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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

gemacht. Es wird nun nach der Einführung der Anwesenheitsgelder erst recht
keine Partei dazu zu bringen sein, für den Schluß der Debatte zu stimmen,
so lange noch eine Parteigröße eine Rede zum Ruhme der Partei oder zum
besten der Wahlagitation auf der Pfanne hat. Der warme Freund Deutsch¬
lands, Thomas Carlyle, sagte schon zur Zeit des Deutsch-französischen Krieges
zu Friedrich Althaus, der als Folge des Krieges ein deutsches Parlament
voraussah: "Vermutlich, aber Sie wissen, Parlamente sind Wesenheiten, die
ich für meinen Teil nicht billige. Sie arten zu leicht in Redemaschinen aus."
Dieser Gedanke bedarf angesichts der heutigen Zustände im Reichstage keines
Kommentars, unter zwei Stunden tut es ein richtiger Parteiredner kaum noch.
Dem Demagogentum im Parlament einen Damm entgegenzusetzen, darum hatte
man bei der Gründung des Reichs die Diäten verweigert, der Liberalismus
vermochte sich nur schwer darein zu fügen, aber damals überwog auch in seiner
Mehrheit das Bestreben, die Tätigkeit des Reichstags auf das zu beschränken,
was dem neuen Reiche frommen und praktisch durchgeführt werden könne.
Damals brauchte man nicht Schlagwörter, wie "das Vaterland, nicht die
Partei"; heute predigt man sie in allen Ecken, aber in Wirklichkeit hat der
Parteigeist den Gedanken an das Vaterland immer mehr verdrängt und ist
immer demagogischer geworden. Die Forderung der Diäten selbst entspringt
ja auch dem demagogischen Zuge nach "Rechten", womöglich nach Rechten
auf Kosten der Allgemeinheit. Jedermann möchte aus dem großen Topfe
nehmen, aber keiner mag hineintun. Das Amt eines Abgeordneten sollte ein
Ehrenamt bleiben, das von seinem Inhaber Opfer fordert, dann erst wird es
bei ihm selbst wie bei andern in der Achtung stehn, mit hohen Diäten wird es
ein Broterwerb, eine Karriere. Jetzt hat bloß noch England, das Ursprungs¬
land des modernen Parlamentarismus, Abgeordnete ohne Diäten. In Süd¬
deutschland macht sich schon eine Bewegung geltend, um auch den Geschwornen
Diäten zu verschaffen, danach werden wohl die Mitglieder der Gemeinde¬
vertretungen daran kommen. Was mag dann schließlich noch übrig bleiben
von all den "Ehrenämtern", mit denen uns die neue Zeit noch reichlicher ge¬
segnet hat als die Vergangenheit, wenn der Zug nach "Bezahlung" so weiter
anhält?

Daß mit der Gewährung der Anwesenheitsgelder für den Reichstag wirklich
"der neue Tag einer verstündigern parlamentarischen Dynamik und Wirtschaft"
angebrochen ist, wie der Abgeordnete Dr. Böttger im "Tag" kurz nach Schluß
der Session hoffnungsvoll aussprach, wird auf vielen Seiten bezweifelt, aber
man kann ja mit ihm erwarten, "daß jetzt Selbstzucht und straffe Hausordnung
bald die letzten Schwächeerscheinungen, die den Reichstag zum Kindergespött
zu machen drohten, überwinden werden". Die ersten Leistungen des mit Diäten
ausgestatteten Reichstags haben so hohen Erwartungen freilich nicht ent¬
sprochen. Wenn sich der Bundesrat nach Jahrzehnten der Weigerung schließlich
entschlossen hat, die Diäten in Gestalt von Anwesenheitsgeldern zu bewilligen.


vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

gemacht. Es wird nun nach der Einführung der Anwesenheitsgelder erst recht
keine Partei dazu zu bringen sein, für den Schluß der Debatte zu stimmen,
so lange noch eine Parteigröße eine Rede zum Ruhme der Partei oder zum
besten der Wahlagitation auf der Pfanne hat. Der warme Freund Deutsch¬
lands, Thomas Carlyle, sagte schon zur Zeit des Deutsch-französischen Krieges
zu Friedrich Althaus, der als Folge des Krieges ein deutsches Parlament
voraussah: „Vermutlich, aber Sie wissen, Parlamente sind Wesenheiten, die
ich für meinen Teil nicht billige. Sie arten zu leicht in Redemaschinen aus."
Dieser Gedanke bedarf angesichts der heutigen Zustände im Reichstage keines
Kommentars, unter zwei Stunden tut es ein richtiger Parteiredner kaum noch.
Dem Demagogentum im Parlament einen Damm entgegenzusetzen, darum hatte
man bei der Gründung des Reichs die Diäten verweigert, der Liberalismus
vermochte sich nur schwer darein zu fügen, aber damals überwog auch in seiner
Mehrheit das Bestreben, die Tätigkeit des Reichstags auf das zu beschränken,
was dem neuen Reiche frommen und praktisch durchgeführt werden könne.
Damals brauchte man nicht Schlagwörter, wie „das Vaterland, nicht die
Partei"; heute predigt man sie in allen Ecken, aber in Wirklichkeit hat der
Parteigeist den Gedanken an das Vaterland immer mehr verdrängt und ist
immer demagogischer geworden. Die Forderung der Diäten selbst entspringt
ja auch dem demagogischen Zuge nach „Rechten", womöglich nach Rechten
auf Kosten der Allgemeinheit. Jedermann möchte aus dem großen Topfe
nehmen, aber keiner mag hineintun. Das Amt eines Abgeordneten sollte ein
Ehrenamt bleiben, das von seinem Inhaber Opfer fordert, dann erst wird es
bei ihm selbst wie bei andern in der Achtung stehn, mit hohen Diäten wird es
ein Broterwerb, eine Karriere. Jetzt hat bloß noch England, das Ursprungs¬
land des modernen Parlamentarismus, Abgeordnete ohne Diäten. In Süd¬
deutschland macht sich schon eine Bewegung geltend, um auch den Geschwornen
Diäten zu verschaffen, danach werden wohl die Mitglieder der Gemeinde¬
vertretungen daran kommen. Was mag dann schließlich noch übrig bleiben
von all den „Ehrenämtern", mit denen uns die neue Zeit noch reichlicher ge¬
segnet hat als die Vergangenheit, wenn der Zug nach „Bezahlung" so weiter
anhält?

Daß mit der Gewährung der Anwesenheitsgelder für den Reichstag wirklich
„der neue Tag einer verstündigern parlamentarischen Dynamik und Wirtschaft"
angebrochen ist, wie der Abgeordnete Dr. Böttger im „Tag" kurz nach Schluß
der Session hoffnungsvoll aussprach, wird auf vielen Seiten bezweifelt, aber
man kann ja mit ihm erwarten, „daß jetzt Selbstzucht und straffe Hausordnung
bald die letzten Schwächeerscheinungen, die den Reichstag zum Kindergespött
zu machen drohten, überwinden werden". Die ersten Leistungen des mit Diäten
ausgestatteten Reichstags haben so hohen Erwartungen freilich nicht ent¬
sprochen. Wenn sich der Bundesrat nach Jahrzehnten der Weigerung schließlich
entschlossen hat, die Diäten in Gestalt von Anwesenheitsgeldern zu bewilligen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/246>, abgerufen am 29.05.2024.