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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russische" Sprache

75 oder // sind zu n (gotisch), n II (slawisch) und n H (russisch) geworden.
Am auffälligsten ist die Übereinstimmung solcher Zeichen, die wir mit ganz
anderen Laute zu lesen gewohnt sind, wie das gotische 5l, das slawische ki und
das russische L, die nicht etwa den langen griechischen E-Laut, sondern den
lateinischen Konsonanten u vorstellen, oder das kirchenslawische l>, Kleinbuch¬
stabe 9, das im Russischen geradezu als s^und/ -- im Druck ? und x --
erscheint, aber immer als r ausgesprochen wird. Andrerseits geht die Ähnlich¬
keit des Russischen und des Griechischen nicht selten bis zur völligen Gleichheit
des Lautes und der Schrift. Das Wort o-co^o (eiroiwr) sieht, griechisch ge¬
schrieben oder gedruckt, bis auf den Spiritus genau so aus und wäre genau
so zu sprechen.

Im übrigen begnügt sich das Russische nicht mit unsern sechsundzwanzig
einfachen Zeichen, sondern gönnt sich den Luxus von sechsunddreißig (neun andre
der kyrillischen Schrift ungerechnet). Wenn auch zwei nur noch dem litur¬
gischen Alphabet angehören, eins nur geschrieben wird, so fehlen dafür j, y
und x als Buchstaben, nicht als Laute. Hu wird zu Kv, x zu Je8, beide also
zu den ihrem Klänge entsprechenden Verbindungen, wie in Kwas (dem russischen
Malzbier) und in ^leksiwär. Umgekehrt werden mehrere Lautkomplexe, denen
in andern Alphabeten ein mehr oder weniger schwerfälliges Buchstabenbild ent¬
spricht, durch einfache Charaktere ausgedrückt, nämlich die verdickten Zischlaute
hob., t8od und 8<zdtsod, im Russischen: ni, i- und in. Dagegen hat das
Jod überhaupt keinen sichtbaren Vertreter, obwohl es vielleicht am häufigsten
unter den russischen Lauten vorkommt, wenn auch oft nur andeutungsweise und
nur dem geübten Ohr vernehmlich. In voller körperlicher Gestalt wird es
vielen mit s anfangenden Wörtern vorangeschickt, so in ^onroxa (Europa --
daher der Zeitungsname ^evroMsKi 'AMWiK, Europäischer Bote), ^lntsrlug.
(seltner Xatsrlim), 56lisav6t>ii und ^eus^se (Elisabeth). In seltsam ver¬
wirrender Weise vertritt wiederum der lateinische Buchstabe L (d) das russische
während für den schwachgehauchten Lippenlaut ein besondres Zeichen L (6)
vorhanden ist; ä wird nach Belieben anch s geschrieben; 7 ist das russische n.
Unmittelbar dem griechischen Alphabet entnommen und nur diesem angehörig
sind es und G (Groß- und Kleinbuchstaben), wobei sich aber das Merkwürdige
zugetragen hat. daß der griechische Zahnlaut in den gleichgehauchten Lippen¬
laut verwandelt wurde, während das ursprüngliche Zeichen blieb. Dadurch ent¬
standen die seltsamsten Tonbilder, zumal dort, wo die mit der neugriechischen
übereinstimmende Aussprache des langen E und der J-Diphthonge hinzutrat.
So wurde aus dem Buchstabennamen Theta selbst KM. aus ^-5^",- ^Ku^
aus Höaor ist Theodor (während der echtrussische Name LoxäM
lautet). Thekla. ^at Hyazinth. ^nasi Athanasius; die uns so
fremdartig klingende NarlÄ (siehe Schillers Demetrius) ist einfach unsre Martha;
NarlÄanM ist Bartholomäus. Fast noch krausere Bildungen ergeben sich in
den zahlreichen Fällen, wo Gattungsnamen mit ihren Ablenkungen - wie in


