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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Schwcsternsrage

immer fühlbarer werdende Mangel an Diakonissen beweist aber, daß auch an
die Diakonissen Anforderungen an bedingungslosen Gehorsam, oft auch Aufgeben
des eignen Denkens gestellt werden, die sich mit dem Zeitgeist nicht mehr ver¬
tragen, und jeder ist doch nun einmal Kind seiner Zeit. Immerhin finden wir
in etwa siebzig Diakonissenhäusern etwa 10000 Schwestern tätig.

In der Absicht, eine harmonische Vereinigung von Freiheit und Gemein¬
schaft herzustellen, sind die jungem Schwesternschaften entstanden. Die wich¬
tigsten sind:

die Vereine vom roten Kreuz........ mit 1000 Schwestern
der Johanniterorden........... " 800 "
der Diakonieverein........... " 600 "
die königlich sächsische Pflegeanstalt Hubertusburg , " 3S0 "
das Viktoriahaus in Berlin........ " 2S0 "
der Schwesternverein der Hamburgischen Staatskranken¬
anstalten ........... , . " 2S0 "

Die beiden zuletzt genannten Verbände stehn ganz unter weltlicher Leitung,
während bei den übrigen die geistliche Leitung überwiegt. Die königlich säch¬
sische Pflegeanstalt Hubertusburg hat den Ruhm, ihren Schwestern den höchsten
Bargehalt zu geben, nämlich einen von 450 Mark auf 720 Mark steigenden
Jahresgehalt für Pflegerinnen und einen solchen von 1050 Mark bis auf
1650 Mark für Oberpflegerinnen, beides nebst freier Station. Der Frage, wie
sich die Arbeit der Schwester mit deren Erholung und Muße vereinigen läßt,
haben besonders die Hamburgischen Staatskrankenanstalten ihr Augenmerk zu¬
gewandt. Bei ihnen finden wir Trennung von Tag- und Nachtdienst, ein¬
stündige Ruhepause nach dem Mittagessen, einmal wöchentlich einen freien Nach¬
mittag von zwei Uhr bis Mitternacht, jährlich im Durchschnitt einen Monat
Urlaub, der unentgeltlich in einem Ostseebad, wo der Verein ein Erholungs¬
haus besitzt, verlebt werden kann, und bei eintretender Dienstunfähigkeit eine
Pension von durchschnittlich 800 Mark, auch bis zu 1000 Mark.

Aber auch hier dauert die tägliche Dienstzeit der Schwester noch vierzehn
bis fünfzehn Stunden. Auch hier kommt nach der "Schwester" der "Mensch"
nicht mehr zu seinem Rechte. "Diese Einengung des Lebens, verbunden mit
der von Jahr zu Jahr sich bemerkbarer machenden Abspannung, führen zu einer
gewissen Stumpfheit, zu einem gewissen Schablonenhaften, müden Wesen, welches
so oft eine Folge der über die Kräfte gehenden Arbeit ist."

In den letzten Jahren haben sich nun freie Schwesternverbände gegründet,
die von den Reformgedanken für Erhöhung des Gehalts, mehr Freiheit und
Erholung, bessere Ausbildung zum Berufe beseelt sind. Ob hierdurch das Rich¬
tige gefunden ist, muß die Zeit ergeben. Jedenfalls ist es im Interesse der
leidenden Menschheit dringend zu wünschen, daß bald Mittel und Wege gefunden
werden, die Lebensbedingungen der Schwestern so zu gestalten, daß dieser Beruf,
wie Schwester Agnes Kcirll auf dem Internationalen Frauenkongresse in Berlin


Die Schwcsternsrage

immer fühlbarer werdende Mangel an Diakonissen beweist aber, daß auch an
die Diakonissen Anforderungen an bedingungslosen Gehorsam, oft auch Aufgeben
des eignen Denkens gestellt werden, die sich mit dem Zeitgeist nicht mehr ver¬
tragen, und jeder ist doch nun einmal Kind seiner Zeit. Immerhin finden wir
in etwa siebzig Diakonissenhäusern etwa 10000 Schwestern tätig.

In der Absicht, eine harmonische Vereinigung von Freiheit und Gemein¬
schaft herzustellen, sind die jungem Schwesternschaften entstanden. Die wich¬
tigsten sind:

die Vereine vom roten Kreuz........ mit 1000 Schwestern
der Johanniterorden........... „ 800 „
der Diakonieverein........... „ 600 „
die königlich sächsische Pflegeanstalt Hubertusburg , „ 3S0 „
das Viktoriahaus in Berlin........ „ 2S0 „
der Schwesternverein der Hamburgischen Staatskranken¬
anstalten ........... , . „ 2S0 „

Die beiden zuletzt genannten Verbände stehn ganz unter weltlicher Leitung,
während bei den übrigen die geistliche Leitung überwiegt. Die königlich säch¬
sische Pflegeanstalt Hubertusburg hat den Ruhm, ihren Schwestern den höchsten
Bargehalt zu geben, nämlich einen von 450 Mark auf 720 Mark steigenden
Jahresgehalt für Pflegerinnen und einen solchen von 1050 Mark bis auf
1650 Mark für Oberpflegerinnen, beides nebst freier Station. Der Frage, wie
sich die Arbeit der Schwester mit deren Erholung und Muße vereinigen läßt,
haben besonders die Hamburgischen Staatskrankenanstalten ihr Augenmerk zu¬
gewandt. Bei ihnen finden wir Trennung von Tag- und Nachtdienst, ein¬
stündige Ruhepause nach dem Mittagessen, einmal wöchentlich einen freien Nach¬
mittag von zwei Uhr bis Mitternacht, jährlich im Durchschnitt einen Monat
Urlaub, der unentgeltlich in einem Ostseebad, wo der Verein ein Erholungs¬
haus besitzt, verlebt werden kann, und bei eintretender Dienstunfähigkeit eine
Pension von durchschnittlich 800 Mark, auch bis zu 1000 Mark.

Aber auch hier dauert die tägliche Dienstzeit der Schwester noch vierzehn
bis fünfzehn Stunden. Auch hier kommt nach der „Schwester" der „Mensch"
nicht mehr zu seinem Rechte. „Diese Einengung des Lebens, verbunden mit
der von Jahr zu Jahr sich bemerkbarer machenden Abspannung, führen zu einer
gewissen Stumpfheit, zu einem gewissen Schablonenhaften, müden Wesen, welches
so oft eine Folge der über die Kräfte gehenden Arbeit ist."

In den letzten Jahren haben sich nun freie Schwesternverbände gegründet,
die von den Reformgedanken für Erhöhung des Gehalts, mehr Freiheit und
Erholung, bessere Ausbildung zum Berufe beseelt sind. Ob hierdurch das Rich¬
tige gefunden ist, muß die Zeit ergeben. Jedenfalls ist es im Interesse der
leidenden Menschheit dringend zu wünschen, daß bald Mittel und Wege gefunden
werden, die Lebensbedingungen der Schwestern so zu gestalten, daß dieser Beruf,
wie Schwester Agnes Kcirll auf dem Internationalen Frauenkongresse in Berlin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/136>, abgerufen am 21.05.2024.