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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

war doch ein schreckhaftes Ding! -- Gut, das; wir unsre liebe Herrgottssonue
wieder haben! hörte man sagen.

Es ist eine Warnung, hatte ich auch sagen hören, und dieses Wort gab mir
zu denken. Eine Warnung an wen? Und von wem? Ich nahm mir vor, Obacht
zu geben, wie es nun mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die un¬
bestimmte Befürchtung, daß die Warnung wohl von ihr selbst ausgegangen sei,
und daß die Verfinsterung vielleicht sagen sollte, sie werde jetzt öfters verhindert sein,
so regelmäßig wie bisher des Vormittags zwischen dem Rotdorn und dem Ro߬
kastanienbaum hervorzukommen, deren Blüten sie zur hellen Glut entzündete, und
werde des Abends nicht hinter dem langen Dach der Maschinenfabrik verschwinden,
dessen Blechplatten dabei jedesmal zu schmelzen und in Fluß zu geraten schienen.
Diese Befürchtung war glücklicherweise nicht begründet; wohl entzündete die Sonne
im Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil sie etwa trüber geworden
wäre, indem von der Verfinsterung etwas an ihr haften geblieben wäre, sondern weil
diese Blumen des Frühlings hingewelkt waren. Diese Sonne mochte schon viele
zur Blüte geweckt und zum Grabe geleitet haben! Als ich einige Wochen danach
mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden wohnen durfte, erbat ich mir
die Erlaubnis, mit den Erwachsnen den Sonnenaufgang an einem klaren Morgen
sehen zu dürfen. Und als ich die Feuerkugel zwischen laugen grauen Nachtwolken,
die noch wie im Schlafe hingestreckt waren, rein und hell hervorschweben sah, war
ich beruhigt: es war die alte Sonne, die da heiter emporstieg. Nur über eins
war ich erstaunt: daß sie einen Augenblick gezögert hatte, sich von der untern
Wolke loszumachen, und dann rascher emporgeschwcbt war. Ich erklärte mir das
als einen Nest von der Furcht vor der Verfinsterung, der sie eben noch glücklich
entgangen war. Die Morgenwolken sahen gefährlich genug aus, und ein sonnen¬
loser Regentag war ihr Werk. Natürlich hatte sich die Sonne bedacht, ehe sie
heraufgeschwebt war und sogleich wieder verfinstert werden sollte. An demselben
Abend habe ich sie als volle Kugel im blauen Dunst der Rheinebene so rasch hinab¬
sinken sehen, daß es schien, als müsse im nächsten Augenblick ein gewaltig tönendes
Aufprallen auf den: Granit der Vogesen erfolgen. Aber sie ging wie Luft in Luft
in die Dunststreifen über, es war ein Dahinschmelzcn, und nur das Blntrot, das
dann alles überfloß, mochte an einen gewaltsamen Untergang erinnern.

Als auf der Rückfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war, und ich gefragt
wurde, was mir daran um besten gefallen habe, meinte ich: der Augenblick, wo es
Tag wird. Ich erinnerte mich dabei an den Moment der Christbescheruug, die
damals noch am Christtagmorgen stattfand, wo zwischen die noch fortbreunenden
Lichtchen des Tcmuenbnums auf einmal das volle Tageslicht hereinflutet, und meinte,
gerade so seien die letzten Sterne am Himmel gestanden, eben noch aufglühend,
ehe die Sonne ganz oben war; dann seien sie ganz bescheiden und still verlöscht.

Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der Schornsteinfeger, der
einigemal unvermutet mit Kugel und Besen aus einem Schornstein aufgetaucht, auf
dem Dachfirst hingegangen und wieder verschwunden war, ein rätselhafter, geheimnis¬
voller Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm ich anch für ihn
keine Verbindung mit der untern an, er lebte nun einmal dort oben, und es fielen
mir keine vierfachen Treppen ein, die herabführen könnten. So gesellte ich ihn
denn zum Christkindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen Schneider
und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß sie alle mit der Sonne, den
Sternen und dem Mond das Gemeinsame hatten, zu erscheinen und zu Verschwinden
und oft lauge Zeit verschwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern
Existenzen hatte ich auch unten auf der Erde gesehen; die rotbäckige Bäckermarie,
die in einem Eckfenster um der Straße hinter Semmeln, so rund wie ihr Gesicht,
und Brezeln zu sitzen pflegte, war einmal an einem der Dachfenster erschienen und
hatte den Wolken und den Schwalben nachgesehen. Das hatte freilich meine Auf¬
fassung von einem besondern und höhern Leben in Luft- und Lichtreichtum dort
oben nicht erschüttert. Vielmehr schien eine Bemerkung Gnstavs, die andre lachen


Glücksinseln und Träume

war doch ein schreckhaftes Ding! — Gut, das; wir unsre liebe Herrgottssonue
wieder haben! hörte man sagen.

