Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

so haben ihn offenbar Gründe der praktischen Politik hierzu veranlaßt. Von
allen Gegengründen konnte eigentlich doch nur einer als stichhaltig gelten: die
Ansicht des Begründers der Verfassung, in der Diätenlosigkeit, die Mittellosen
eigentlich die Annahme eines Maubads unmöglich machen würde, ein Gegen¬
gewicht gegen das allgemeine Stimmrecht zu schaffen. Durch die Gepflogenheit
des Reichstags selbst, der die Verfassungsbestimmung über den Bezug von
Diäten nicht gehandhabt und die Mitglieder, die verfassungswidrig Partei¬
diäten bezogen, nicht ihres Maubads verlustig erklärt hat. ist jene Vorsichts¬
maßregel wertlos geworden. Der Hinweis des Altreichskanzlers auf diese
Verfasfungsverletzung war im Hause niemals beachtet, und es war damit
Rechtens geworden, daß Reichstagsmitglieder die Verfassung umgehn durften.
Es wäre vom vierten Reichskanzler zu viel verlangt gewesen, wenn man ihm
hätte zumuten wollen, was sein großer Borgänger nicht durchzusetzen vermochte.
Unter diesen Umständen war es politisch wohl am klügsten, statt einen sichern
Konflikt mit dem Reichstage heraufzubeschwören, die gegenstandslos gewordne
Verfassungsbestimmung fallen zu lassen. Wenn dadurch für die schwerwiegenden
Politischen Aufgaben unsrer Tage erreicht würde, daß der Reichstag wenigstens
für eine Reihe von Jahren seine Arbeiten beschleunigte, so wäre das schon
ein großer Gewinn für das Reich. Ob freilich der Bundesrat die ihm jetzt
gebotne Gelegenheit benutzen wird, durch Nichtanerkennung zukünftiger, von
einer verfassungswidrigen Minderheit gefaßter Beschlüsse auf eine Abänderung
der Geschäftsordnung des hohen Hauses hinzuwirken, steht dahin. Ohne eine
solche ist höchstens eine vorübergehende Besserung zu erreichen, denn das Haupt¬
übel im Reichstage liegt in der Zunahme der Dauerreden der Berufsparla¬
mentarier, und deren Zahl wird nach der Gewährung von Diäten unaufhaltsam
wachsen. Diese Überberedsamkeit schädigt aber die Brauchbarkeit und das An¬
sehen der Parlamente, sie reden sich selbst tot.

Als Debattierklub war der deutsche Reichstag nicht gedacht und nicht ge¬
schaffen worden, er sollte vielmehr die Geschäfte des Reichs besorgen. Das
Gemeinwohl leidet durch den Zerfall des Reichsparlamentarismus, und darum
darf man um den Parlamentarismus besorgt sein, aber nicht um des Parla¬
mentarismus, sondern um des Gemeinwohls willen. Es gibt für den Parla¬
mentarismus keine größere Gefahr als die Einführung von Diäten. Es ist
wahrscheinlich, daß sich die Zusammensetzung des Reichstags noch eine oder
zwei Wahlperioden nicht sehr von der gegenwärtigen unterscheiden wird, weil
so lange der Einfluß der heutigen Parteien die Wahlen beherrschen dürfte.
