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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

artung erlebt hat, die sich fast in allen gesetzgebenden Körperschaften zeigt.
Längst nicht mehr wie beim Entstehen der konstitutionellen Einrichtungen sieht
man mit Vertrauen auf ihren Erfolg, man hat über die Ideale früherer Zeiten
nüchterner urteilen lernen, und sie haben, in der Nähe besehen, natürlich viel
von ihrem Glänze und ihrer Reinheit verloren. Man mag aber den heutigen
Parlamentarismus betrachten, wie man will, immer wird sich ergeben, daß er
den eigentlichen Grundgedanken, auf dem er beruht, doch nicht erschüttert,
sondern daß nur die Art und Weise, in der sich sein Wirken äußert, sein An¬
sehen durch seine Vertreter selbst geschädigt hat. In Deutschland namentlich
sind das Kaisertum und die Monarchie für absehbare Zeit nur denkbar in der
konstitutionellen Form, darum sind die parlamentarischen Einrichtungen un¬
entbehrlich. Weil sie es aber sind, so ist es wieder eine Lebensfrage für das
Deutsche Reich, daß sie gesund erhalten bleiben, denn es ist nicht ein politischer
Aberglaube allein, daß "Freiheit und Fortschritt" ohne gesetzgebende Körper¬
schaften auf demokratischer Grundlage undenkbar sind. Auch die neueste Ent¬
wicklung in Rußland hat unverkennbar die Unmöglichkeit des Absolutismus
dargetan, so wenig es auch der politischen Zerfahrenheit der ersten Duma des
Reichs gelingen konnte, eine vernünftige politische Schöpfung zustande zu
bringen; das war dem deutschen Reichstag in Frankfurt auch nicht beschieden
gewesen. Auf diesem Wege entsteh" dauerhafte Verfassungen überhaupt nicht.
Schon wegen der Größe der heutigen Staaten ist der Absolutismus unmöglich,
während er noch in dem Preußen des großen Friedrich unter seiner genialen
Leitung eine segensreiche Tätigkeit zu entfalten vermochte. Muß man also
auch bei der Betrachtung des heutigen Parlamentarismus sehr häufig irre
werden an seiner Berechtigung und seinen Nutzen bezweifeln, so sind doch die
Folgen, die ihn begleiten, nicht so bedenklicher Art, daß sich aus ihnen bei
eingehender Erwägung eine Waffe gegen den konstitutionellen Grundgedanken
selbst schmieden ließe.

Wie angedeutet worden ist, hat das parlamentarische Leben in Deutschland
schon eine große und verheißungsvolle Periode Hintersich: das erste Jahrzehnt
nach der Einberufung des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen
Bundes. Was vorher an Parlamentarismus in den deutschen Staaten bestand,
war nicht viel andres als eine doktrinäre Nachahmung des französischen oder
genauer des belgischen Systems, die in einigen Mittel- oder Kleinstaaten zeit¬
weilig zu leidlich befriedigenden Zustünden gelangte, in Preußen aber zu einem
tiefgehenden Konflikte führte, den nur große welterschütternde Ereignisse zu
Ende brachten. Es sind jetzt genau vierzig Jahre seit jener auch für das
Wesen des deutschen Parlamentarismus bedeutungsvollen Zeit verflossen, und
es ist darum wohl angebracht, einmal wieder seiner einstigen Höhe und der
unverkennbaren Ursachen seines Niedergangs zu gedenken. Unter dem Ein¬
drucke der Katastrophe von Königgrätz. deren welthistorische Bedeutung seitdem
wohl noch nicht einmal von der Seeschlacht bei Tsuschima überholt worden ist,


vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

artung erlebt hat, die sich fast in allen gesetzgebenden Körperschaften zeigt.
Längst nicht mehr wie beim Entstehen der konstitutionellen Einrichtungen sieht
man mit Vertrauen auf ihren Erfolg, man hat über die Ideale früherer Zeiten
nüchterner urteilen lernen, und sie haben, in der Nähe besehen, natürlich viel
von ihrem Glänze und ihrer Reinheit verloren. Man mag aber den heutigen
Parlamentarismus betrachten, wie man will, immer wird sich ergeben, daß er
den eigentlichen Grundgedanken, auf dem er beruht, doch nicht erschüttert,
sondern daß nur die Art und Weise, in der sich sein Wirken äußert, sein An¬
sehen durch seine Vertreter selbst geschädigt hat. In Deutschland namentlich
sind das Kaisertum und die Monarchie für absehbare Zeit nur denkbar in der
konstitutionellen Form, darum sind die parlamentarischen Einrichtungen un¬
entbehrlich. Weil sie es aber sind, so ist es wieder eine Lebensfrage für das
Deutsche Reich, daß sie gesund erhalten bleiben, denn es ist nicht ein politischer
Aberglaube allein, daß „Freiheit und Fortschritt" ohne gesetzgebende Körper¬
schaften auf demokratischer Grundlage undenkbar sind. Auch die neueste Ent¬
wicklung in Rußland hat unverkennbar die Unmöglichkeit des Absolutismus
dargetan, so wenig es auch der politischen Zerfahrenheit der ersten Duma des
Reichs gelingen konnte, eine vernünftige politische Schöpfung zustande zu
bringen; das war dem deutschen Reichstag in Frankfurt auch nicht beschieden
gewesen. Auf diesem Wege entsteh» dauerhafte Verfassungen überhaupt nicht.
Schon wegen der Größe der heutigen Staaten ist der Absolutismus unmöglich,
während er noch in dem Preußen des großen Friedrich unter seiner genialen
Leitung eine segensreiche Tätigkeit zu entfalten vermochte. Muß man also
auch bei der Betrachtung des heutigen Parlamentarismus sehr häufig irre
werden an seiner Berechtigung und seinen Nutzen bezweifeln, so sind doch die
Folgen, die ihn begleiten, nicht so bedenklicher Art, daß sich aus ihnen bei
eingehender Erwägung eine Waffe gegen den konstitutionellen Grundgedanken
selbst schmieden ließe.