Es ist eine Warnung, hatte ich auch sagen hören, und dieses Wort gab mir
zu denken. Eine Warnung an wen? Und von wem? Ich nahm mir vor, Obacht
zu geben, wie es nun mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die un¬
bestimmte Befürchtung, daß die Warnung wohl von ihr selbst ausgegangen sei,
und daß die Verfinsterung vielleicht sagen sollte, sie werde jetzt öfters verhindert sein,
so regelmäßig wie bisher des Vormittags zwischen dem Rotdorn und dem Ro߬
kastanienbaum hervorzukommen, deren Blüten sie zur hellen Glut entzündete, und
werde des Abends nicht hinter dem langen Dach der Maschinenfabrik verschwinden,
dessen Blechplatten dabei jedesmal zu schmelzen und in Fluß zu geraten schienen.
Diese Befürchtung war glücklicherweise nicht begründet; wohl entzündete die Sonne
im Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil sie etwa trüber geworden
wäre, indem von der Verfinsterung etwas an ihr haften geblieben wäre, sondern weil
diese Blumen des Frühlings hingewelkt waren. Diese Sonne mochte schon viele
zur Blüte geweckt und zum Grabe geleitet haben! Als ich einige Wochen danach
mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden wohnen durfte, erbat ich mir
die Erlaubnis, mit den Erwachsnen den Sonnenaufgang an einem klaren Morgen
sehen zu dürfen. Und als ich die Feuerkugel zwischen laugen grauen Nachtwolken,
die noch wie im Schlafe hingestreckt waren, rein und hell hervorschweben sah, war
ich beruhigt: es war die alte Sonne, die da heiter emporstieg. Nur über eins
war ich erstaunt: daß sie einen Augenblick gezögert hatte, sich von der untern
Wolke loszumachen, und dann rascher emporgeschwcbt war. Ich erklärte mir das
als einen Nest von der Furcht vor der Verfinsterung, der sie eben noch glücklich
entgangen war. Die Morgenwolken sahen gefährlich genug aus, und ein sonnen¬
loser Regentag war ihr Werk. Natürlich hatte sich die Sonne bedacht, ehe sie
heraufgeschwebt war und sogleich wieder verfinstert werden sollte. An demselben
Abend habe ich sie als volle Kugel im blauen Dunst der Rheinebene so rasch hinab¬
sinken sehen, daß es schien, als müsse im nächsten Augenblick ein gewaltig tönendes
Aufprallen auf den: Granit der Vogesen erfolgen. Aber sie ging wie Luft in Luft
in die Dunststreifen über, es war ein Dahinschmelzcn, und nur das Blntrot, das
dann alles überfloß, mochte an einen gewaltsamen Untergang erinnern.

Als auf der Rückfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war, und ich gefragt
wurde, was mir daran um besten gefallen habe, meinte ich: der Augenblick, wo es
Tag wird. Ich erinnerte mich dabei an den Moment der Christbescheruug, die
damals noch am Christtagmorgen stattfand, wo zwischen die noch fortbreunenden
Lichtchen des Tcmuenbnums auf einmal das volle Tageslicht hereinflutet, und meinte,
gerade so seien die letzten Sterne am Himmel gestanden, eben noch aufglühend,
ehe die Sonne ganz oben war; dann seien sie ganz bescheiden und still verlöscht.

Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der Schornsteinfeger, der
einigemal unvermutet mit Kugel und Besen aus einem Schornstein aufgetaucht, auf
dem Dachfirst hingegangen und wieder verschwunden war, ein rätselhafter, geheimnis¬
voller Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm ich anch für ihn
keine Verbindung mit der untern an, er lebte nun einmal dort oben, und es fielen
mir keine vierfachen Treppen ein, die herabführen könnten. So gesellte ich ihn
denn zum Christkindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen Schneider
und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß sie alle mit der Sonne, den
Sternen und dem Mond das Gemeinsame hatten, zu erscheinen und zu Verschwinden
und oft lauge Zeit verschwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern
Existenzen hatte ich auch unten auf der Erde gesehen; die rotbäckige Bäckermarie,
die in einem Eckfenster um der Straße hinter Semmeln, so rund wie ihr Gesicht,
und Brezeln zu sitzen pflegte, war einmal an einem der Dachfenster erschienen und
hatte den Wolken und den Schwalben nachgesehen. Das hatte freilich meine Auf¬
fassung von einem besondern und höhern Leben in Luft- und Lichtreichtum dort
oben nicht erschüttert. Vielmehr schien eine Bemerkung Gnstavs, die andre lachen


