlos man hierbei am Guten vorbeirennt, das zum Greifen ruhe
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