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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Landschaftsbilder von der Aüste Norwegens

nahmefähigkeit für die landschaftlichen Eindrücke an und für sich schon merk¬
lich vermindert, denn die bisherige siebentägige Neise war ein wahres Wett¬
rennen von einem Naturschauspiel zum andern gewesen. Es schadete deshalb
nichts, daß der folgende Tag zunächst keine neue Glanznummer brachte. Man
fuhr den ganzen Tag dahin zwischen kahlen Schäreninseln und den mehr oder
weniger kahlen, zum Teil mit streifigen Schnee bedeckten Bergen des Fest¬
landes. Es waren einzelne prächtige Beispiele von Güßfeldts Zebraschnce
darunter, aber ob mit, ob ohne Zebraschnee, sie wurden mehr und mehr lang¬
weilig. Was gäbe ich freilich dafür, wenn ich diese langweiligen Bergformen
und dieses langweilige Meer heute wiedersehen dürfte! Plötzlich schreckte mich
ein Kanonenschuß aus meinen Träumereien auf. Der dröhnende Schuß war
ein Salut und galt der Majestät der Natur, die hier über den Meeresspiegel
eine unsichtbare und doch unverrückbare Grenze gezogen hat: wir hatten
soeben den Polarkreis (66" 32' 30") überschritten.

Wie oft hatte ich mit andächtigem Sinn an diesen Augenblick gedacht,
und nun hatte er mich unvorbereitet überrascht. Aber die Aufregung rief alle
meine Lebensgeister wach und nahm den Schleier von meinen Augen. Mir
ists, als sähe und fühle ich noch die ganze Situation, ja ich höre noch die
letzten Tonwellen des Schusses. Um mich war kein Mensch, und die ganze
Natur war eine Symphonie von Ruhe und gedämpftem Licht: die Luft weich
und fast warm, der Himmel wolkenlos, aber nicht so hell wie sonst, das weite
Meer im Westen spiegelglatt und sonderbar grau, nirgends ein Ruhepunkt
für das entzückte Auge, nur weit draußen einige zackige Inseln. Der Abend
sollte uns aber noch ein greifbareres Wunder bringen. Wir fuhren an dem
bis zu 2300 Metern aufragenden Steilabsturz eines Hochplateaus entlang,
das in der Länge von 56 Kilometern und in der Breite von 17 Kilometern
von einem Riesengletscher bedeckt ist. Wiederholt sahen wir Zungen davon
herabhängen, und als unser Schiff in einen kleinen Fjord einbog, sahen wir
uns plötzlich einem breiten Eisstrom gegenüber, der sich ins Meer stürzte. Es
wurde ausgebootet, und bald standen wir am Svartisengletscher. Kurz vor
dem Landen hatte es sich allerdings als eine Augentäuschung erwiesen, wenn
wir die Eismassen bis ins Meer hatten hineinhängen sehen.

Eine allerdings sehr niedrige aber etwa einen Kilometer tiefe Landschwelle
mußten wir überschreiten, ehe wir an der hohen sandbedeckten Stirnmoräne
des Gletschers standen. Weiter vorzudringen erlaubte leider die Zeit nicht;
der Anblick der dahinter aufgestauten riesigen Eisblöcke oder richtiger Eisfelsen,
der letzten Wellen des breiten zerrissenen und zerklüfteten, vom Berg sich
herabwälzenden Eisstromes, war auch so überwältigend. Auf dem Rückwege
von dem grandiosen Schauspiel konnte ich nicht umhin, auch den reizenden
Pflanzenteppich zu bewundern, den der nordische Frühling zwischen den Rinnen
und den Ninnlein des Gletscherbaches ausgebreitet hatte. Besonders in die
Augen fallend maren halbkuglige Polster einer Nelke, gespickt mit kurz-


Landschaftsbilder von der Aüste Norwegens

nahmefähigkeit für die landschaftlichen Eindrücke an und für sich schon merk¬
lich vermindert, denn die bisherige siebentägige Neise war ein wahres Wett¬
rennen von einem Naturschauspiel zum andern gewesen. Es schadete deshalb
nichts, daß der folgende Tag zunächst keine neue Glanznummer brachte. Man
fuhr den ganzen Tag dahin zwischen kahlen Schäreninseln und den mehr oder
weniger kahlen, zum Teil mit streifigen Schnee bedeckten Bergen des Fest¬
landes. Es waren einzelne prächtige Beispiele von Güßfeldts Zebraschnce
darunter, aber ob mit, ob ohne Zebraschnee, sie wurden mehr und mehr lang¬
weilig. Was gäbe ich freilich dafür, wenn ich diese langweiligen Bergformen
und dieses langweilige Meer heute wiedersehen dürfte! Plötzlich schreckte mich
ein Kanonenschuß aus meinen Träumereien auf. Der dröhnende Schuß war
ein Salut und galt der Majestät der Natur, die hier über den Meeresspiegel
eine unsichtbare und doch unverrückbare Grenze gezogen hat: wir hatten
soeben den Polarkreis (66" 32' 30") überschritten.

