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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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iölücksinselu und Träunw

Verwüchse es mit ihr zu einem Ungeheuer. Man bedenke doch, daß wir in einem
bureaukratisch-monarchischen Kleinstaat aufwuchsen, wo schon Lockenhaar bei jungen
Männern, ein Filzhut oder ein rotes Mantelfntter verdächtig waren, während die
Schule allen Bewundrung für Aristides und sogar Brutus einimpfte, sodaß wir
Schüler viel eher ein Verständnis zum Freistaat als zur Monarchie hatten, bei der
wir an Nero oder Philipp dachten! Im Grunde war es gut, daß in den damaligen
deutschen Verhältnissen Wirkliches und Gegenwärtiges für uns gar nicht in Frage
kamen. Niemand von uns hatte einen lebendigen Staatsmann oder Feldherrn,
und ich wenigstens hatte auch noch keinen Landtagsabgeordneten gesehen. Unsre
politischen Gespräche konnten um so umfassender und vielseitiger sein, und während
fast jeder von uns einen Verwandten hatte, der 1849 nach Frankreich oder Amerika
als "Revoluzzer" geflohen war, oder der in Schleswig-Holstein oder Baden auf
der andern Seite gefochten hatte, lebten wir in der Geschichte des Peloponnesischen
Krieges oder der Gracchen oder höchstens, angeregt durch Schillers "Maria Stuart"
und später Macaulay, in der englischen des sechzehnten und des siebzehnten Jahr¬
hunderts. Der Geschichtsunterricht ging so schleppend, daß er nie über den Fall von
Konstantinopel hinauskam; denn das war ein Kapitelschlnß im Lehrbuch! Dabei
wurde das Mittelalter so geistlos behandelt, daß ich eine Vorstellung von Konradin
erst durch den zufälligen Fund einer Biographie seines Freundes Friedrich von
Baden gewann, die ich verschlang. Als ich schon seit Jahren jede Jahreszahl und
jeden Namen aus der Geschichte der alten Griechen innehatte, wirkte es wie eine
blitzartige Erleuchtung auf mich, als ich zum erstenmal ans der Universität Ludwig
Hauffer die griechische und die deutsche Kleinstaaterei vergleichen hörte. Wenn man
sagt: Die Schule ist der Markt der Knaben, hier lernen sie einander und das Leben
kennen, so galt das für uns nur im beschränktesten Sinne: die Schule war nicht
unsre Agora, höchstens unser Tanschmarkt, da bei uns sehr viel "gefuggert" wurde;
der Markt des Lebens lag weit ab von unsern kahlen Wänden. Nur im Gewand
der Dichtung griff mir damals die Geschichte ans Herz; in der Prosa des Lehr¬
buchs war sie absolut gleichgiltig. Ist das erstaunlich? War denn nicht Homer
der erste Geschichtschreiber der Griechen? Und so bringen jedem Jugendgemüt
nicht die Gelehrten, sondern die Dichter die Geschichte nahe. Für mich gab es
viele Jahre kein Geschichtsbuch, das mir höher stand als Hebels Biblische Geschichten
und die mythischen Partien in K. F. Beckers Weltgeschichte.

Ich will den freundlichen Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, nicht mit
Schulgeschichten langweilen. Zur Kennzeichnung der Zeit genügt vielleicht folgendes.
Als ich wegen Mangels aller Fortschritte und sichtlichen Ersterbens aller Teilnahme
an dem Unterrichtsgang der Schule einer Privatschule überantwortet wurde, die
den Ruhm hatte, auch die verkommensten Subjekte durch Prüfungen zu bringen,
vernahm ich von deren erstem Lehrer das schöne Wort: Da man junge Hunde
und Bären abrichten kann, braucht mau an jungen Menschen nicht zu verzweifeln.
Das war nicht gerade ermutigend; doch widersprach es nicht den pädagogischen
Grundsätzen meines Vaters, der meine Einführung bei dem Direktor mit den
Worten begleitete: "Der Bild ist gut, indessen wenn er nicht pariert, schlagen Sie
ihn brann und blau." Wiewohl uun dieser Direktor von berüchtigter Schlag¬
fertigkeit war -- vou den Fortschritten der Technik begeistert prügelte er nicht mit
dem Rohr wie die gewöhnlichen Lehrer, sondern mit einem kurzen Kautschukkuüppel,
dessen eigenhändige Herstellung er uns eingehend schilderte --, habe ich von ihm
nicht zu leiden gehabt, sondern weiß ihm aufrichtigen Dank. Als Schulmann wird
er wohl mittelmäßig gewesen sein, seine Unterrichtsstunden waren verworren, plan¬
los; aber er hatte die Gewohnheit, von deren Gegenstand fast immer abzuschweifen,
und aus seinen Erzählungen, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten und eben
deswegen uns doppelt fesselten, haben wir alle viel gelernt. Er war Pflanzen-
und Jnsektensammler, begeistert für Physik und Chemie; dabei unterrichtete er in
alten und neuen Sprachen. Man kann sich das Ragout seines Unterrichts denken;
aber es mundete uns. Es kommt mir jetzt wie eine Parodie vor, daß wir ihm