Wie angedeutet worden ist, hat das parlamentarische Leben in Deutschland
schon eine große und verheißungsvolle Periode Hintersich: das erste Jahrzehnt
nach der Einberufung des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen
Bundes. Was vorher an Parlamentarismus in den deutschen Staaten bestand,
war nicht viel andres als eine doktrinäre Nachahmung des französischen oder
genauer des belgischen Systems, die in einigen Mittel- oder Kleinstaaten zeit¬
weilig zu leidlich befriedigenden Zustünden gelangte, in Preußen aber zu einem
tiefgehenden Konflikte führte, den nur große welterschütternde Ereignisse zu
Ende brachten. Es sind jetzt genau vierzig Jahre seit jener auch für das
Wesen des deutschen Parlamentarismus bedeutungsvollen Zeit verflossen, und
es ist darum wohl angebracht, einmal wieder seiner einstigen Höhe und der
unverkennbaren Ursachen seines Niedergangs zu gedenken. Unter dem Ein¬
drucke der Katastrophe von Königgrätz. deren welthistorische Bedeutung seitdem
wohl noch nicht einmal von der Seeschlacht bei Tsuschima überholt worden ist,


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[0243] vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus artung erlebt hat, die sich fast in allen gesetzgebenden Körperschaften zeigt. Längst nicht mehr wie beim Entstehen der konstitutionellen Einrichtungen sieht man mit Vertrauen auf ihren Erfolg, man hat über die Ideale früherer Zeiten nüchterner urteilen lernen, und sie haben, in der Nähe besehen, natürlich viel von ihrem Glänze und ihrer Reinheit verloren. Man mag aber den heutigen Parlamentarismus betrachten, wie man will, immer wird sich ergeben, daß er den eigentlichen Grundgedanken, auf dem er beruht, doch nicht erschüttert, sondern daß nur die Art und Weise, in der sich sein Wirken äußert, sein An¬ sehen durch seine Vertreter selbst geschädigt hat. In Deutschland namentlich sind das Kaisertum und die Monarchie für absehbare Zeit nur denkbar in der konstitutionellen Form, darum sind die parlamentarischen Einrichtungen un¬ entbehrlich. Weil sie es aber sind, so ist es wieder eine Lebensfrage für das Deutsche Reich, daß sie gesund erhalten bleiben, denn es ist nicht ein politischer Aberglaube allein, daß „Freiheit und Fortschritt" ohne gesetzgebende Körper¬ schaften auf demokratischer Grundlage undenkbar sind. Auch die neueste Ent¬ wicklung in Rußland hat unverkennbar die Unmöglichkeit des Absolutismus dargetan, so wenig es auch der politischen Zerfahrenheit der ersten Duma des Reichs gelingen konnte, eine vernünftige politische Schöpfung zustande zu bringen; das war dem deutschen Reichstag in Frankfurt auch nicht beschieden gewesen. Auf diesem Wege entsteh» dauerhafte Verfassungen überhaupt nicht. Schon wegen der Größe der heutigen Staaten ist der Absolutismus unmöglich, während er noch in dem Preußen des großen Friedrich unter seiner genialen Leitung eine segensreiche Tätigkeit zu entfalten vermochte. Muß man also auch bei der Betrachtung des heutigen Parlamentarismus sehr häufig irre werden an seiner Berechtigung und seinen Nutzen bezweifeln, so sind doch die Folgen, die ihn begleiten, nicht so bedenklicher Art, daß sich aus ihnen bei eingehender Erwägung eine Waffe gegen den konstitutionellen Grundgedanken selbst schmieden ließe. Wie angedeutet worden ist, hat das parlamentarische Leben in Deutschland schon eine große und verheißungsvolle Periode Hintersich: das erste Jahrzehnt nach der Einberufung des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes. Was vorher an Parlamentarismus in den deutschen Staaten bestand, war nicht viel andres als eine doktrinäre Nachahmung des französischen oder genauer des belgischen Systems, die in einigen Mittel- oder Kleinstaaten zeit¬ weilig zu leidlich befriedigenden Zustünden gelangte, in Preußen aber zu einem tiefgehenden Konflikte führte, den nur große welterschütternde Ereignisse zu Ende brachten. Es sind jetzt genau vierzig Jahre seit jener auch für das Wesen des deutschen Parlamentarismus bedeutungsvollen Zeit verflossen, und es ist darum wohl angebracht, einmal wieder seiner einstigen Höhe und der unverkennbaren Ursachen seines Niedergangs zu gedenken. Unter dem Ein¬ drucke der Katastrophe von Königgrätz. deren welthistorische Bedeutung seitdem wohl noch nicht einmal von der Seeschlacht bei Tsuschima überholt worden ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/243>, abgerufen am 05.06.2024.