Dann aber werden sich in rascher Folge Männer zu den Wahlen drängen, die
nur vom politischen Ehrgeiz beseelt sind, sehr gern im öffentlichen Leben eine
Rolle spielen, häufig in der Zeitung stehn und einen "Machtfaktor" spielen
möchten, sei es auch nur. um große Oppositionsreden halten und ein Gesetz
mit niederstimmen zu können. Wenn dazu die bisherigen Parteien keinen
geeigneten Nahmen abgeben, werden sich durch Absplitterung neue bilden. Man


vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus

so haben ihn offenbar Gründe der praktischen Politik hierzu veranlaßt. Von
allen Gegengründen konnte eigentlich doch nur einer als stichhaltig gelten: die
Ansicht des Begründers der Verfassung, in der Diätenlosigkeit, die Mittellosen
eigentlich die Annahme eines Maubads unmöglich machen würde, ein Gegen¬
gewicht gegen das allgemeine Stimmrecht zu schaffen. Durch die Gepflogenheit
des Reichstags selbst, der die Verfassungsbestimmung über den Bezug von
Diäten nicht gehandhabt und die Mitglieder, die verfassungswidrig Partei¬
diäten bezogen, nicht ihres Maubads verlustig erklärt hat. ist jene Vorsichts¬
maßregel wertlos geworden. Der Hinweis des Altreichskanzlers auf diese
Verfasfungsverletzung war im Hause niemals beachtet, und es war damit
Rechtens geworden, daß Reichstagsmitglieder die Verfassung umgehn durften.
Es wäre vom vierten Reichskanzler zu viel verlangt gewesen, wenn man ihm
hätte zumuten wollen, was sein großer Borgänger nicht durchzusetzen vermochte.
Unter diesen Umständen war es politisch wohl am klügsten, statt einen sichern
Konflikt mit dem Reichstage heraufzubeschwören, die gegenstandslos gewordne
Verfassungsbestimmung fallen zu lassen. Wenn dadurch für die schwerwiegenden
Politischen Aufgaben unsrer Tage erreicht würde, daß der Reichstag wenigstens
für eine Reihe von Jahren seine Arbeiten beschleunigte, so wäre das schon
ein großer Gewinn für das Reich. Ob freilich der Bundesrat die ihm jetzt
gebotne Gelegenheit benutzen wird, durch Nichtanerkennung zukünftiger, von
einer verfassungswidrigen Minderheit gefaßter Beschlüsse auf eine Abänderung
der Geschäftsordnung des hohen Hauses hinzuwirken, steht dahin. Ohne eine
solche ist höchstens eine vorübergehende Besserung zu erreichen, denn das Haupt¬
übel im Reichstage liegt in der Zunahme der Dauerreden der Berufsparla¬
mentarier, und deren Zahl wird nach der Gewährung von Diäten unaufhaltsam
wachsen. Diese Überberedsamkeit schädigt aber die Brauchbarkeit und das An¬
sehen der Parlamente, sie reden sich selbst tot.

Als Debattierklub war der deutsche Reichstag nicht gedacht und nicht ge¬
schaffen worden, er sollte vielmehr die Geschäfte des Reichs besorgen. Das
Gemeinwohl leidet durch den Zerfall des Reichsparlamentarismus, und darum
darf man um den Parlamentarismus besorgt sein, aber nicht um des Parla¬
mentarismus, sondern um des Gemeinwohls willen. Es gibt für den Parla¬
mentarismus keine größere Gefahr als die Einführung von Diäten. Es ist
wahrscheinlich, daß sich die Zusammensetzung des Reichstags noch eine oder
zwei Wahlperioden nicht sehr von der gegenwärtigen unterscheiden wird, weil
so lange der Einfluß der heutigen Parteien die Wahlen beherrschen dürfte.