iölücksinselu und Träunw

Verwüchse es mit ihr zu einem Ungeheuer. Man bedenke doch, daß wir in einem
bureaukratisch-monarchischen Kleinstaat aufwuchsen, wo schon Lockenhaar bei jungen
Männern, ein Filzhut oder ein rotes Mantelfntter verdächtig waren, während die
Schule allen Bewundrung für Aristides und sogar Brutus einimpfte, sodaß wir
Schüler viel eher ein Verständnis zum Freistaat als zur Monarchie hatten, bei der
wir an Nero oder Philipp dachten! Im Grunde war es gut, daß in den damaligen
deutschen Verhältnissen Wirkliches und Gegenwärtiges für uns gar nicht in Frage
kamen. Niemand von uns hatte einen lebendigen Staatsmann oder Feldherrn,
und ich wenigstens hatte auch noch keinen Landtagsabgeordneten gesehen. Unsre
politischen Gespräche konnten um so umfassender und vielseitiger sein, und während
fast jeder von uns einen Verwandten hatte, der 1849 nach Frankreich oder Amerika
als „Revoluzzer" geflohen war, oder der in Schleswig-Holstein oder Baden auf
der andern Seite gefochten hatte, lebten wir in der Geschichte des Peloponnesischen
Krieges oder der Gracchen oder höchstens, angeregt durch Schillers „Maria Stuart"
und später Macaulay, in der englischen des sechzehnten und des siebzehnten Jahr¬
hunderts. Der Geschichtsunterricht ging so schleppend, daß er nie über den Fall von
Konstantinopel hinauskam; denn das war ein Kapitelschlnß im Lehrbuch! Dabei
wurde das Mittelalter so geistlos behandelt, daß ich eine Vorstellung von Konradin
erst durch den zufälligen Fund einer Biographie seines Freundes Friedrich von
Baden gewann, die ich verschlang. Als ich schon seit Jahren jede Jahreszahl und
jeden Namen aus der Geschichte der alten Griechen innehatte, wirkte es wie eine
blitzartige Erleuchtung auf mich, als ich zum erstenmal ans der Universität Ludwig
Hauffer die griechische und die deutsche Kleinstaaterei vergleichen hörte. Wenn man
sagt: Die Schule ist der Markt der Knaben, hier lernen sie einander und das Leben
kennen, so galt das für uns nur im beschränktesten Sinne: die Schule war nicht
unsre Agora, höchstens unser Tanschmarkt, da bei uns sehr viel „gefuggert" wurde;
der Markt des Lebens lag weit ab von unsern kahlen Wänden. Nur im Gewand
der Dichtung griff mir damals die Geschichte ans Herz; in der Prosa des Lehr¬
buchs war sie absolut gleichgiltig. Ist das erstaunlich? War denn nicht Homer
der erste Geschichtschreiber der Griechen? Und so bringen jedem Jugendgemüt
nicht die Gelehrten, sondern die Dichter die Geschichte nahe. Für mich gab es
viele Jahre kein Geschichtsbuch, das mir höher stand als Hebels Biblische Geschichten
und die mythischen Partien in K. F. Beckers Weltgeschichte.

Ich will den freundlichen Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, nicht mit
Schulgeschichten langweilen. Zur Kennzeichnung der Zeit genügt vielleicht folgendes.
Als ich wegen Mangels aller Fortschritte und sichtlichen Ersterbens aller Teilnahme
an dem Unterrichtsgang der Schule einer Privatschule überantwortet wurde, die
den Ruhm hatte, auch die verkommensten Subjekte durch Prüfungen zu bringen,
vernahm ich von deren erstem Lehrer das schöne Wort: Da man junge Hunde
und Bären abrichten kann, braucht mau an jungen Menschen nicht zu verzweifeln.
Das war nicht gerade ermutigend; doch widersprach es nicht den pädagogischen
Grundsätzen meines Vaters, der meine Einführung bei dem Direktor mit den
Worten begleitete: „Der Bild ist gut, indessen wenn er nicht pariert, schlagen Sie
ihn brann und blau." Wiewohl uun dieser Direktor von berüchtigter Schlag¬
fertigkeit war — vou den Fortschritten der Technik begeistert prügelte er nicht mit
dem Rohr wie die gewöhnlichen Lehrer, sondern mit einem kurzen Kautschukkuüppel,
dessen eigenhändige Herstellung er uns eingehend schilderte —, habe ich von ihm
nicht zu leiden gehabt, sondern weiß ihm aufrichtigen Dank. Als Schulmann wird
er wohl mittelmäßig gewesen sein, seine Unterrichtsstunden waren verworren, plan¬
los; aber er hatte die Gewohnheit, von deren Gegenstand fast immer abzuschweifen,
und aus seinen Erzählungen, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten und eben
deswegen uns doppelt fesselten, haben wir alle viel gelernt. Er war Pflanzen-
und Jnsektensammler, begeistert für Physik und Chemie; dabei unterrichtete er in
alten und neuen Sprachen. Man kann sich das Ragout seines Unterrichts denken;
aber es mundete uns. Es kommt mir jetzt wie eine Parodie vor, daß wir ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/108>, abgerufen am 21.05.2024.