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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Eine neue Arbeiterpartei

100 Franken heruntergehn, wie Japy dies getan hat. Je mehr die Aktien¬
einlagen der Arbeiter wachsen, desto mehr werden die überflüssig gewordnen
fremden Gesellschafter mit ihren Kapitalien abgefunden, und der Unternehmer
zieht weiterhin auch seine eignen Kapitalien zurück. Hier scheint uns, nebenbei
gesagt, die gelbe Theorie die Grenze der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu über¬
schreiten. Jedenfalls müssen da erst ganz andre Erfahrungen abgewartet werden,
ehe man sich ein Bild von diesem Fabrikbesitzer machen kann, der sein Werk
zuguderletzt seinen Arbeitern ganz überlüßt.

Der Nationalverband der Gelben, der, wie schon bemerkt, etwa 400000 An¬
hänger hat, verfolgt den Zweck, Arbeitersyndikate nach Bezirken und Berufs-
zweigen, Unternehmersyndikate und landwirtschaftliche Syndikate zu bilden.
Darauf wird sich dann eine "Partei der nationalen Interessen" aufbauen.
Zwischen Arbeitgebern und Arbeitern soll ein möglichst inniges Verhältnis her¬
gestellt und beim Staat mit aller Macht auf eine Durchführung des gelben
Programms hingearbeitet werden. Natürlich werden die weitestgehenden Ma߬
regeln der Arbeiterfürsorge gefordert, ohne daß man sich damit dem revolutionären
oder Staatssozialismus nähern will. Die Gelben verpflichten sich, in keinen
Streik einzutreten, ohne ihre Forderungen schriftlich niedergelegt und mindestens
zwei Wochen auf Antwort gewartet zu haben. Ebenso versprechen die Arbeitgeber
die Werkstätten nicht zu schließen, ohne die Arbeiter schriftlich und mindestens
zwei Wochen vorher darauf vorbereitet zu haben. Die Gelben enthalten sich
auch bei Streiks aller Gewalttätigkeit, und die Fabrikbesitzer ihrerseits entlassen
keinen Arbeiter, weil er sich am Aufstand beteiligt hat. Schiedsgerichte werden
dazu beitragen, alle Streitigkeiten gütlich beizulegen. Die Bezirksausschüsse
und über ihnen der Nationalausschuß führen die Aufsicht, daß bei unvermeid¬
lichen Streiks die Angehörigen der Arbeitersyndikate Entschädigungen erhalten,
daß aber andrerseits auch die Arbeitgeber vor Übergriffen und böswilligen
Anschlägen geschützt werden.

So sieht in flüchtigen Umrissen die neue Lehre aus, die von der Sozial¬
demokratie mit so wildem Haß verfolgt wird, und in der weite Kreise der
französischen Bourgeoisie die letzte Rettung vor dem Umsturz und vor einer
neuen Kommune sehen. Die Regierung scheint von dem Anwachsen der
neuen Partei sehr wenig erbaut zu sein, und doch finden wir sowohl in
Sarriens Regierungserklärung wie in Clemenceaus großer Rede Wendungen,
die sehr an das Bietrysche Programm anklingen; es sei nur daran erinnert,
daß bei neuen Kohlenbergwerken die Arbeiter am Gewinn beteiligt werden
sollen. Die Folge der Abneigung der radikal-sozialistischen Mehrheit gegen
die Gelben ist, daß sich die Opposition und insbesondre die Nationalisten mit
der neuen Arbeiterpartei auf Du und Du zu stellen suchen. Daß Bietry diesen
Bestrebungen nicht mehr Widerspruch entgegensetzt, halten wir für einen schweren
Fehler. Die Gelben wollen statutenmäßig von keiner Politik und keiner kon¬
fessionellen Bewegung etwas wissen. Sie sind Patrioten und keine Religions-


Eine neue Arbeiterpartei

100 Franken heruntergehn, wie Japy dies getan hat. Je mehr die Aktien¬
einlagen der Arbeiter wachsen, desto mehr werden die überflüssig gewordnen
fremden Gesellschafter mit ihren Kapitalien abgefunden, und der Unternehmer
zieht weiterhin auch seine eignen Kapitalien zurück. Hier scheint uns, nebenbei
gesagt, die gelbe Theorie die Grenze der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu über¬
schreiten. Jedenfalls müssen da erst ganz andre Erfahrungen abgewartet werden,
ehe man sich ein Bild von diesem Fabrikbesitzer machen kann, der sein Werk
zuguderletzt seinen Arbeitern ganz überlüßt.

Der Nationalverband der Gelben, der, wie schon bemerkt, etwa 400000 An¬
hänger hat, verfolgt den Zweck, Arbeitersyndikate nach Bezirken und Berufs-
zweigen, Unternehmersyndikate und landwirtschaftliche Syndikate zu bilden.
Darauf wird sich dann eine „Partei der nationalen Interessen" aufbauen.
Zwischen Arbeitgebern und Arbeitern soll ein möglichst inniges Verhältnis her¬
gestellt und beim Staat mit aller Macht auf eine Durchführung des gelben
Programms hingearbeitet werden. Natürlich werden die weitestgehenden Ma߬
regeln der Arbeiterfürsorge gefordert, ohne daß man sich damit dem revolutionären
oder Staatssozialismus nähern will. Die Gelben verpflichten sich, in keinen
Streik einzutreten, ohne ihre Forderungen schriftlich niedergelegt und mindestens
zwei Wochen auf Antwort gewartet zu haben. Ebenso versprechen die Arbeitgeber
die Werkstätten nicht zu schließen, ohne die Arbeiter schriftlich und mindestens
zwei Wochen vorher darauf vorbereitet zu haben. Die Gelben enthalten sich
auch bei Streiks aller Gewalttätigkeit, und die Fabrikbesitzer ihrerseits entlassen
keinen Arbeiter, weil er sich am Aufstand beteiligt hat. Schiedsgerichte werden
dazu beitragen, alle Streitigkeiten gütlich beizulegen. Die Bezirksausschüsse
und über ihnen der Nationalausschuß führen die Aufsicht, daß bei unvermeid¬
lichen Streiks die Angehörigen der Arbeitersyndikate Entschädigungen erhalten,
daß aber andrerseits auch die Arbeitgeber vor Übergriffen und böswilligen
Anschlägen geschützt werden.

