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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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vor vierzig Jahren

Inzwischen meldete eine neue Depesche den Einmarsch der Preußen auch von
Minden her, und Reisende, die von Norden ankamen, erzählten, sie hätten ihre
Kolonnen zwischen Hnrburg und Hannover gesehen. Und dann, um zehn Uhr,
kam der erste Zug, der hannöversche Truppen brachte, schmucke Gardejäger;
mit klingendem Spiele, von Tausenden begrüßt, marschierte" sie in die Stadt.
Gegen elf Uhr kam ein zweiter Zug. Mein Wirt erhielt vier Mann Ein¬
quartierung; unterwegs erfuhr ich, die Preußen seien auch bei Marburg in
Hessen eingerückt. So ging es bis nach Mitternacht. In der größten Auf¬
regung schrieb ich an meinen Vater, ich wolle morgen abreisen; wie ich mich
nach der Heimat, von deren Schicksal in diesen Tagen ich gar nichts wußte
-- denn die Verbindungen waren schon unterbrochen --, durchschlagen werde,
wisse ich freilich nicht.

Ani nächsten Morgen, Sonnabends, um sechs Uhr weckte mich mein Wichsier
mit der Nachricht, soeben sei der König Georg mit dem Kronprinzen ge¬
kommen und in der Goldner Krone, wenig Schritte von meiner Wohnung,
abgestiegen; die ganze Stadt sei schon voll von Militär. Und nun kamen den
ganzen Vormittag neue Bataillone die Weender Straße heraumarschiert, prächtige
Truppen, stattliche, hochgewachsne, blonde Leute, echte Niedersachsen; mit
klingendem Spiele begrüßten sie ihren blinden König, der am Fenster stand.
Welch ein Jammer, daß er sie in den Bürgerkrieg schickte! Sie waren oft den
ganzen vorhergehenden Tag marschiert, hatten unterwegs kaum etwas be¬
kommen, wußten nicht, wohin. Aber sie zeigten sich entschlossen, mutig und
ernst. Mai? hatte ihnen, wohl mit Absicht, vorgelogen, die Preußen Hütten
die Waterloosäule in Hannover (das sie noch gar nicht besetzt hatten!) zerstört;
sie waren darüber tief erbittert, und man konnte sie sagen hören: "Lieber in
den Tod als mit den Preußen!" Doch schon begann man davon zu sprechen,
daß sie abgeschnitten werden könnten, denn die Nachricht verbreitete sich, der
Kurfürst von Hessen habe das preußische Ultimatum angenommen, und Kassel
sei schon in den Händen der Preußen. Daraufhin beschloß ich, da ich befürchten
mußte, daß die Verbindungen nach Norden bald abgeschnitten werden würden,
über Kassel und Eisenach nach Leipzig abzureisen, wohin kurz nach drei Uhr ein
Schnellzug abgehn sollte. Ich fand den Bahnhof erfüllt mit ankommenden
Militär und Geschützen und hörte so manches, was auf große Verwirrung und
Mangel an Schlagfertigkeit schließen ließ; so viel war klar, daß sich die han-
növersche Armee vorläufig um Göttingen sammeln mußte, um sich für den Kampf
einigermaßen vorzubereiten; das Königreich im übrigen gab sie preis. Nach
peinlichen Warten kam endlich um fünf Uhr der Schnellzug, lind aufatmend
fuhr ich nach Kassel ab, in eine zunächst völlig dunkle Zukunft hinaus.




vor vierzig Jahren

Inzwischen meldete eine neue Depesche den Einmarsch der Preußen auch von
Minden her, und Reisende, die von Norden ankamen, erzählten, sie hätten ihre
Kolonnen zwischen Hnrburg und Hannover gesehen. Und dann, um zehn Uhr,
kam der erste Zug, der hannöversche Truppen brachte, schmucke Gardejäger;
mit klingendem Spiele, von Tausenden begrüßt, marschierte» sie in die Stadt.
Gegen elf Uhr kam ein zweiter Zug. Mein Wirt erhielt vier Mann Ein¬
quartierung; unterwegs erfuhr ich, die Preußen seien auch bei Marburg in
Hessen eingerückt. So ging es bis nach Mitternacht. In der größten Auf¬
regung schrieb ich an meinen Vater, ich wolle morgen abreisen; wie ich mich
nach der Heimat, von deren Schicksal in diesen Tagen ich gar nichts wußte
— denn die Verbindungen waren schon unterbrochen —, durchschlagen werde,
wisse ich freilich nicht.

