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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

preußische Regierung nicht an eine Wahlrechtsreform denken kann, die auch im
preußischen Landtage der Massenherrschaft Tor und Tür öffnen würde, und aus
eben diesem Grunde bleibt es sehr bedauerlich, daß sich in Baden der Liberalismus
zu diesem Schritte entschlossen hat, dessen Wirkungen nur seineu Gegnern zugute
kommen können. In der Entwicklungszeit des Reiches mag das allgemeine Stimm-
recht vorübergehend als starker Balken im Reichsbau mit Erfolg verwandt worden
sein, heute dient es nur noch dazu, die Fundamente zu zerstören und einen Trag¬
balken nach dem andern herauszubrechen. Die Zeit, in der das geheime gleiche Wahl¬
recht mit der monarchisch-konstitutionellen Staatsordnung dauernd vereinbar schien, ist
offenbar vorüber, und wir sind vielleicht nicht mehr weit von dem Scheidewege, wo
sich Deutschland für das eine oder das andre zu entschließen haben wird. Wir
haben keinen Grund, konstitutioneller als England zu sein, dessen Verfassung ein
freies Spiel aller Kräfte, aber in der Unterordnung unter die Gesamtheit des
Staatsinteresses garantiert, und haben allen Anlaß, bei der Reichsverfassung, der
das wirkungsvolle Schutzdach des englischen Oberhauses fehlt, um so vorsichtiger
zu werden.

Solche Erwägungen treten unwillkürlich näher bei dem Spielen mit dem
Feuer des Generalstreiks in den sozialdemokratischen Reden und Schriften, bei
den Versuchen, mit Aufgeboten der Massen zu wirken, wie es in Breslau be¬
absichtigt war, und wie man es in Sachsen betätigt hat. In Rußland erprobt
die Sozialdemokratie eine neue Technik der Revolution, und je nach dem Aus¬
fall dieser "Generalprobe," die ihre Schatten ja auch schon nach Wien und nach
Pest geworfen hat, gedenkt man zur gegebnen Zeit die Inszenierung in Deutsch¬
land einzurichten. "Je nach Ausfall." Wir glauben, daß das Ende vom Liede
weder für die Führer noch für die Verführten in Rußland erfreulich sein wird.
Bei der Lebenshaltung, an die die untern Klassen in Rußland gewöhnt sind, war
das Experiment dort möglich. Der deutsche Arbeiter und mehr noch seine Frau
und Kinder würden sich für die Hungerkur eines mehrwöchigen Generalstreiks be¬
danken. Und zu welchem Zweck sollte dieser dienen? Die politischen Rechte, die
man in Rußland angeblich dadurch erzwingen will, hat der deutsche Arbeiter seit
mehr als einem Menschenalter in Hülle und Fülle, es handelt sich demnach nur um
die Zertrümmerung der staatlichen Ordnung. Um so mehr dürfte es an der Zeit
sein, daß sich die Behörden und das gesamte Publikum mehr und mehr mit dem
Gedanken durchdringen, den Generalstreik nicht etwa wie einen Streik in Lohnfragen
als auf dem Boden der Gewerbeordnung prinzipiell erlaubt anzusehen. Der General¬
streik würde völlig außerhalb des Koalitionsrechts stehn und in jeder Be¬
ziehung gegen verschiedne Bestimmungen der ersten sieben Abschnitte des Strafgesetz¬
buchs verstoßen. Er wäre einer Verschwörung gegen den Staat, unter Umständen dem
Reichsverrat gleich zu erachten. Die Staatsanwaltschaften und die Gerichte sollten
darum gegen Reden und gegen Zeitungsartikel nicht länger gleichgiltig bleiben, die
nichts weiter sind als Aufforderungen, wenn uicht gar Vorbereitungen zu uner¬
laubten, in ihren Folgen gemeingefährlichen Handlungen. Das erste Einschreiten
dieser Art liegt erfreulicherweise aus Breslau vor.

Rosa Luxemburg mag vielen nur als komische Figur erscheinen, aber wenn sie
in einer öffentlichen Rede ankündigt, daß die Truppen in Deutschland dem in Rußland
gegebnen Beispiel des Eidbruchs und der Untreue folgen würden, so muß man sich
doch wundern, daß sie nicht als lästige Ausländerin binnen vierundzwanzig Stunden
über die Grenze spediert und bis dahin hinter Schloß und Riegel gesetzt wird.
Die Polizei mag gute Gründe haben, den Leuten, die Wind säen, um im Sturme
zu ernten, eine gewisse Bewegungsfreiheit zu lassen. In normalen Zeitläuften ist
das angebracht. Aber in Zeiten wie die augenblicklichen trägt eine solche Duldsamkeit
sehr viel dazu bei, die Rechtsbegriffe im Volke zu verwirren, das Gefühl für Recht
und Unrecht, für Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit, ja für Gesetzlosigkeit abzuschwächen.
Hoffentlich kann sich Deutschland wie für die Erhaltung seines äußern Friedens so auch