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[0048] Glücksinseln und Träume war doch ein schreckhaftes Ding! — Gut, das; wir unsre liebe Herrgottssonue wieder haben! hörte man sagen. Es ist eine Warnung, hatte ich auch sagen hören, und dieses Wort gab mir zu denken. Eine Warnung an wen? Und von wem? Ich nahm mir vor, Obacht zu geben, wie es nun mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die un¬ bestimmte Befürchtung, daß die Warnung wohl von ihr selbst ausgegangen sei, und daß die Verfinsterung vielleicht sagen sollte, sie werde jetzt öfters verhindert sein, so regelmäßig wie bisher des Vormittags zwischen dem Rotdorn und dem Ro߬ kastanienbaum hervorzukommen, deren Blüten sie zur hellen Glut entzündete, und werde des Abends nicht hinter dem langen Dach der Maschinenfabrik verschwinden, dessen Blechplatten dabei jedesmal zu schmelzen und in Fluß zu geraten schienen. Diese Befürchtung war glücklicherweise nicht begründet; wohl entzündete die Sonne im Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil sie etwa trüber geworden wäre, indem von der Verfinsterung etwas an ihr haften geblieben wäre, sondern weil diese Blumen des Frühlings hingewelkt waren. Diese Sonne mochte schon viele zur Blüte geweckt und zum Grabe geleitet haben! Als ich einige Wochen danach mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden wohnen durfte, erbat ich mir die Erlaubnis, mit den Erwachsnen den Sonnenaufgang an einem klaren Morgen sehen zu dürfen. Und als ich die Feuerkugel zwischen laugen grauen Nachtwolken, die noch wie im Schlafe hingestreckt waren, rein und hell hervorschweben sah, war ich beruhigt: es war die alte Sonne, die da heiter emporstieg. Nur über eins war ich erstaunt: daß sie einen Augenblick gezögert hatte, sich von der untern Wolke loszumachen, und dann rascher emporgeschwcbt war. Ich erklärte mir das als einen Nest von der Furcht vor der Verfinsterung, der sie eben noch glücklich entgangen war. Die Morgenwolken sahen gefährlich genug aus, und ein sonnen¬ loser Regentag war ihr Werk. Natürlich hatte sich die Sonne bedacht, ehe sie heraufgeschwebt war und sogleich wieder verfinstert werden sollte. An demselben Abend habe ich sie als volle Kugel im blauen Dunst der Rheinebene so rasch hinab¬ sinken sehen, daß es schien, als müsse im nächsten Augenblick ein gewaltig tönendes Aufprallen auf den: Granit der Vogesen erfolgen. Aber sie ging wie Luft in Luft in die Dunststreifen über, es war ein Dahinschmelzcn, und nur das Blntrot, das dann alles überfloß, mochte an einen gewaltsamen Untergang erinnern. Als auf der Rückfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war, und ich gefragt wurde, was mir daran um besten gefallen habe, meinte ich: der Augenblick, wo es Tag wird. Ich erinnerte mich dabei an den Moment der Christbescheruug, die damals noch am Christtagmorgen stattfand, wo zwischen die noch fortbreunenden Lichtchen des Tcmuenbnums auf einmal das volle Tageslicht hereinflutet, und meinte, gerade so seien die letzten Sterne am Himmel gestanden, eben noch aufglühend, ehe die Sonne ganz oben war; dann seien sie ganz bescheiden und still verlöscht. Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der Schornsteinfeger, der einigemal unvermutet mit Kugel und Besen aus einem Schornstein aufgetaucht, auf dem Dachfirst hingegangen und wieder verschwunden war, ein rätselhafter, geheimnis¬ voller Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm ich anch für ihn keine Verbindung mit der untern an, er lebte nun einmal dort oben, und es fielen mir keine vierfachen Treppen ein, die herabführen könnten. So gesellte ich ihn denn zum Christkindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen Schneider und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß sie alle mit der Sonne, den Sternen und dem Mond das Gemeinsame hatten, zu erscheinen und zu Verschwinden und oft lauge Zeit verschwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern Existenzen hatte ich auch unten auf der Erde gesehen; die rotbäckige Bäckermarie, die in einem Eckfenster um der Straße hinter Semmeln, so rund wie ihr Gesicht, und Brezeln zu sitzen pflegte, war einmal an einem der Dachfenster erschienen und hatte den Wolken und den Schwalben nachgesehen. Das hatte freilich meine Auf¬ fassung von einem besondern und höhern Leben in Luft- und Lichtreichtum dort oben nicht erschüttert. Vielmehr schien eine Bemerkung Gnstavs, die andre lachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/48>, abgerufen am 14.06.2024.