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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Line neue Arbeiterpartei

Hasser; das unterscheidet sie von den Roten. Ebenso wie aber bei ihnen
Protestanten wie Japy, eifrige Katholiken wie General Jeannerod und Frei¬
denker wie Wayß Platz finden, ebenso sollten sie sich hüten, sich einer ein¬
seitigen politischen Richtung zu verschreiben. Man mag den Nationalisten oder
den französischen Konservativen persönlich noch so nahe stehn, aber man kann
nicht leugnen, daß sie eine Partei im Niedergange sind, und daß insbesondre
die Nationalisten eine so unglückliche Hand haben, daß die Gelben schwer
darunter leiden würden, wenn sie sich von ihnen ins Schlepptau nehmen
ließen. Bietry selbst hat in der Zeit der Führung Lanoirs erlebt, wie ver¬
hängnisvoll Parteipolitik dieser Arbeiterbewegung schon einmal geworden ist.

Die um Jaures versagen den Gelben die Berechtigung, im Namen der
Arbeiter zu sprechen. Gerade Bietry, dieser "Renegat", der einst Tausende
von aufrührerischen Proletariern von Belfort auf Paris führen wollte, gerade
er ist das Musterbild des "Arbeiters", während Herr Jaures, der Professor,
einst in den Reihen des sehr korrekten und bürgerlichen französischen Zentrums
saß. Nein, die Gelben sind eine Arbeiterpartei -- gerade darin liegt ihr
Vorzug, darin liegt auch ihr Fehler. Sie sind zu schnell in die Höhe geschossen,
und ihr Erfolg hat ihnen den klaren Blick getrübt. Die Verachtung, mit der
Bietry und andre Gelbe von Marx und den sonstigen Größen des wissenschaft¬
lichen Sozialismus sprechen, ist die Verachtung des Handarbeiters gegenüber dem
Kopfarbeiter. Die gelbe Polemik gegen die heutigen "roten" Führer ist äußerst
gehässig und persönlich -- was aus den endlosen Verfolgungen zu erklären ist,
denen die Gelben von dieser Seite ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind.
Man mag vom Sozialismus denken, was man will, aber so leicht ist er doch
nicht abzutun, wie die Bietry, Japy, Laroche, Czalowski usw. das meinen.
Sie haben Brest erobert, aber damit doch nicht die Sozialdemokratie wehrlos
gemacht. Die Triumphgesünge, die sie jetzt anstimmen, sind zu laut und ver¬
herrlichen Siege, die doch noch erst errungen sein wollen. Die Herren ver¬
kennen ganz, daß ihre Erfolge bisher im wesentlichen als Reaktion gegen das
ungestüme Vordringen der revolutionär-anarchistischen Oonksdäration und der
Arbeitsbörsen, gegen den wahnsinnigen Religionshaß und die Beschimpfung
des Vaterlandes durch die "Roten", gegen die Gewalttätigkeiten der Streik¬
horden aufzufassen sind. Brest ist dafür gerade das Beispiel; man wählte
Bietry, weil man entsetzt war über die Taten der sozialistischen Gemeinderüte
und ihrer Helfershelfer. In ihrer entschlossenen Gegnerschaft gegen die Streiks,
die den Untergang der ganzen französischen Industrie und des Handels herbei¬
zuführen drohen, in ihrer Vaterlandsliebe, in ihrem Sinn für Ordnung und
Gesetz liegt die Stärke der Gelben. Mögen sie daran festhalten und alles
weitere als Nebensache betrachten, dann werden sie ihrem Verbände am besten
dienen und werden sich um das Gemeinwohl ein großes Verdienst erwerben.

Ihre Staats- und Wirtschaftstheorien vermögen wir dagegen nur mit
einiger Einschränkung zu würdigen. Im Haß gegen die Sozialdemokratie werfen


Line neue Arbeiterpartei

Hasser; das unterscheidet sie von den Roten. Ebenso wie aber bei ihnen
Protestanten wie Japy, eifrige Katholiken wie General Jeannerod und Frei¬
denker wie Wayß Platz finden, ebenso sollten sie sich hüten, sich einer ein¬
seitigen politischen Richtung zu verschreiben. Man mag den Nationalisten oder
den französischen Konservativen persönlich noch so nahe stehn, aber man kann
nicht leugnen, daß sie eine Partei im Niedergange sind, und daß insbesondre
die Nationalisten eine so unglückliche Hand haben, daß die Gelben schwer
darunter leiden würden, wenn sie sich von ihnen ins Schlepptau nehmen
ließen. Bietry selbst hat in der Zeit der Führung Lanoirs erlebt, wie ver¬
hängnisvoll Parteipolitik dieser Arbeiterbewegung schon einmal geworden ist.