Wie oft hatte ich mit andächtigem Sinn an diesen Augenblick gedacht,
und nun hatte er mich unvorbereitet überrascht. Aber die Aufregung rief alle
meine Lebensgeister wach und nahm den Schleier von meinen Augen. Mir
ists, als sähe und fühle ich noch die ganze Situation, ja ich höre noch die
letzten Tonwellen des Schusses. Um mich war kein Mensch, und die ganze
Natur war eine Symphonie von Ruhe und gedämpftem Licht: die Luft weich
und fast warm, der Himmel wolkenlos, aber nicht so hell wie sonst, das weite
Meer im Westen spiegelglatt und sonderbar grau, nirgends ein Ruhepunkt
für das entzückte Auge, nur weit draußen einige zackige Inseln. Der Abend
sollte uns aber noch ein greifbareres Wunder bringen. Wir fuhren an dem
bis zu 2300 Metern aufragenden Steilabsturz eines Hochplateaus entlang,
das in der Länge von 56 Kilometern und in der Breite von 17 Kilometern
von einem Riesengletscher bedeckt ist. Wiederholt sahen wir Zungen davon
herabhängen, und als unser Schiff in einen kleinen Fjord einbog, sahen wir
uns plötzlich einem breiten Eisstrom gegenüber, der sich ins Meer stürzte. Es
wurde ausgebootet, und bald standen wir am Svartisengletscher. Kurz vor
dem Landen hatte es sich allerdings als eine Augentäuschung erwiesen, wenn
wir die Eismassen bis ins Meer hatten hineinhängen sehen.

Eine allerdings sehr niedrige aber etwa einen Kilometer tiefe Landschwelle
mußten wir überschreiten, ehe wir an der hohen sandbedeckten Stirnmoräne
des Gletschers standen. Weiter vorzudringen erlaubte leider die Zeit nicht;
der Anblick der dahinter aufgestauten riesigen Eisblöcke oder richtiger Eisfelsen,
der letzten Wellen des breiten zerrissenen und zerklüfteten, vom Berg sich
herabwälzenden Eisstromes, war auch so überwältigend. Auf dem Rückwege
von dem grandiosen Schauspiel konnte ich nicht umhin, auch den reizenden
Pflanzenteppich zu bewundern, den der nordische Frühling zwischen den Rinnen
und den Ninnlein des Gletscherbaches ausgebreitet hatte. Besonders in die
Augen fallend maren halbkuglige Polster einer Nelke, gespickt mit kurz-


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[0476] Landschaftsbilder von der Aüste Norwegens nahmefähigkeit für die landschaftlichen Eindrücke an und für sich schon merk¬ lich vermindert, denn die bisherige siebentägige Neise war ein wahres Wett¬ rennen von einem Naturschauspiel zum andern gewesen. Es schadete deshalb nichts, daß der folgende Tag zunächst keine neue Glanznummer brachte. Man fuhr den ganzen Tag dahin zwischen kahlen Schäreninseln und den mehr oder weniger kahlen, zum Teil mit streifigen Schnee bedeckten Bergen des Fest¬ landes. Es waren einzelne prächtige Beispiele von Güßfeldts Zebraschnce darunter, aber ob mit, ob ohne Zebraschnee, sie wurden mehr und mehr lang¬ weilig. Was gäbe ich freilich dafür, wenn ich diese langweiligen Bergformen und dieses langweilige Meer heute wiedersehen dürfte! Plötzlich schreckte mich ein Kanonenschuß aus meinen Träumereien auf. Der dröhnende Schuß war ein Salut und galt der Majestät der Natur, die hier über den Meeresspiegel eine unsichtbare und doch unverrückbare Grenze gezogen hat: wir hatten soeben den Polarkreis (66" 32' 30") überschritten. Wie oft hatte ich mit andächtigem Sinn an diesen Augenblick gedacht, und nun hatte er mich unvorbereitet überrascht. Aber die Aufregung rief alle meine Lebensgeister wach und nahm den Schleier von meinen Augen. Mir ists, als sähe und fühle ich noch die ganze Situation, ja ich höre noch die letzten Tonwellen des Schusses. Um mich war kein Mensch, und die ganze Natur war eine Symphonie von Ruhe und gedämpftem Licht: die Luft weich und fast warm, der Himmel wolkenlos, aber nicht so hell wie sonst, das weite Meer im Westen spiegelglatt und sonderbar grau, nirgends ein Ruhepunkt für das entzückte Auge, nur weit draußen einige zackige Inseln. Der Abend sollte uns aber noch ein greifbareres Wunder bringen. Wir fuhren an dem bis zu 2300 Metern aufragenden Steilabsturz eines Hochplateaus entlang, das in der Länge von 56 Kilometern und in der Breite von 17 Kilometern von einem Riesengletscher bedeckt ist. Wiederholt sahen wir Zungen davon herabhängen, und als unser Schiff in einen kleinen Fjord einbog, sahen wir uns plötzlich einem breiten Eisstrom gegenüber, der sich ins Meer stürzte. Es wurde ausgebootet, und bald standen wir am Svartisengletscher. Kurz vor dem Landen hatte es sich allerdings als eine Augentäuschung erwiesen, wenn wir die Eismassen bis ins Meer hatten hineinhängen sehen. Eine allerdings sehr niedrige aber etwa einen Kilometer tiefe Landschwelle mußten wir überschreiten, ehe wir an der hohen sandbedeckten Stirnmoräne des Gletschers standen. Weiter vorzudringen erlaubte leider die Zeit nicht; der Anblick der dahinter aufgestauten riesigen Eisblöcke oder richtiger Eisfelsen, der letzten Wellen des breiten zerrissenen und zerklüfteten, vom Berg sich herabwälzenden Eisstromes, war auch so überwältigend. Auf dem Rückwege von dem grandiosen Schauspiel konnte ich nicht umhin, auch den reizenden Pflanzenteppich zu bewundern, den der nordische Frühling zwischen den Rinnen und den Ninnlein des Gletscherbaches ausgebreitet hatte. Besonders in die Augen fallend maren halbkuglige Polster einer Nelke, gespickt mit kurz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/476>, abgerufen am 03.06.2024.