Maßgebliches und Unmaßgebliches

preußische Regierung nicht an eine Wahlrechtsreform denken kann, die auch im
preußischen Landtage der Massenherrschaft Tor und Tür öffnen würde, und aus
eben diesem Grunde bleibt es sehr bedauerlich, daß sich in Baden der Liberalismus
zu diesem Schritte entschlossen hat, dessen Wirkungen nur seineu Gegnern zugute
kommen können. In der Entwicklungszeit des Reiches mag das allgemeine Stimm-
recht vorübergehend als starker Balken im Reichsbau mit Erfolg verwandt worden
sein, heute dient es nur noch dazu, die Fundamente zu zerstören und einen Trag¬
balken nach dem andern herauszubrechen. Die Zeit, in der das geheime gleiche Wahl¬
recht mit der monarchisch-konstitutionellen Staatsordnung dauernd vereinbar schien, ist
offenbar vorüber, und wir sind vielleicht nicht mehr weit von dem Scheidewege, wo
sich Deutschland für das eine oder das andre zu entschließen haben wird. Wir
haben keinen Grund, konstitutioneller als England zu sein, dessen Verfassung ein
freies Spiel aller Kräfte, aber in der Unterordnung unter die Gesamtheit des
Staatsinteresses garantiert, und haben allen Anlaß, bei der Reichsverfassung, der
das wirkungsvolle Schutzdach des englischen Oberhauses fehlt, um so vorsichtiger
zu werden.

Solche Erwägungen treten unwillkürlich näher bei dem Spielen mit dem
Feuer des Generalstreiks in den sozialdemokratischen Reden und Schriften, bei
den Versuchen, mit Aufgeboten der Massen zu wirken, wie es in Breslau be¬
absichtigt war, und wie man es in Sachsen betätigt hat. In Rußland erprobt
die Sozialdemokratie eine neue Technik der Revolution, und je nach dem Aus¬
fall dieser „Generalprobe," die ihre Schatten ja auch schon nach Wien und nach
Pest geworfen hat, gedenkt man zur gegebnen Zeit die Inszenierung in Deutsch¬
land einzurichten. „Je nach Ausfall." Wir glauben, daß das Ende vom Liede
weder für die Führer noch für die Verführten in Rußland erfreulich sein wird.
Bei der Lebenshaltung, an die die untern Klassen in Rußland gewöhnt sind, war
das Experiment dort möglich. Der deutsche Arbeiter und mehr noch seine Frau
und Kinder würden sich für die Hungerkur eines mehrwöchigen Generalstreiks be¬
danken. Und zu welchem Zweck sollte dieser dienen? Die politischen Rechte, die
man in Rußland angeblich dadurch erzwingen will, hat der deutsche Arbeiter seit
mehr als einem Menschenalter in Hülle und Fülle, es handelt sich demnach nur um
die Zertrümmerung der staatlichen Ordnung. Um so mehr dürfte es an der Zeit
sein, daß sich die Behörden und das gesamte Publikum mehr und mehr mit dem
Gedanken durchdringen, den Generalstreik nicht etwa wie einen Streik in Lohnfragen
als auf dem Boden der Gewerbeordnung prinzipiell erlaubt anzusehen. Der General¬
streik würde völlig außerhalb des Koalitionsrechts stehn und in jeder Be¬
ziehung gegen verschiedne Bestimmungen der ersten sieben Abschnitte des Strafgesetz¬
buchs verstoßen. Er wäre einer Verschwörung gegen den Staat, unter Umständen dem
Reichsverrat gleich zu erachten. Die Staatsanwaltschaften und die Gerichte sollten
darum gegen Reden und gegen Zeitungsartikel nicht länger gleichgiltig bleiben, die
nichts weiter sind als Aufforderungen, wenn uicht gar Vorbereitungen zu uner¬
laubten, in ihren Folgen gemeingefährlichen Handlungen. Das erste Einschreiten
dieser Art liegt erfreulicherweise aus Breslau vor.

Rosa Luxemburg mag vielen nur als komische Figur erscheinen, aber wenn sie
in einer öffentlichen Rede ankündigt, daß die Truppen in Deutschland dem in Rußland
gegebnen Beispiel des Eidbruchs und der Untreue folgen würden, so muß man sich
doch wundern, daß sie nicht als lästige Ausländerin binnen vierundzwanzig Stunden
über die Grenze spediert und bis dahin hinter Schloß und Riegel gesetzt wird.
Die Polizei mag gute Gründe haben, den Leuten, die Wind säen, um im Sturme
zu ernten, eine gewisse Bewegungsfreiheit zu lassen. In normalen Zeitläuften ist
das angebracht. Aber in Zeiten wie die augenblicklichen trägt eine solche Duldsamkeit
sehr viel dazu bei, die Rechtsbegriffe im Volke zu verwirren, das Gefühl für Recht
und Unrecht, für Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit, ja für Gesetzlosigkeit abzuschwächen.
Hoffentlich kann sich Deutschland wie für die Erhaltung seines äußern Friedens so auch