Dann aber werden sich in rascher Folge Männer zu den Wahlen drängen, die
nur vom politischen Ehrgeiz beseelt sind, sehr gern im öffentlichen Leben eine
Rolle spielen, häufig in der Zeitung stehn und einen „Machtfaktor" spielen
möchten, sei es auch nur. um große Oppositionsreden halten und ein Gesetz
mit niederstimmen zu können. Wenn dazu die bisherigen Parteien keinen
geeigneten Nahmen abgeben, werden sich durch Absplitterung neue bilden. Man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0247" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300746"/>
          <fw type="header" place="top"> vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1003" prev="#ID_1002"> so haben ihn offenbar Gründe der praktischen Politik hierzu veranlaßt. Von<lb/>
allen Gegengründen konnte eigentlich doch nur einer als stichhaltig gelten: die<lb/>
Ansicht des Begründers der Verfassung, in der Diätenlosigkeit, die Mittellosen<lb/>
eigentlich die Annahme eines Maubads unmöglich machen würde, ein Gegen¬<lb/>
gewicht gegen das allgemeine Stimmrecht zu schaffen. Durch die Gepflogenheit<lb/>
des Reichstags selbst, der die Verfassungsbestimmung über den Bezug von<lb/>
Diäten nicht gehandhabt und die Mitglieder, die verfassungswidrig Partei¬<lb/>
diäten bezogen, nicht ihres Maubads verlustig erklärt hat. ist jene Vorsichts¬<lb/>
maßregel wertlos geworden.  Der Hinweis des Altreichskanzlers auf diese<lb/>
Verfasfungsverletzung war im Hause niemals beachtet, und es war damit<lb/>
Rechtens geworden, daß Reichstagsmitglieder die Verfassung umgehn durften.<lb/>
Es wäre vom vierten Reichskanzler zu viel verlangt gewesen, wenn man ihm<lb/>
hätte zumuten wollen, was sein großer Borgänger nicht durchzusetzen vermochte.<lb/>
Unter diesen Umständen war es politisch wohl am klügsten, statt einen sichern<lb/>
Konflikt mit dem Reichstage heraufzubeschwören, die gegenstandslos gewordne<lb/>
Verfassungsbestimmung fallen zu lassen. Wenn dadurch für die schwerwiegenden<lb/>
Politischen Aufgaben unsrer Tage erreicht würde, daß der Reichstag wenigstens<lb/>
für eine Reihe von Jahren seine Arbeiten beschleunigte, so wäre das schon<lb/>
ein großer Gewinn für das Reich.  Ob freilich der Bundesrat die ihm jetzt<lb/>
gebotne Gelegenheit benutzen wird, durch Nichtanerkennung zukünftiger, von<lb/>
einer verfassungswidrigen Minderheit gefaßter Beschlüsse auf eine Abänderung<lb/>
der Geschäftsordnung des hohen Hauses hinzuwirken, steht dahin. Ohne eine<lb/>
solche ist höchstens eine vorübergehende Besserung zu erreichen, denn das Haupt¬<lb/>
übel im Reichstage liegt in der Zunahme der Dauerreden der Berufsparla¬<lb/>
mentarier, und deren Zahl wird nach der Gewährung von Diäten unaufhaltsam<lb/>
wachsen. Diese Überberedsamkeit schädigt aber die Brauchbarkeit und das An¬<lb/>
sehen der Parlamente, sie reden sich selbst tot.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1004" next="#ID_1005"> Als Debattierklub war der deutsche Reichstag nicht gedacht und nicht ge¬<lb/>
schaffen worden, er sollte vielmehr die Geschäfte des Reichs besorgen. Das<lb/>
Gemeinwohl leidet durch den Zerfall des Reichsparlamentarismus, und darum<lb/>
darf man um den Parlamentarismus besorgt sein, aber nicht um des Parla¬<lb/>
mentarismus, sondern um des Gemeinwohls willen. Es gibt für den Parla¬<lb/>
mentarismus keine größere Gefahr als die Einführung von Diäten. Es ist<lb/>
wahrscheinlich, daß sich die Zusammensetzung des Reichstags noch eine oder<lb/>
zwei Wahlperioden nicht sehr von der gegenwärtigen unterscheiden wird, weil<lb/>
so lange der Einfluß der heutigen Parteien die Wahlen beherrschen dürfte.<lb/>
Dann aber werden sich in rascher Folge Männer zu den Wahlen drängen, die<lb/>
