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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines "Sonderlings" Jewgeni Anjägin
Gesang II Strophe 5 durch die verschnupften Standesgenossen charakterisieren
läßt: "Unser Nachbar ist ein Flegel; er küßt den Damen die Hündchen nicht,
sagt nichts als "ja" und "nein", niemals "jci-chen" und "nein-chen"!" Natürlich
erhalten auch Schimpfwörter die Koseform, "Lümpchen" sogar eine doppelte:
plutlMNkÄ und xlutzgAg.. Und wenn "Gesuudheitchen" uns wunderlich klingt, so
wird die zärtliche Färbung verständlicher, sobald man weiß, daß der Sprechende
damit sagen will: "Ihre kostbare, mir so werte Gesundheit." Dafür mag
NÄZHstsoliKg, als Kosewort für die neuerdings rasch bekannt gewordne kurz¬
gestielte, in einen dicken Lederstreifen oder in mehrere dünne verknotete Riemen
auslaufende Kosakenpeitsche (nA^all^) echt russisch anmuten, ebenso wie die
Verkleinerungsform der beiden andern nach demokratischer Ansicht mit ihr die
heilige Dreiheit der russischen Nationalbegriffe bildenden Namen: ^WoäKa*) und
svvzätsolilca (von svMsong., das Talglicht).

Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der
russischen Umgangssprache leicht etwas Weichliches und Spielendes gibt.

Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift
tritt das Russische wiederum, wenn auch nur zufällig, in unmittelbare Be¬
ziehung zum Deutschen. Von einem Seitenstück zu den altgermanischen oder
vielmehr den aus römischen Großbuchstaben durch Verzerrung entstandnen
"Runen", wie sie noch heute von nordischen Goldgerüten dem Beschauer ent¬
gegenleuchten, ist dabei freilich keine Rede. Denn die ältesten russischen Schriften,
die angebliche Chronik des Mönches Nestor und das Heldengedicht vom Zug
Igors, reichen nicht mehr in die Periode des slawischen Heidentums zurück.
Dafür beginnt um die Mitte des zehnten Jahrhunderts zugleich mit den ersten
Einwirkungen des Christentums der das russische Geistesleben weckende und
beherrschende Einfluß der byzantinischen Kultur. Und dem griechischen Alphabet
sind ebenso wie die sechshundert Jahre ältern Schriftzeichen des großen Goten
Ulfilas auch die russischen Buchstaben nachgebildet. Eine unmittelbare Be¬
rührung der beiden jüngern Formenkreise kann man dabei nicht nachweisen;
um so bemerkenswerter ist die bis zur völligen Gleichheit gehende Überein¬
stimmung einzelner Lautsymbole, wie sie uns besonders in der altslawischen
oder nach dem ersten mährischen Bischof genannten kyrillischen Schrift entgegen¬
tritt, in der bis heute alle Bücher der russischen Kirche, namentlich auch die
Ausgaben des Alten und des Neuen Testaments, gedruckt werden. So ist
das griechische Gamma (/^) zum gotischen ^ und zum slawischen zum
gotischen 6 und slawischen C, ^ zum gotischen slawischen und russischen



*) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland
von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬
reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬
leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws)
6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen.
Die Physiognomie der russischen Sprache

wie Puschkin die bewußte UnHöflichkeit seines „Sonderlings" Jewgeni Anjägin
Gesang II Strophe 5 durch die verschnupften Standesgenossen charakterisieren
läßt: „Unser Nachbar ist ein Flegel; er küßt den Damen die Hündchen nicht,
sagt nichts als »ja« und »nein«, niemals »jci-chen« und »nein-chen«!" Natürlich
erhalten auch Schimpfwörter die Koseform, „Lümpchen" sogar eine doppelte:
plutlMNkÄ und xlutzgAg.. Und wenn „Gesuudheitchen" uns wunderlich klingt, so
wird die zärtliche Färbung verständlicher, sobald man weiß, daß der Sprechende
damit sagen will: „Ihre kostbare, mir so werte Gesundheit." Dafür mag
NÄZHstsoliKg, als Kosewort für die neuerdings rasch bekannt gewordne kurz¬
gestielte, in einen dicken Lederstreifen oder in mehrere dünne verknotete Riemen
auslaufende Kosakenpeitsche (nA^all^) echt russisch anmuten, ebenso wie die
Verkleinerungsform der beiden andern nach demokratischer Ansicht mit ihr die
heilige Dreiheit der russischen Nationalbegriffe bildenden Namen: ^WoäKa*) und
svvzätsolilca (von svMsong., das Talglicht).

Übrigens muß mau zugestehn, daß dieser Überfluß an Diminutiven der
russischen Umgangssprache leicht etwas Weichliches und Spielendes gibt.

Noch zweierlei ist zu berühren: Klang und Schrift. Mit der Schrift
tritt das Russische wiederum, wenn auch nur zufällig, in unmittelbare Be¬
ziehung zum Deutschen. Von einem Seitenstück zu den altgermanischen oder
vielmehr den aus römischen Großbuchstaben durch Verzerrung entstandnen
„Runen", wie sie noch heute von nordischen Goldgerüten dem Beschauer ent¬
gegenleuchten, ist dabei freilich keine Rede. Denn die ältesten russischen Schriften,
die angebliche Chronik des Mönches Nestor und das Heldengedicht vom Zug
Igors, reichen nicht mehr in die Periode des slawischen Heidentums zurück.
Dafür beginnt um die Mitte des zehnten Jahrhunderts zugleich mit den ersten
Einwirkungen des Christentums der das russische Geistesleben weckende und
beherrschende Einfluß der byzantinischen Kultur. Und dem griechischen Alphabet
sind ebenso wie die sechshundert Jahre ältern Schriftzeichen des großen Goten
Ulfilas auch die russischen Buchstaben nachgebildet. Eine unmittelbare Be¬
rührung der beiden jüngern Formenkreise kann man dabei nicht nachweisen;
um so bemerkenswerter ist die bis zur völligen Gleichheit gehende Überein¬
stimmung einzelner Lautsymbole, wie sie uns besonders in der altslawischen
oder nach dem ersten mährischen Bischof genannten kyrillischen Schrift entgegen¬
tritt, in der bis heute alle Bücher der russischen Kirche, namentlich auch die
Ausgaben des Alten und des Neuen Testaments, gedruckt werden. So ist
das griechische Gamma (/^) zum gotischen ^ und zum slawischen zum
gotischen 6 und slawischen C, ^ zum gotischen slawischen und russischen



*) Bemerkenswert dürfte immerhin sein, daß der jährliche Alkoholverbrauch in Nußland
von 3,33 auf 2,62 Liter für den Kopf zurückgegangen ist, während das republikanische Frank¬
reich mit 21,19 Liter, wie immer, an der Spitze der Zivilisation marschiert, das freie und er¬
leuchtete Großbritannien 11,65, das ebenso freie und erleuchtete Nordamerika (Unitsä Ltaws)
6,78 Liter pro Kopf und Jahr verbrauchen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/210>, abgerufen am 13.06.2024.