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[0630] Maßgebliches und Unmaßgebliches preußische Regierung nicht an eine Wahlrechtsreform denken kann, die auch im preußischen Landtage der Massenherrschaft Tor und Tür öffnen würde, und aus eben diesem Grunde bleibt es sehr bedauerlich, daß sich in Baden der Liberalismus zu diesem Schritte entschlossen hat, dessen Wirkungen nur seineu Gegnern zugute kommen können. In der Entwicklungszeit des Reiches mag das allgemeine Stimm- recht vorübergehend als starker Balken im Reichsbau mit Erfolg verwandt worden sein, heute dient es nur noch dazu, die Fundamente zu zerstören und einen Trag¬ balken nach dem andern herauszubrechen. Die Zeit, in der das geheime gleiche Wahl¬ recht mit der monarchisch-konstitutionellen Staatsordnung dauernd vereinbar schien, ist offenbar vorüber, und wir sind vielleicht nicht mehr weit von dem Scheidewege, wo sich Deutschland für das eine oder das andre zu entschließen haben wird. Wir haben keinen Grund, konstitutioneller als England zu sein, dessen Verfassung ein freies Spiel aller Kräfte, aber in der Unterordnung unter die Gesamtheit des Staatsinteresses garantiert, und haben allen Anlaß, bei der Reichsverfassung, der das wirkungsvolle Schutzdach des englischen Oberhauses fehlt, um so vorsichtiger zu werden. Solche Erwägungen treten unwillkürlich näher bei dem Spielen mit dem Feuer des Generalstreiks in den sozialdemokratischen Reden und Schriften, bei den Versuchen, mit Aufgeboten der Massen zu wirken, wie es in Breslau be¬ absichtigt war, und wie man es in Sachsen betätigt hat. In Rußland erprobt die Sozialdemokratie eine neue Technik der Revolution, und je nach dem Aus¬ fall dieser „Generalprobe," die ihre Schatten ja auch schon nach Wien und nach Pest geworfen hat, gedenkt man zur gegebnen Zeit die Inszenierung in Deutsch¬ land einzurichten. „Je nach Ausfall." Wir glauben, daß das Ende vom Liede weder für die Führer noch für die Verführten in Rußland erfreulich sein wird. Bei der Lebenshaltung, an die die untern Klassen in Rußland gewöhnt sind, war das Experiment dort möglich. Der deutsche Arbeiter und mehr noch seine Frau und Kinder würden sich für die Hungerkur eines mehrwöchigen Generalstreiks be¬ danken. Und zu welchem Zweck sollte dieser dienen? Die politischen Rechte, die man in Rußland angeblich dadurch erzwingen will, hat der deutsche Arbeiter seit mehr als einem Menschenalter in Hülle und Fülle, es handelt sich demnach nur um die Zertrümmerung der staatlichen Ordnung. Um so mehr dürfte es an der Zeit sein, daß sich die Behörden und das gesamte Publikum mehr und mehr mit dem Gedanken durchdringen, den Generalstreik nicht etwa wie einen Streik in Lohnfragen als auf dem Boden der Gewerbeordnung prinzipiell erlaubt anzusehen. Der General¬ streik würde völlig außerhalb des Koalitionsrechts stehn und in jeder Be¬ ziehung gegen verschiedne Bestimmungen der ersten sieben Abschnitte des Strafgesetz¬ buchs verstoßen. Er wäre einer Verschwörung gegen den Staat, unter Umständen dem Reichsverrat gleich zu erachten. Die Staatsanwaltschaften und die Gerichte sollten darum gegen Reden und gegen Zeitungsartikel nicht länger gleichgiltig bleiben, die nichts weiter sind als Aufforderungen, wenn uicht gar Vorbereitungen zu uner¬ laubten, in ihren Folgen gemeingefährlichen Handlungen. Das erste Einschreiten dieser Art liegt erfreulicherweise aus Breslau vor. Rosa Luxemburg mag vielen nur als komische Figur erscheinen, aber wenn sie in einer öffentlichen Rede ankündigt, daß die Truppen in Deutschland dem in Rußland gegebnen Beispiel des Eidbruchs und der Untreue folgen würden, so muß man sich doch wundern, daß sie nicht als lästige Ausländerin binnen vierundzwanzig Stunden über die Grenze spediert und bis dahin hinter Schloß und Riegel gesetzt wird. Die Polizei mag gute Gründe haben, den Leuten, die Wind säen, um im Sturme zu ernten, eine gewisse Bewegungsfreiheit zu lassen. In normalen Zeitläuften ist das angebracht. Aber in Zeiten wie die augenblicklichen trägt eine solche Duldsamkeit sehr viel dazu bei, die Rechtsbegriffe im Volke zu verwirren, das Gefühl für Recht und Unrecht, für Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit, ja für Gesetzlosigkeit abzuschwächen. Hoffentlich kann sich Deutschland wie für die Erhaltung seines äußern Friedens so auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/630>, abgerufen am 11.06.2024.