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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

in seiner Rede nichts enthalten, wohl aber eine ehrliche Entrüstung über Taten
und Menschen, die ihm das unmittelbare Gefühl des Abscheus einflößten. Als
er mit ein paar kräftigen Sentenzen geschlossen hatte, wollte er nach seinem Hute
greifen und gehn. Kondrot hatte die Rede über sich ergehn lassen wie einer, dem
es eine Erleichterung gewährt, eine wohlverdiente Züchtigung zu erhalten. Als er
nun sah, daß der Doktor gehn wollte, schrie er auf, streckte die Hände aus und
rief flehentlich: Erbarmen! ein einziges Wort des Erbarmens! einen einzigen Tropfen
Wasser auf meine Zunge!

Erbarmen? erwiderte der Doktor, Erbarmen für Sie? Meinen Sie, wenn
Sie Ihre Schandtaten erzählen und winseln wie ein Hund, dann sei ungeschehen,
was geschehen ist?

Ja, aber es steht geschrieben, flehte Kondrot, ob eure Sünden gleich blutrot
sind, so sollen sie doch schneeweiß werden. Sagen Sie mir, daß es einen barm¬
herzigen Gott gibt.

Sagen Sie sich das selbst, erwiderte der Doktor, oder lassen Sie sichs von
Ihrem Pastor sagen.

Nein, sagen Sie es mir. Ihnen habe ich nichts getan.

Mir nicht? Kondrot, überlegen Sie sichs, mir nicht?

Kondrot sank in sich zusammen und rang die Hände. Der Doktor griff aber¬
mals nach seinem Hute, und Kondrot flehte: Verlassen Sie mich nicht, Sie sind
meine einzige Hoffnung, verlassen Sie mich um Gottes Jesu willen nicht.

Was sollte er tun? Konnte er dem Manne wiederholen, was er Tauenden
gesagt hatte? Konnte er sagen: Reue ist Inkonsequenz? Gib dir Recht, und du
hast Recht. Sage Ja zu dir, lebe dich aus, verkennte mit Bewußtsein, schlage
mir ins Angesicht, ich darf dich zwar wieder schlagen, aber Vorwürfe darf ich dir
nicht machen und brauchst du dir nicht zu machen. Das war ganz unmöglich. Das
hätte geheißen, sein eignes Recht und den Namen einer teuern Toten preiszugeben.
Oder sollte er sagen: Sünden können getan aber nie vergeben werden? Schuld
wird aufgeladen, aber nie abgenommen? Das würde heißen, dem Menschen eine
Bürde auflegen, die seine Seele nicht tragen kann. Einen Weg gab es, eine Lösung,
nach der der verzweifelnde Mensch vor ihm die Hände ausstreckte. Er sah zu ihm
auf mit einem Blicke wie aus der Hölle. Etwas mußte geschehen. War es Un¬
recht, einem Kranken das Heilmittel vorzuenthalten, an das er glaubt, wenn man
kein andres zu bieten hat? Auf dem Tische lag die Bibel. Er schob sie mit ab¬
gewandtem Gesicht Kondrot zu. Er tat es rin Herzklopfen, mit dem Gefühl eines,
der Verrat an sich selbst übt. Kondrot ergriff das Buch, drückte es mit Inbrunst
an seine Brust, glitt vom Stuhle hinab und fing an zu beten.

Der Doktor verließ leise das Zimmer. Dabei stieg in ihm die Erinnerung
an ein Wort aus der Apostelgeschichte auf -- er hatte in der Prima die Apostel¬
geschichte in der Ursprache gelesen: Der Herr sprach zu ihm, stehe ans und gehe
hin in die Gasse, die da heißt die richtige, und frage in dem Hause Judas nach
Saul mit Namen von Tarsus, denn siehe, er betet.

Als Ramborn in seinem Zimmer allein war, bewegten ihn viele Fragen: Gibt
es eine Schuld? Der Philosoph leugnet es. Aber ist sie nicht doch tatsächlich da?
Ist das Schuldbewußtsein nicht ihr Existenzbeweis? Ist dieses Bewußtsein das
Resultat einer durch Priester und Religionen falsch gerichteten Züchtung des
Menschengeistes, oder eine gegebne Realität, etwa so wie der Schmerz, der sich
nicht wegdisputieren läßt? Wer sein Gewissen dressiert, den beißt es, sagt Nietzsche.
Er betrachtet es wie einen Hund, den man mit einem Tritte verjagt. Wenn es sich
aber nicht verjagen läßt, wenn es beißt, gleichviel ob man es dressiert oder nicht?
Und wie die Wunden, die es verursacht, heilen? Wenn es ein Beweis für die Güte
einer Theorie ist, daß sie praktisch brauchbar ist, was war dann seine Theorie über
Schuld und Vergebung wert, die sich praktisch so wenig brauchbar erwiesen hatte?
Er setzte sich an seinen Zarathustra, aber Zarathustra brachte keinen Aufschluß.