Die um Jaures versagen den Gelben die Berechtigung, im Namen der
Arbeiter zu sprechen. Gerade Bietry, dieser „Renegat", der einst Tausende
von aufrührerischen Proletariern von Belfort auf Paris führen wollte, gerade
er ist das Musterbild des „Arbeiters", während Herr Jaures, der Professor,
einst in den Reihen des sehr korrekten und bürgerlichen französischen Zentrums
saß. Nein, die Gelben sind eine Arbeiterpartei — gerade darin liegt ihr
Vorzug, darin liegt auch ihr Fehler. Sie sind zu schnell in die Höhe geschossen,
und ihr Erfolg hat ihnen den klaren Blick getrübt. Die Verachtung, mit der
Bietry und andre Gelbe von Marx und den sonstigen Größen des wissenschaft¬
lichen Sozialismus sprechen, ist die Verachtung des Handarbeiters gegenüber dem
Kopfarbeiter. Die gelbe Polemik gegen die heutigen „roten" Führer ist äußerst
gehässig und persönlich — was aus den endlosen Verfolgungen zu erklären ist,
denen die Gelben von dieser Seite ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind.
Man mag vom Sozialismus denken, was man will, aber so leicht ist er doch
nicht abzutun, wie die Bietry, Japy, Laroche, Czalowski usw. das meinen.
Sie haben Brest erobert, aber damit doch nicht die Sozialdemokratie wehrlos
gemacht. Die Triumphgesünge, die sie jetzt anstimmen, sind zu laut und ver¬
herrlichen Siege, die doch noch erst errungen sein wollen. Die Herren ver¬
kennen ganz, daß ihre Erfolge bisher im wesentlichen als Reaktion gegen das
ungestüme Vordringen der revolutionär-anarchistischen Oonksdäration und der
Arbeitsbörsen, gegen den wahnsinnigen Religionshaß und die Beschimpfung
des Vaterlandes durch die „Roten", gegen die Gewalttätigkeiten der Streik¬
horden aufzufassen sind. Brest ist dafür gerade das Beispiel; man wählte
Bietry, weil man entsetzt war über die Taten der sozialistischen Gemeinderüte
und ihrer Helfershelfer. In ihrer entschlossenen Gegnerschaft gegen die Streiks,
die den Untergang der ganzen französischen Industrie und des Handels herbei¬
zuführen drohen, in ihrer Vaterlandsliebe, in ihrem Sinn für Ordnung und
Gesetz liegt die Stärke der Gelben. Mögen sie daran festhalten und alles
weitere als Nebensache betrachten, dann werden sie ihrem Verbände am besten
dienen und werden sich um das Gemeinwohl ein großes Verdienst erwerben.

Ihre Staats- und Wirtschaftstheorien vermögen wir dagegen nur mit
einiger Einschränkung zu würdigen. Im Haß gegen die Sozialdemokratie werfen


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[0195] Line neue Arbeiterpartei Hasser; das unterscheidet sie von den Roten. Ebenso wie aber bei ihnen Protestanten wie Japy, eifrige Katholiken wie General Jeannerod und Frei¬ denker wie Wayß Platz finden, ebenso sollten sie sich hüten, sich einer ein¬ seitigen politischen Richtung zu verschreiben. Man mag den Nationalisten oder den französischen Konservativen persönlich noch so nahe stehn, aber man kann nicht leugnen, daß sie eine Partei im Niedergange sind, und daß insbesondre die Nationalisten eine so unglückliche Hand haben, daß die Gelben schwer darunter leiden würden, wenn sie sich von ihnen ins Schlepptau nehmen ließen. Bietry selbst hat in der Zeit der Führung Lanoirs erlebt, wie ver¬ hängnisvoll Parteipolitik dieser Arbeiterbewegung schon einmal geworden ist. Die um Jaures versagen den Gelben die Berechtigung, im Namen der Arbeiter zu sprechen. Gerade Bietry, dieser „Renegat", der einst Tausende von aufrührerischen Proletariern von Belfort auf Paris führen wollte, gerade er ist das Musterbild des „Arbeiters", während Herr Jaures, der Professor, einst in den Reihen des sehr korrekten und bürgerlichen französischen Zentrums saß. Nein, die Gelben sind eine Arbeiterpartei — gerade darin liegt ihr Vorzug, darin liegt auch ihr Fehler. Sie sind zu schnell in die Höhe geschossen, und ihr Erfolg hat ihnen den klaren Blick getrübt. Die Verachtung, mit der Bietry und andre Gelbe von Marx und den sonstigen Größen des wissenschaft¬ lichen Sozialismus sprechen, ist die Verachtung des Handarbeiters gegenüber dem Kopfarbeiter. Die gelbe Polemik gegen die heutigen „roten" Führer ist äußerst gehässig und persönlich — was aus den endlosen Verfolgungen zu erklären ist, denen die Gelben von dieser Seite ausgesetzt waren und noch ausgesetzt sind. Man mag vom Sozialismus denken, was man will, aber so leicht ist er doch nicht abzutun, wie die Bietry, Japy, Laroche, Czalowski usw. das meinen. Sie haben Brest erobert, aber damit doch nicht die Sozialdemokratie wehrlos gemacht. Die Triumphgesünge, die sie jetzt anstimmen, sind zu laut und ver¬ herrlichen Siege, die doch noch erst errungen sein wollen. Die Herren ver¬ kennen ganz, daß ihre Erfolge bisher im wesentlichen als Reaktion gegen das ungestüme Vordringen der revolutionär-anarchistischen Oonksdäration und der Arbeitsbörsen, gegen den wahnsinnigen Religionshaß und die Beschimpfung des Vaterlandes durch die „Roten", gegen die Gewalttätigkeiten der Streik¬ horden aufzufassen sind. Brest ist dafür gerade das Beispiel; man wählte Bietry, weil man entsetzt war über die Taten der sozialistischen Gemeinderüte und ihrer Helfershelfer. In ihrer entschlossenen Gegnerschaft gegen die Streiks, die den Untergang der ganzen französischen Industrie und des Handels herbei¬ zuführen drohen, in ihrer Vaterlandsliebe, in ihrem Sinn für Ordnung und Gesetz liegt die Stärke der Gelben. Mögen sie daran festhalten und alles weitere als Nebensache betrachten, dann werden sie ihrem Verbände am besten dienen und werden sich um das Gemeinwohl ein großes Verdienst erwerben. Ihre Staats- und Wirtschaftstheorien vermögen wir dagegen nur mit einiger Einschränkung zu würdigen. Im Haß gegen die Sozialdemokratie werfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/195>, abgerufen am 13.06.2024.