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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Unsinn ist. Das freie England denkt gar nicht daran, solche Experimente zu
machen, obgleich es in seinem Oberhause ein hinlängliches Gegengewicht gegen ein
demokratisiertes Unterhaus hätte. Aber England müßte an dem Tage, wo es sich
der Massenherrschaft unterwürfe, seine Weltmachtstellung abdanken.

Auf dieser Erde ist nichts Unnatürliches von Dauer, und von allen politischen
Einrichtungen ist die unnatürlichste die am meisten naturwidrige -- die Massen¬
herrschaft. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die preußische Regierung die Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts für eine Volksvertretung am Bunde schon 1863
in Aussicht genommen, dann 1867 sogar die geheime Ausübung mit in den Kauf
genommen -- die verhängnisvolle Zutat unsers theoretisierenden Liberalismus --
und es in dieser Gestalt bei der Aufrichtung der Reichsverfassung sogar gegen liberalen
Widerspruch aufrecht erhalten hat. um nur erst das deutsche Haus unter Dach zu
bringen. Das allgemeine Wahlrecht war ihr damals eine scharfe Waffe gegen innere
und äußere Gegnerschaft. Nach 1866 erschien es zudem als Korrelat der allgemeinen
Wehrpflicht, durch die Preußen seine siegreichen Kriege geführt und sich den Gegnern
überlegen erwiesen hatte. Dem siegreichen, intelligenten Soldaten sollte als Bürger
das Wahlrecht nicht vorenthalten werden in dem Vertrauen, daß er als Wähler
dieselbe loyale und nationale tapfere Gesinnung betätigen werde, die ihm soeben
unter den Fahnen die Bewunderung der zivilisierten Welt eingetragen hatte. Das
Reich, das der "brave Musketier" auf dem Schlachtfelde geschaffen hatte, sollte ihn
nicht als Wähler degradieren. Man durfte darauf vertrauen, daß er sich die Erhaltung
des durch den Sieg Gewonnenen angelegen sein lassen werde, man formte aus den
Siegern von Königgrätz und sedem ein politisches Landsturmaufgebot. Es hätte
im Herbst 1866 bei der preußischen Regierung gestanden, nicht nur dem Nord¬
deutschen Bunde, sondern vor allen Dingen Preußen selbst einen wesentlich konserva¬
tivem Zuschnitt zu geben. Der Gedanke wurde in der Umgebung des Königs
wie im Rate der Krone mit Nachdruck verfochten. Bismarck hat sich ihm entgegen¬
gesetzt in der Überzeugung, daß das neue Deutschland viele Schranken abzubrechen,
eine große .einheitliche wirtschaftliche und gesetzgeberische Entwicklung anzubahnen
habe, und daß diese Aufgabe erfolgreich nur durch die nationale Idee zu lösen sei.
Die nationale Idee war aber damals liberal. Wir wissen heute dokumentarisch, daß
zu jener Zeit die Wege der Bismarckschen Politik wiederholt hart bis an die Prokla¬
mierung der Reichsverfassung von 1849 heranreichten, vor der damals jeder ehr¬
liche preußische Konservative sich bekreuzte. Nicht er allein hat 1867 auf das
Preußische Wahlrecht gescholten in Erinnerung an die Kämpfe der Konfliktsjahre,
auch Graf Bernstorff, sein Vorgänger im Auswärtigen Amt, schreibt ihm schon unter
dem 3. April 1862 von dem "scheußlichen Wahlgesetz" nach Petersburg. Dennoch
hat Bismarck in den dreiundzwanzig Jahren seiner Ministerschaft keinen Finger
gerührt, dieses Wahlrecht zu ändern. Ein so ungeheures numerisches Anwachsen
der Bevölkerung hat in der Zeit der Entstehung des Reichs niemand voraus¬
gesehen, ebensowenig eine so gewaltige wirtschaftliche Entwicklung und -- aus dem
Zusammenwirken beider -- die durch das allgemeine Stimmrecht herbeigeführte
Massenorganisation. Bismarck schreckte später "vor zwei Dutzend, selbst vor drei
Dutzend Sozialdemokraten im Reichstage nicht zurück," aber er hat die Be¬
kämpfung der Sozialdemokratie sowohl durch entschlossene Repression als durch
nebenhergehende Hebung der sozialen und der materiellen Stufe der Arbeiter
immer als die wichtigste Aufgabe der innern Politik angesehen. Er hat mit Rom
Frieden geschlossen, um das Papsttum in diesem Kampfe nicht zum Gegner, sondern
zum natürlichen Verbündeten zu haben; freilich hat er dem Papsttum dabei einen
stärkern Einfluß auf die politisch organisierten deutschen Katholiken zugetraut, als
es in Wirklichkeit hat und auszuüben vermag.