Die Physiognomie der russische» Sprache

75 oder // sind zu n (gotisch), n II (slawisch) und n H (russisch) geworden.
Am auffälligsten ist die Übereinstimmung solcher Zeichen, die wir mit ganz
anderen Laute zu lesen gewohnt sind, wie das gotische 5l, das slawische ki und
das russische L, die nicht etwa den langen griechischen E-Laut, sondern den
lateinischen Konsonanten u vorstellen, oder das kirchenslawische l>, Kleinbuch¬
stabe 9, das im Russischen geradezu als s^und/ — im Druck ? und x —
erscheint, aber immer als r ausgesprochen wird. Andrerseits geht die Ähnlich¬
keit des Russischen und des Griechischen nicht selten bis zur völligen Gleichheit
des Lautes und der Schrift. Das Wort o-co^o (eiroiwr) sieht, griechisch ge¬
schrieben oder gedruckt, bis auf den Spiritus genau so aus und wäre genau
so zu sprechen.

Im übrigen begnügt sich das Russische nicht mit unsern sechsundzwanzig
einfachen Zeichen, sondern gönnt sich den Luxus von sechsunddreißig (neun andre
der kyrillischen Schrift ungerechnet). Wenn auch zwei nur noch dem litur¬
gischen Alphabet angehören, eins nur geschrieben wird, so fehlen dafür j, y
und x als Buchstaben, nicht als Laute. Hu wird zu Kv, x zu Je8, beide also
zu den ihrem Klänge entsprechenden Verbindungen, wie in Kwas (dem russischen
Malzbier) und in ^leksiwär. Umgekehrt werden mehrere Lautkomplexe, denen
in andern Alphabeten ein mehr oder weniger schwerfälliges Buchstabenbild ent¬
spricht, durch einfache Charaktere ausgedrückt, nämlich die verdickten Zischlaute
hob., t8od und 8<zdtsod, im Russischen: ni, i- und in. Dagegen hat das
Jod überhaupt keinen sichtbaren Vertreter, obwohl es vielleicht am häufigsten
unter den russischen Lauten vorkommt, wenn auch oft nur andeutungsweise und
nur dem geübten Ohr vernehmlich. In voller körperlicher Gestalt wird es
vielen mit s anfangenden Wörtern vorangeschickt, so in ^onroxa (Europa —
daher der Zeitungsname ^evroMsKi 'AMWiK, Europäischer Bote), ^lntsrlug.
(seltner Xatsrlim), 56lisav6t>ii und ^eus^se (Elisabeth). In seltsam ver¬
wirrender Weise vertritt wiederum der lateinische Buchstabe L (d) das russische
während für den schwachgehauchten Lippenlaut ein besondres Zeichen L (6)
vorhanden ist; ä wird nach Belieben anch s geschrieben; 7 ist das russische n.
Unmittelbar dem griechischen Alphabet entnommen und nur diesem angehörig
sind es und G (Groß- und Kleinbuchstaben), wobei sich aber das Merkwürdige
zugetragen hat. daß der griechische Zahnlaut in den gleichgehauchten Lippen¬
laut verwandelt wurde, während das ursprüngliche Zeichen blieb. Dadurch ent¬
standen die seltsamsten Tonbilder, zumal dort, wo die mit der neugriechischen
übereinstimmende Aussprache des langen E und der J-Diphthonge hinzutrat.
So wurde aus dem Buchstabennamen Theta selbst KM. aus ^-5^«,- ^Ku^
aus Höaor ist Theodor (während der echtrussische Name LoxäM
lautet). Thekla. ^at Hyazinth. ^nasi Athanasius; die uns so
fremdartig klingende NarlÄ (siehe Schillers Demetrius) ist einfach unsre Martha;
NarlÄanM ist Bartholomäus. Fast noch krausere Bildungen ergeben sich in
den zahlreichen Fällen, wo Gattungsnamen mit ihren Ablenkungen - wie in