Herrenmenschen

in seiner Rede nichts enthalten, wohl aber eine ehrliche Entrüstung über Taten
und Menschen, die ihm das unmittelbare Gefühl des Abscheus einflößten. Als
er mit ein paar kräftigen Sentenzen geschlossen hatte, wollte er nach seinem Hute
greifen und gehn. Kondrot hatte die Rede über sich ergehn lassen wie einer, dem
es eine Erleichterung gewährt, eine wohlverdiente Züchtigung zu erhalten. Als er
nun sah, daß der Doktor gehn wollte, schrie er auf, streckte die Hände aus und
rief flehentlich: Erbarmen! ein einziges Wort des Erbarmens! einen einzigen Tropfen
Wasser auf meine Zunge!

Erbarmen? erwiderte der Doktor, Erbarmen für Sie? Meinen Sie, wenn
Sie Ihre Schandtaten erzählen und winseln wie ein Hund, dann sei ungeschehen,
was geschehen ist?

Ja, aber es steht geschrieben, flehte Kondrot, ob eure Sünden gleich blutrot
sind, so sollen sie doch schneeweiß werden. Sagen Sie mir, daß es einen barm¬
herzigen Gott gibt.

Sagen Sie sich das selbst, erwiderte der Doktor, oder lassen Sie sichs von
Ihrem Pastor sagen.

Nein, sagen Sie es mir. Ihnen habe ich nichts getan.

Mir nicht? Kondrot, überlegen Sie sichs, mir nicht?

Kondrot sank in sich zusammen und rang die Hände. Der Doktor griff aber¬
mals nach seinem Hute, und Kondrot flehte: Verlassen Sie mich nicht, Sie sind
meine einzige Hoffnung, verlassen Sie mich um Gottes Jesu willen nicht.

Was sollte er tun? Konnte er dem Manne wiederholen, was er Tauenden
gesagt hatte? Konnte er sagen: Reue ist Inkonsequenz? Gib dir Recht, und du
hast Recht. Sage Ja zu dir, lebe dich aus, verkennte mit Bewußtsein, schlage
mir ins Angesicht, ich darf dich zwar wieder schlagen, aber Vorwürfe darf ich dir
nicht machen und brauchst du dir nicht zu machen. Das war ganz unmöglich. Das
hätte geheißen, sein eignes Recht und den Namen einer teuern Toten preiszugeben.
Oder sollte er sagen: Sünden können getan aber nie vergeben werden? Schuld
wird aufgeladen, aber nie abgenommen? Das würde heißen, dem Menschen eine
Bürde auflegen, die seine Seele nicht tragen kann. Einen Weg gab es, eine Lösung,
nach der der verzweifelnde Mensch vor ihm die Hände ausstreckte. Er sah zu ihm
auf mit einem Blicke wie aus der Hölle. Etwas mußte geschehen. War es Un¬
recht, einem Kranken das Heilmittel vorzuenthalten, an das er glaubt, wenn man
kein andres zu bieten hat? Auf dem Tische lag die Bibel. Er schob sie mit ab¬
gewandtem Gesicht Kondrot zu. Er tat es rin Herzklopfen, mit dem Gefühl eines,
der Verrat an sich selbst übt. Kondrot ergriff das Buch, drückte es mit Inbrunst
an seine Brust, glitt vom Stuhle hinab und fing an zu beten.

Der Doktor verließ leise das Zimmer. Dabei stieg in ihm die Erinnerung
an ein Wort aus der Apostelgeschichte auf — er hatte in der Prima die Apostel¬
geschichte in der Ursprache gelesen: Der Herr sprach zu ihm, stehe ans und gehe
hin in die Gasse, die da heißt die richtige, und frage in dem Hause Judas nach
Saul mit Namen von Tarsus, denn siehe, er betet.

Als Ramborn in seinem Zimmer allein war, bewegten ihn viele Fragen: Gibt
es eine Schuld? Der Philosoph leugnet es. Aber ist sie nicht doch tatsächlich da?
Ist das Schuldbewußtsein nicht ihr Existenzbeweis? Ist dieses Bewußtsein das
Resultat einer durch Priester und Religionen falsch gerichteten Züchtung des
Menschengeistes, oder eine gegebne Realität, etwa so wie der Schmerz, der sich
nicht wegdisputieren läßt? Wer sein Gewissen dressiert, den beißt es, sagt Nietzsche.
Er betrachtet es wie einen Hund, den man mit einem Tritte verjagt. Wenn es sich
aber nicht verjagen läßt, wenn es beißt, gleichviel ob man es dressiert oder nicht?
Und wie die Wunden, die es verursacht, heilen? Wenn es ein Beweis für die Güte
einer Theorie ist, daß sie praktisch brauchbar ist, was war dann seine Theorie über
Schuld und Vergebung wert, die sich praktisch so wenig brauchbar erwiesen hatte?
Er setzte sich an seinen Zarathustra, aber Zarathustra brachte keinen Aufschluß.