Tatsächlich sind Einfluß und Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts, die Er¬
haltung des Mandatsbesitzstandes, für das Zentrum maßgebender als die Wünsche
Roms, und auch in den Erwägungen der Kurie wird die Neigung, die deutsche
Regierung in ihren innern Schwierigkeiten zu unterstützen, doch immer nur ein
bedingtes Gewicht haben. Bei dieser Sachlage ist es selbstverständlich, daß die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Unsinn ist. Das freie England denkt gar nicht daran, solche Experimente zu
machen, obgleich es in seinem Oberhause ein hinlängliches Gegengewicht gegen ein
demokratisiertes Unterhaus hätte. Aber England müßte an dem Tage, wo es sich
der Massenherrschaft unterwürfe, seine Weltmachtstellung abdanken.

Auf dieser Erde ist nichts Unnatürliches von Dauer, und von allen politischen
Einrichtungen ist die unnatürlichste die am meisten naturwidrige — die Massen¬
herrschaft. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die preußische Regierung die Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts für eine Volksvertretung am Bunde schon 1863
in Aussicht genommen, dann 1867 sogar die geheime Ausübung mit in den Kauf
genommen — die verhängnisvolle Zutat unsers theoretisierenden Liberalismus —
und es in dieser Gestalt bei der Aufrichtung der Reichsverfassung sogar gegen liberalen
Widerspruch aufrecht erhalten hat. um nur erst das deutsche Haus unter Dach zu
bringen. Das allgemeine Wahlrecht war ihr damals eine scharfe Waffe gegen innere
und äußere Gegnerschaft. Nach 1866 erschien es zudem als Korrelat der allgemeinen
Wehrpflicht, durch die Preußen seine siegreichen Kriege geführt und sich den Gegnern
überlegen erwiesen hatte. Dem siegreichen, intelligenten Soldaten sollte als Bürger
das Wahlrecht nicht vorenthalten werden in dem Vertrauen, daß er als Wähler
dieselbe loyale und nationale tapfere Gesinnung betätigen werde, die ihm soeben
unter den Fahnen die Bewunderung der zivilisierten Welt eingetragen hatte. Das
Reich, das der „brave Musketier" auf dem Schlachtfelde geschaffen hatte, sollte ihn
nicht als Wähler degradieren. Man durfte darauf vertrauen, daß er sich die Erhaltung
des durch den Sieg Gewonnenen angelegen sein lassen werde, man formte aus den
Siegern von Königgrätz und sedem ein politisches Landsturmaufgebot. Es hätte
im Herbst 1866 bei der preußischen Regierung gestanden, nicht nur dem Nord¬
deutschen Bunde, sondern vor allen Dingen Preußen selbst einen wesentlich konserva¬
tivem Zuschnitt zu geben. Der Gedanke wurde in der Umgebung des Königs
wie im Rate der Krone mit Nachdruck verfochten. Bismarck hat sich ihm entgegen¬
gesetzt in der Überzeugung, daß das neue Deutschland viele Schranken abzubrechen,
eine große .einheitliche wirtschaftliche und gesetzgeberische Entwicklung anzubahnen
habe, und daß diese Aufgabe erfolgreich nur durch die nationale Idee zu lösen sei.