Ani nächsten Morgen, Sonnabends, um sechs Uhr weckte mich mein Wichsier
mit der Nachricht, soeben sei der König Georg mit dem Kronprinzen ge¬
kommen und in der Goldner Krone, wenig Schritte von meiner Wohnung,
abgestiegen; die ganze Stadt sei schon voll von Militär. Und nun kamen den
ganzen Vormittag neue Bataillone die Weender Straße heraumarschiert, prächtige
Truppen, stattliche, hochgewachsne, blonde Leute, echte Niedersachsen; mit
klingendem Spiele begrüßten sie ihren blinden König, der am Fenster stand.
Welch ein Jammer, daß er sie in den Bürgerkrieg schickte! Sie waren oft den
ganzen vorhergehenden Tag marschiert, hatten unterwegs kaum etwas be¬
kommen, wußten nicht, wohin. Aber sie zeigten sich entschlossen, mutig und
ernst. Mai? hatte ihnen, wohl mit Absicht, vorgelogen, die Preußen Hütten
die Waterloosäule in Hannover (das sie noch gar nicht besetzt hatten!) zerstört;
sie waren darüber tief erbittert, und man konnte sie sagen hören: „Lieber in
den Tod als mit den Preußen!" Doch schon begann man davon zu sprechen,
daß sie abgeschnitten werden könnten, denn die Nachricht verbreitete sich, der
Kurfürst von Hessen habe das preußische Ultimatum angenommen, und Kassel
sei schon in den Händen der Preußen. Daraufhin beschloß ich, da ich befürchten
mußte, daß die Verbindungen nach Norden bald abgeschnitten werden würden,
über Kassel und Eisenach nach Leipzig abzureisen, wohin kurz nach drei Uhr ein
Schnellzug abgehn sollte. Ich fand den Bahnhof erfüllt mit ankommenden
Militär und Geschützen und hörte so manches, was auf große Verwirrung und
Mangel an Schlagfertigkeit schließen ließ; so viel war klar, daß sich die han-
növersche Armee vorläufig um Göttingen sammeln mußte, um sich für den Kampf
einigermaßen vorzubereiten; das Königreich im übrigen gab sie preis. Nach
peinlichen Warten kam endlich um fünf Uhr der Schnellzug, lind aufatmend
fuhr ich nach Kassel ab, in eine zunächst völlig dunkle Zukunft hinaus.




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[0312] vor vierzig Jahren Inzwischen meldete eine neue Depesche den Einmarsch der Preußen auch von Minden her, und Reisende, die von Norden ankamen, erzählten, sie hätten ihre Kolonnen zwischen Hnrburg und Hannover gesehen. Und dann, um zehn Uhr, kam der erste Zug, der hannöversche Truppen brachte, schmucke Gardejäger; mit klingendem Spiele, von Tausenden begrüßt, marschierte» sie in die Stadt. Gegen elf Uhr kam ein zweiter Zug. Mein Wirt erhielt vier Mann Ein¬ quartierung; unterwegs erfuhr ich, die Preußen seien auch bei Marburg in Hessen eingerückt. So ging es bis nach Mitternacht. In der größten Auf¬ regung schrieb ich an meinen Vater, ich wolle morgen abreisen; wie ich mich nach der Heimat, von deren Schicksal in diesen Tagen ich gar nichts wußte — denn die Verbindungen waren schon unterbrochen —, durchschlagen werde, wisse ich freilich nicht. Ani nächsten Morgen, Sonnabends, um sechs Uhr weckte mich mein Wichsier mit der Nachricht, soeben sei der König Georg mit dem Kronprinzen ge¬ kommen und in der Goldner Krone, wenig Schritte von meiner Wohnung, abgestiegen; die ganze Stadt sei schon voll von Militär. Und nun kamen den ganzen Vormittag neue Bataillone die Weender Straße heraumarschiert, prächtige Truppen, stattliche, hochgewachsne, blonde Leute, echte Niedersachsen; mit klingendem Spiele begrüßten sie ihren blinden König, der am Fenster stand. Welch ein Jammer, daß er sie in den Bürgerkrieg schickte! Sie waren oft den ganzen vorhergehenden Tag marschiert, hatten unterwegs kaum etwas be¬ kommen, wußten nicht, wohin. Aber sie zeigten sich entschlossen, mutig und ernst. Mai? hatte ihnen, wohl mit Absicht, vorgelogen, die Preußen Hütten die Waterloosäule in Hannover (das sie noch gar nicht besetzt hatten!) zerstört; sie waren darüber tief erbittert, und man konnte sie sagen hören: „Lieber in den Tod als mit den Preußen!" Doch schon begann man davon zu sprechen, daß sie abgeschnitten werden könnten, denn die Nachricht verbreitete sich, der Kurfürst von Hessen habe das preußische Ultimatum angenommen, und Kassel sei schon in den Händen der Preußen. Daraufhin beschloß ich, da ich befürchten mußte, daß die Verbindungen nach Norden bald abgeschnitten werden würden, über Kassel und Eisenach nach Leipzig abzureisen, wohin kurz nach drei Uhr ein Schnellzug abgehn sollte. Ich fand den Bahnhof erfüllt mit ankommenden Militär und Geschützen und hörte so manches, was auf große Verwirrung und Mangel an Schlagfertigkeit schließen ließ; so viel war klar, daß sich die han- növersche Armee vorläufig um Göttingen sammeln mußte, um sich für den Kampf einigermaßen vorzubereiten; das Königreich im übrigen gab sie preis. Nach peinlichen Warten kam endlich um fünf Uhr der Schnellzug, lind aufatmend fuhr ich nach Kassel ab, in eine zunächst völlig dunkle Zukunft hinaus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/312>, abgerufen am 16.05.2024.