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[0388] Herrenmenschen in seiner Rede nichts enthalten, wohl aber eine ehrliche Entrüstung über Taten und Menschen, die ihm das unmittelbare Gefühl des Abscheus einflößten. Als er mit ein paar kräftigen Sentenzen geschlossen hatte, wollte er nach seinem Hute greifen und gehn. Kondrot hatte die Rede über sich ergehn lassen wie einer, dem es eine Erleichterung gewährt, eine wohlverdiente Züchtigung zu erhalten. Als er nun sah, daß der Doktor gehn wollte, schrie er auf, streckte die Hände aus und rief flehentlich: Erbarmen! ein einziges Wort des Erbarmens! einen einzigen Tropfen Wasser auf meine Zunge! Erbarmen? erwiderte der Doktor, Erbarmen für Sie? Meinen Sie, wenn Sie Ihre Schandtaten erzählen und winseln wie ein Hund, dann sei ungeschehen, was geschehen ist? Ja, aber es steht geschrieben, flehte Kondrot, ob eure Sünden gleich blutrot sind, so sollen sie doch schneeweiß werden. Sagen Sie mir, daß es einen barm¬ herzigen Gott gibt. Sagen Sie sich das selbst, erwiderte der Doktor, oder lassen Sie sichs von Ihrem Pastor sagen. Nein, sagen Sie es mir. Ihnen habe ich nichts getan. Mir nicht? Kondrot, überlegen Sie sichs, mir nicht? Kondrot sank in sich zusammen und rang die Hände. Der Doktor griff aber¬ mals nach seinem Hute, und Kondrot flehte: Verlassen Sie mich nicht, Sie sind meine einzige Hoffnung, verlassen Sie mich um Gottes Jesu willen nicht. Was sollte er tun? Konnte er dem Manne wiederholen, was er Tauenden gesagt hatte? Konnte er sagen: Reue ist Inkonsequenz? Gib dir Recht, und du hast Recht. Sage Ja zu dir, lebe dich aus, verkennte mit Bewußtsein, schlage mir ins Angesicht, ich darf dich zwar wieder schlagen, aber Vorwürfe darf ich dir nicht machen und brauchst du dir nicht zu machen. Das war ganz unmöglich. Das hätte geheißen, sein eignes Recht und den Namen einer teuern Toten preiszugeben. Oder sollte er sagen: Sünden können getan aber nie vergeben werden? Schuld wird aufgeladen, aber nie abgenommen? Das würde heißen, dem Menschen eine Bürde auflegen, die seine Seele nicht tragen kann. Einen Weg gab es, eine Lösung, nach der der verzweifelnde Mensch vor ihm die Hände ausstreckte. Er sah zu ihm auf mit einem Blicke wie aus der Hölle. Etwas mußte geschehen. War es Un¬ recht, einem Kranken das Heilmittel vorzuenthalten, an das er glaubt, wenn man kein andres zu bieten hat? Auf dem Tische lag die Bibel. Er schob sie mit ab¬ gewandtem Gesicht Kondrot zu. Er tat es rin Herzklopfen, mit dem Gefühl eines, der Verrat an sich selbst übt. Kondrot ergriff das Buch, drückte es mit Inbrunst an seine Brust, glitt vom Stuhle hinab und fing an zu beten. Der Doktor verließ leise das Zimmer. Dabei stieg in ihm die Erinnerung an ein Wort aus der Apostelgeschichte auf — er hatte in der Prima die Apostel¬ geschichte in der Ursprache gelesen: Der Herr sprach zu ihm, stehe ans und gehe hin in die Gasse, die da heißt die richtige, und frage in dem Hause Judas nach Saul mit Namen von Tarsus, denn siehe, er betet. Als Ramborn in seinem Zimmer allein war, bewegten ihn viele Fragen: Gibt es eine Schuld? Der Philosoph leugnet es. Aber ist sie nicht doch tatsächlich da? Ist das Schuldbewußtsein nicht ihr Existenzbeweis? Ist dieses Bewußtsein das Resultat einer durch Priester und Religionen falsch gerichteten Züchtung des Menschengeistes, oder eine gegebne Realität, etwa so wie der Schmerz, der sich nicht wegdisputieren läßt? Wer sein Gewissen dressiert, den beißt es, sagt Nietzsche. Er betrachtet es wie einen Hund, den man mit einem Tritte verjagt. Wenn es sich aber nicht verjagen läßt, wenn es beißt, gleichviel ob man es dressiert oder nicht? Und wie die Wunden, die es verursacht, heilen? Wenn es ein Beweis für die Güte einer Theorie ist, daß sie praktisch brauchbar ist, was war dann seine Theorie über Schuld und Vergebung wert, die sich praktisch so wenig brauchbar erwiesen hatte? Er setzte sich an seinen Zarathustra, aber Zarathustra brachte keinen Aufschluß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/388>, abgerufen am 19.05.2024.