Die nationale Idee war aber damals liberal. Wir wissen heute dokumentarisch, daß
zu jener Zeit die Wege der Bismarckschen Politik wiederholt hart bis an die Prokla¬
mierung der Reichsverfassung von 1849 heranreichten, vor der damals jeder ehr¬
liche preußische Konservative sich bekreuzte. Nicht er allein hat 1867 auf das
Preußische Wahlrecht gescholten in Erinnerung an die Kämpfe der Konfliktsjahre,
auch Graf Bernstorff, sein Vorgänger im Auswärtigen Amt, schreibt ihm schon unter
dem 3. April 1862 von dem „scheußlichen Wahlgesetz" nach Petersburg. Dennoch
hat Bismarck in den dreiundzwanzig Jahren seiner Ministerschaft keinen Finger
gerührt, dieses Wahlrecht zu ändern. Ein so ungeheures numerisches Anwachsen
der Bevölkerung hat in der Zeit der Entstehung des Reichs niemand voraus¬
gesehen, ebensowenig eine so gewaltige wirtschaftliche Entwicklung und — aus dem
Zusammenwirken beider — die durch das allgemeine Stimmrecht herbeigeführte
Massenorganisation. Bismarck schreckte später „vor zwei Dutzend, selbst vor drei
Dutzend Sozialdemokraten im Reichstage nicht zurück," aber er hat die Be¬
kämpfung der Sozialdemokratie sowohl durch entschlossene Repression als durch
nebenhergehende Hebung der sozialen und der materiellen Stufe der Arbeiter
immer als die wichtigste Aufgabe der innern Politik angesehen. Er hat mit Rom
Frieden geschlossen, um das Papsttum in diesem Kampfe nicht zum Gegner, sondern
zum natürlichen Verbündeten zu haben; freilich hat er dem Papsttum dabei einen
stärkern Einfluß auf die politisch organisierten deutschen Katholiken zugetraut, als
es in Wirklichkeit hat und auszuüben vermag.

Tatsächlich sind Einfluß und Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts, die Er¬
haltung des Mandatsbesitzstandes, für das Zentrum maßgebender als die Wünsche
Roms, und auch in den Erwägungen der Kurie wird die Neigung, die deutsche
Regierung in ihren innern Schwierigkeiten zu unterstützen, doch immer nur ein
bedingtes Gewicht haben. Bei dieser Sachlage ist es selbstverständlich, daß die


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[0629] Maßgebliches und Unmaßgebliches Unsinn ist. Das freie England denkt gar nicht daran, solche Experimente zu machen, obgleich es in seinem Oberhause ein hinlängliches Gegengewicht gegen ein demokratisiertes Unterhaus hätte. Aber England müßte an dem Tage, wo es sich der Massenherrschaft unterwürfe, seine Weltmachtstellung abdanken. Auf dieser Erde ist nichts Unnatürliches von Dauer, und von allen politischen Einrichtungen ist die unnatürlichste die am meisten naturwidrige — die Massen¬ herrschaft. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die preußische Regierung die Ein¬ führung des allgemeinen Wahlrechts für eine Volksvertretung am Bunde schon 1863 in Aussicht genommen, dann 1867 sogar die geheime Ausübung mit in den Kauf genommen — die verhängnisvolle Zutat unsers theoretisierenden Liberalismus — und es in dieser Gestalt bei der Aufrichtung der Reichsverfassung sogar gegen liberalen Widerspruch aufrecht erhalten hat. um nur erst das deutsche Haus unter Dach zu bringen. Das allgemeine Wahlrecht war ihr damals eine scharfe Waffe gegen innere und äußere Gegnerschaft. Nach 1866 erschien es zudem als Korrelat der allgemeinen Wehrpflicht, durch die Preußen seine siegreichen Kriege geführt und sich den