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[0211] Die Physiognomie der russische» Sprache 75 oder // sind zu n (gotisch), n II (slawisch) und n H (russisch) geworden. Am auffälligsten ist die Übereinstimmung solcher Zeichen, die wir mit ganz anderen Laute zu lesen gewohnt sind, wie das gotische 5l, das slawische ki und das russische L, die nicht etwa den langen griechischen E-Laut, sondern den lateinischen Konsonanten u vorstellen, oder das kirchenslawische l>, Kleinbuch¬ stabe 9, das im Russischen geradezu als s^und/ — im Druck ? und x — erscheint, aber immer als r ausgesprochen wird. Andrerseits geht die Ähnlich¬ keit des Russischen und des Griechischen nicht selten bis zur völligen Gleichheit des Lautes und der Schrift. Das Wort o-co^o (eiroiwr) sieht, griechisch ge¬ schrieben oder gedruckt, bis auf den Spiritus genau so aus und wäre genau so zu sprechen. Im übrigen begnügt sich das Russische nicht mit unsern sechsundzwanzig einfachen Zeichen, sondern gönnt sich den Luxus von sechsunddreißig (neun andre der kyrillischen Schrift ungerechnet). Wenn auch zwei nur noch dem litur¬ gischen Alphabet angehören, eins nur geschrieben wird, so fehlen dafür j, y und x als Buchstaben, nicht als Laute. Hu wird zu Kv, x zu Je8, beide also zu den ihrem Klänge entsprechenden Verbindungen, wie in Kwas (dem russischen Malzbier) und in ^leksiwär. Umgekehrt werden mehrere Lautkomplexe, denen in andern Alphabeten ein mehr oder weniger schwerfälliges Buchstabenbild ent¬ spricht, durch einfache Charaktere ausgedrückt, nämlich die verdickten Zischlaute hob., t8od und 8<zdtsod, im Russischen: ni, i- und in. Dagegen hat das Jod überhaupt keinen sichtbaren Vertreter, obwohl es vielleicht am häufigsten unter den russischen Lauten vorkommt, wenn auch oft nur andeutungsweise und nur dem geübten Ohr vernehmlich. In voller körperlicher Gestalt wird es vielen mit s anfangenden Wörtern vorangeschickt, so in ^onroxa (Europa — daher der Zeitungsname ^evroMsKi 'AMWiK, Europäischer Bote), ^lntsrlug. (seltner Xatsrlim), 56lisav6t>ii und ^eus^se (Elisabeth). In seltsam ver¬ wirrender Weise vertritt wiederum der lateinische Buchstabe L (d) das russische während für den schwachgehauchten Lippenlaut ein besondres Zeichen L (6) vorhanden ist; ä wird nach Belieben anch s geschrieben; 7 ist das russische n. Unmittelbar dem griechischen Alphabet entnommen und nur diesem angehörig sind es und G (Groß- und Kleinbuchstaben), wobei sich aber das Merkwürdige zugetragen hat. daß der griechische Zahnlaut in den gleichgehauchten Lippen¬ laut verwandelt wurde, während das ursprüngliche Zeichen blieb. Dadurch ent¬ standen die seltsamsten Tonbilder, zumal dort, wo die mit der neugriechischen übereinstimmende Aussprache des langen E und der J-Diphthonge hinzutrat. So wurde aus dem Buchstabennamen Theta selbst KM. aus ^-5^«,- ^Ku^ aus Höaor ist Theodor (während der echtrussische Name LoxäM lautet). Thekla. ^at Hyazinth. ^nasi Athanasius; die uns so fremdartig klingende NarlÄ (siehe Schillers Demetrius) ist einfach unsre Martha; NarlÄanM ist Bartholomäus. Fast noch krausere Bildungen ergeben sich in den zahlreichen Fällen, wo Gattungsnamen mit ihren Ablenkungen - wie in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/211>, abgerufen am 13.06.2024.