nur vom politischen Ehrgeiz beseelt sind, sehr gern im öffentlichen Leben eine<lb/>
Rolle spielen, häufig in der Zeitung stehn und einen &#x201E;Machtfaktor" spielen<lb/>
möchten, sei es auch nur. um große Oppositionsreden halten und ein Gesetz<lb/>
mit niederstimmen zu können. Wenn dazu die bisherigen Parteien keinen<lb/>
geeigneten Nahmen abgeben, werden sich durch Absplitterung neue bilden. Man</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0247] vierzig Jahre deutscher Parlamentarismus so haben ihn offenbar Gründe der praktischen Politik hierzu veranlaßt. Von allen Gegengründen konnte eigentlich doch nur einer als stichhaltig gelten: die Ansicht des Begründers der Verfassung, in der Diätenlosigkeit, die Mittellosen eigentlich die Annahme eines Maubads unmöglich machen würde, ein Gegen¬ gewicht gegen das allgemeine Stimmrecht zu schaffen. Durch die Gepflogenheit des Reichstags selbst, der die Verfassungsbestimmung über den Bezug von Diäten nicht gehandhabt und die Mitglieder, die verfassungswidrig Partei¬ diäten bezogen, nicht ihres Maubads verlustig erklärt hat. ist jene Vorsichts¬ maßregel wertlos geworden. Der Hinweis des Altreichskanzlers auf diese Verfasfungsverletzung war im Hause niemals beachtet, und es war damit Rechtens geworden, daß Reichstagsmitglieder die Verfassung umgehn durften. Es wäre vom vierten Reichskanzler zu viel verlangt gewesen, wenn man ihm hätte zumuten wollen, was sein großer Borgänger nicht durchzusetzen vermochte. Unter diesen Umständen war es politisch wohl am klügsten, statt einen sichern Konflikt mit dem Reichstage heraufzubeschwören, die gegenstandslos gewordne Verfassungsbestimmung fallen zu lassen. Wenn dadurch für die schwerwiegenden Politischen Aufgaben unsrer Tage erreicht würde, daß der Reichstag wenigstens für eine Reihe von Jahren seine Arbeiten beschleunigte, so wäre das schon ein großer Gewinn für das Reich. Ob freilich der Bundesrat die ihm jetzt gebotne Gelegenheit benutzen wird, durch Nichtanerkennung zukünftiger, von einer verfassungswidrigen Minderheit gefaßter Beschlüsse auf eine Abänderung der Geschäftsordnung des hohen Hauses hinzuwirken, steht dahin. Ohne eine solche ist höchstens eine vorübergehende Besserung zu erreichen, denn das Haupt¬ übel im Reichstage liegt in der Zunahme der Dauerreden der Berufsparla¬ mentarier, und deren Zahl wird nach der Gewährung von Diäten unaufhaltsam wachsen. Diese Überberedsamkeit schädigt aber die Brauchbarkeit und das An¬ sehen der Parlamente, sie reden sich selbst tot. Als Debattierklub war der deutsche Reichstag nicht gedacht und nicht ge¬ schaffen worden, er sollte vielmehr die Geschäfte des Reichs besorgen. Das Gemeinwohl leidet durch den Zerfall des Reichsparlamentarismus, und darum darf man um den Parlamentarismus besorgt sein, aber nicht um des Parla¬ mentarismus, sondern um des Gemeinwohls willen. Es gibt für den Parla¬ mentarismus keine größere Gefahr als die Einführung von Diäten. Es ist wahrscheinlich, daß sich die Zusammensetzung des Reichstags noch eine oder zwei Wahlperioden nicht sehr von der gegenwärtigen unterscheiden wird, weil so lange der Einfluß der heutigen Parteien die Wahlen beherrschen dürfte. Dann aber werden sich in rascher Folge Männer zu den Wahlen drängen, die nur vom politischen Ehrgeiz beseelt sind, sehr gern im öffentlichen Leben eine Rolle spielen, häufig in der Zeitung stehn und einen „Machtfaktor" spielen möchten, sei es auch nur. um große Oppositionsreden halten und ein Gesetz mit niederstimmen zu können. Wenn dazu die bisherigen Parteien keinen geeigneten Nahmen abgeben, werden sich durch Absplitterung neue bilden. Man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/247
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/247>, abgerufen am 15.05.2024.