Gegnern überlegen erwiesen hatte. Dem siegreichen, intelligenten Soldaten sollte als Bürger das Wahlrecht nicht vorenthalten werden in dem Vertrauen, daß er als Wähler dieselbe loyale und nationale tapfere Gesinnung betätigen werde, die ihm soeben unter den Fahnen die Bewunderung der zivilisierten Welt eingetragen hatte. Das Reich, das der „brave Musketier" auf dem Schlachtfelde geschaffen hatte, sollte ihn nicht als Wähler degradieren. Man durfte darauf vertrauen, daß er sich die Erhaltung des durch den Sieg Gewonnenen angelegen sein lassen werde, man formte aus den Siegern von Königgrätz und sedem ein politisches Landsturmaufgebot. Es hätte im Herbst 1866 bei der preußischen Regierung gestanden, nicht nur dem Nord¬ deutschen Bunde, sondern vor allen Dingen Preußen selbst einen wesentlich konserva¬ tivem Zuschnitt zu geben. Der Gedanke wurde in der Umgebung des Königs wie im Rate der Krone mit Nachdruck verfochten. Bismarck hat sich ihm entgegen¬ gesetzt in der Überzeugung, daß das neue Deutschland viele Schranken abzubrechen, eine große .einheitliche wirtschaftliche und gesetzgeberische Entwicklung anzubahnen habe, und daß diese Aufgabe erfolgreich nur durch die nationale Idee zu lösen sei. Die nationale Idee war aber damals liberal. Wir wissen heute dokumentarisch, daß zu jener Zeit die Wege der Bismarckschen Politik wiederholt hart bis an die Prokla¬ mierung der Reichsverfassung von 1849 heranreichten, vor der damals jeder ehr¬ liche preußische Konservative sich bekreuzte. Nicht er allein hat 1867 auf das Preußische Wahlrecht gescholten in Erinnerung an die Kämpfe der Konfliktsjahre, auch Graf Bernstorff, sein Vorgänger im Auswärtigen Amt, schreibt ihm schon unter dem 3. April 1862 von dem „scheußlichen Wahlgesetz" nach Petersburg. Dennoch hat Bismarck in den dreiundzwanzig Jahren seiner Ministerschaft keinen Finger gerührt, dieses Wahlrecht zu ändern. Ein so ungeheures numerisches Anwachsen der Bevölkerung hat in der Zeit der Entstehung des Reichs niemand voraus¬ gesehen, ebensowenig eine so gewaltige wirtschaftliche Entwicklung und — aus dem Zusammenwirken beider — die durch das allgemeine Stimmrecht herbeigeführte Massenorganisation. Bismarck schreckte später „vor zwei Dutzend, selbst vor drei Dutzend Sozialdemokraten im Reichstage nicht zurück," aber er hat die Be¬ kämpfung der Sozialdemokratie sowohl durch entschlossene Repression als durch nebenhergehende Hebung der sozialen und der materiellen Stufe der Arbeiter immer als die wichtigste Aufgabe der innern Politik angesehen. Er hat mit Rom Frieden geschlossen, um das Papsttum in diesem Kampfe nicht zum Gegner, sondern zum natürlichen Verbündeten zu haben; freilich hat er dem Papsttum dabei einen stärkern Einfluß auf die politisch organisierten deutschen Katholiken zugetraut, als es in Wirklichkeit hat und auszuüben vermag. Tatsächlich sind Einfluß und Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts, die Er¬ haltung des Mandatsbesitzstandes, für das Zentrum maßgebender als die Wünsche Roms, und auch in den Erwägungen der Kurie wird die Neigung, die deutsche Regierung in ihren innern Schwierigkeiten zu unterstützen, doch immer nur ein bedingtes Gewicht haben. Bei dieser Sachlage ist es selbstverständlich, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/629>, abgerufen am 19.05.2024.