So sieht in flüchtigen Umrissen die neue Lehre aus, die von der Sozial¬
demokratie mit so wildem Haß verfolgt wird, und in der weite Kreise der
französischen Bourgeoisie die letzte Rettung vor dem Umsturz und vor einer
neuen Kommune sehen. Die Regierung scheint von dem Anwachsen der
neuen Partei sehr wenig erbaut zu sein, und doch finden wir sowohl in
Sarriens Regierungserklärung wie in Clemenceaus großer Rede Wendungen,
die sehr an das Bietrysche Programm anklingen; es sei nur daran erinnert,
daß bei neuen Kohlenbergwerken die Arbeiter am Gewinn beteiligt werden
sollen. Die Folge der Abneigung der radikal-sozialistischen Mehrheit gegen
die Gelben ist, daß sich die Opposition und insbesondre die Nationalisten mit
der neuen Arbeiterpartei auf Du und Du zu stellen suchen. Daß Bietry diesen
Bestrebungen nicht mehr Widerspruch entgegensetzt, halten wir für einen schweren
Fehler. Die Gelben wollen statutenmäßig von keiner Politik und keiner kon¬
fessionellen Bewegung etwas wissen. Sie sind Patrioten und keine Religions-


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[0194] Eine neue Arbeiterpartei 100 Franken heruntergehn, wie Japy dies getan hat. Je mehr die Aktien¬ einlagen der Arbeiter wachsen, desto mehr werden die überflüssig gewordnen fremden Gesellschafter mit ihren Kapitalien abgefunden, und der Unternehmer zieht weiterhin auch seine eignen Kapitalien zurück. Hier scheint uns, nebenbei gesagt, die gelbe Theorie die Grenze der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu über¬ schreiten. Jedenfalls müssen da erst ganz andre Erfahrungen abgewartet werden, ehe man sich ein Bild von diesem Fabrikbesitzer machen kann, der sein Werk zuguderletzt seinen Arbeitern ganz überlüßt. Der Nationalverband der Gelben, der, wie schon bemerkt, etwa 400000 An¬ hänger hat, verfolgt den Zweck, Arbeitersyndikate nach Bezirken und Berufs- zweigen, Unternehmersyndikate und landwirtschaftliche Syndikate zu bilden. Darauf wird sich dann eine „Partei der nationalen Interessen" aufbauen. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitern soll ein möglichst inniges Verhältnis her¬ gestellt und beim Staat mit aller Macht auf eine Durchführung des gelben Programms hingearbeitet werden. Natürlich werden die weitestgehenden Ma߬ regeln der Arbeiterfürsorge gefordert, ohne daß man sich damit dem revolutionären oder Staatssozialismus nähern will. Die Gelben verpflichten sich, in keinen Streik einzutreten, ohne ihre Forderungen schriftlich niedergelegt und mindestens zwei Wochen auf Antwort gewartet zu haben. Ebenso versprechen die Arbeitgeber die Werkstätten nicht zu schließen, ohne die Arbeiter schriftlich und mindestens zwei Wochen vorher darauf vorbereitet zu haben. Die Gelben enthalten sich auch bei Streiks aller Gewalttätigkeit, und die Fabrikbesitzer ihrerseits entlassen keinen Arbeiter, weil er sich am Aufstand beteiligt hat. Schiedsgerichte werden dazu beitragen, alle Streitigkeiten gütlich beizulegen. Die Bezirksausschüsse und über ihnen der Nationalausschuß führen die Aufsicht, daß bei unvermeid¬ lichen Streiks die Angehörigen der Arbeitersyndikate Entschädigungen erhalten, daß aber andrerseits auch die Arbeitgeber vor Übergriffen und böswilligen Anschlägen geschützt werden. So sieht in flüchtigen Umrissen die neue Lehre aus, die von der Sozial¬ demokratie mit so wildem Haß verfolgt wird, und in der weite Kreise der französischen Bourgeoisie die letzte Rettung vor dem Umsturz und vor einer neuen Kommune sehen. Die Regierung scheint von dem Anwachsen der neuen Partei sehr wenig erbaut zu sein, und doch finden wir sowohl in Sarriens Regierungserklärung wie in Clemenceaus großer Rede Wendungen, die sehr an das Bietrysche Programm anklingen; es sei nur daran erinnert, daß bei neuen Kohlenbergwerken die Arbeiter am Gewinn beteiligt werden sollen. Die Folge der Abneigung der radikal-sozialistischen Mehrheit gegen die Gelben ist, daß sich die Opposition und insbesondre die Nationalisten mit der neuen Arbeiterpartei auf Du und Du zu stellen suchen. Daß Bietry diesen Bestrebungen nicht mehr Widerspruch entgegensetzt, halten wir für einen schweren Fehler. Die Gelben wollen statutenmäßig von keiner Politik und keiner kon¬ fessionellen Bewegung etwas wissen. Sie sind Patrioten und keine Religions-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/194>, abgerufen am 13.06.2024.