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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur

eignes Herz, das nunmehr erwacht ist und eine deutliche Sprache redet. So
zerreißt sie mutwillig die feinen Fäden, mit denen sie einen reichen, doch
geistig unter ihr stehenden Freier gefesselt hielt, und läßt sich von ihren, Gefühl
treiben.

Dies ist in dem Kreise ihrer sogenannten Freunde das Schlimmste, was
sie tun kann. Denn diese sind in so hohem Grade kultiviert, daß sie für der¬
gleichen kein Verständnis mehr haben. Die Männer finden die Würze des
Lebens in den Aufregungen des Börsenspiels und verbringen ihre Mußestunden
in grob sinnlichem Genießen, wobei jede edlere Regung in ihnen abstumpft.
Gus Tremor, den Mrs. Wharton als Repräsentanten dieser Klasse besonders in
den Vordergrund gerückt hat, zeigt auch in seinem Äußern die deutlichen Merk¬
male der innern Roheit, die die Folge eines nur nach materiellem Wohlleben
gierigen Daseins ist. Seine Frau scheint, wie die Verfasserin treffend bemerkt,
nur als Wirtin zu existieren. Das einzige Gefühl, dessen sie noch fähig ist,
ist eine gelegentliche Regung des Hasses, wenn eine ihrer Freundinnen ein
glänzenderes Diner gegeben hat als sie selbst. Die Pflichten gegen ihren
Gatten glaubt sie hinreichend zu erfüllen, wenn sie Damen einladet, die ihn
amüsieren. Dies ist keine allzuleichte Aufgabe, denn es gehört viel Selbst¬
verleugnung dazu, seine zum Überdruß oft wiederholten Anekdoten immer wieder
komisch zu finden. Mrs. Tremor wundert sich darum nicht weiter, daß die be¬
treffenden Damen für ihre Mühe auch einen klingenden Lohn erwarten, und
ist mit diesem Arrangement ganz einverstanden, solange sich ihres Mannes Er¬
kenntlichkeit in angemessenen Grenzen hält und die mit seiner Gunst Beglückte
eine verheiratete Frau und darum ungefährlich ist. - Als aber Lily Bart, die
dauernd in Geldverlegenheiten ist und Gus Tremor gebeten hat, für sie zu spe¬
kulieren, unter diesem Vorwand einen Tausenddollarschein nach dem andern
empfängt, wittert Mrs. Tremor doch Gefahr und ladet Lily nicht wieder ein. Erst
allmählich durchschaut das Mädchen die wahre Sachlage, und schließlich läßt ihr
Tremor keinen Zweifel mehr, welchen Dank er für seine Freigebigkeit erwartet.

In einem Kreise, der sich über die elementarsten ethischen Begriffe erhaben
dünkt, können solche Konflikte kaum überraschen. Die Anklage, daß Mitglieder
der tonangebenden Gesellschaft zu jeder Gefälligkeit bereit seien, sofern die ge-
botne Geldentschädigung ihren Erwartungen entspricht, ist von sensationslüsternen
Schriftstellern in Amerika wie auch in England oft erhoben worden. Mrs. Wharton
schildert diese ungesunden Verhältnisse mit leidenschaftsloser Ruhe. Der ganze
Ton des Buches ist ernst gehalten, jeder aufdringliche Effekt ist vermieden. Diese
Art der Darstellung aber drückt der Erzählung den Stempel der Wahrheit auf.
Der Leser fühlt, daß sein Urteil nicht durch tendenziös übertriebne Hirngespinste
gefangen genommen werden soll, sondern daß hier Tatsachen zugrunde liegen
müssen.

Die erwähnte Käuflichkeit einzelner Personen aus den höhern Gesellschafts¬
schichten ist ja nur ein Glied in der Kette vieler ähnlicher Zeichen, die auf das


Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur

eignes Herz, das nunmehr erwacht ist und eine deutliche Sprache redet. So
zerreißt sie mutwillig die feinen Fäden, mit denen sie einen reichen, doch
geistig unter ihr stehenden Freier gefesselt hielt, und läßt sich von ihren, Gefühl
treiben.

Dies ist in dem Kreise ihrer sogenannten Freunde das Schlimmste, was
sie tun kann. Denn diese sind in so hohem Grade kultiviert, daß sie für der¬
gleichen kein Verständnis mehr haben. Die Männer finden die Würze des
Lebens in den Aufregungen des Börsenspiels und verbringen ihre Mußestunden
in grob sinnlichem Genießen, wobei jede edlere Regung in ihnen abstumpft.
Gus Tremor, den Mrs. Wharton als Repräsentanten dieser Klasse besonders in
den Vordergrund gerückt hat, zeigt auch in seinem Äußern die deutlichen Merk¬
male der innern Roheit, die die Folge eines nur nach materiellem Wohlleben
gierigen Daseins ist. Seine Frau scheint, wie die Verfasserin treffend bemerkt,
nur als Wirtin zu existieren. Das einzige Gefühl, dessen sie noch fähig ist,
ist eine gelegentliche Regung des Hasses, wenn eine ihrer Freundinnen ein
glänzenderes Diner gegeben hat als sie selbst. Die Pflichten gegen ihren
Gatten glaubt sie hinreichend zu erfüllen, wenn sie Damen einladet, die ihn
amüsieren. Dies ist keine allzuleichte Aufgabe, denn es gehört viel Selbst¬
verleugnung dazu, seine zum Überdruß oft wiederholten Anekdoten immer wieder
komisch zu finden. Mrs. Tremor wundert sich darum nicht weiter, daß die be¬
treffenden Damen für ihre Mühe auch einen klingenden Lohn erwarten, und
ist mit diesem Arrangement ganz einverstanden, solange sich ihres Mannes Er¬
kenntlichkeit in angemessenen Grenzen hält und die mit seiner Gunst Beglückte
eine verheiratete Frau und darum ungefährlich ist. - Als aber Lily Bart, die
dauernd in Geldverlegenheiten ist und Gus Tremor gebeten hat, für sie zu spe¬
kulieren, unter diesem Vorwand einen Tausenddollarschein nach dem andern
empfängt, wittert Mrs. Tremor doch Gefahr und ladet Lily nicht wieder ein. Erst
allmählich durchschaut das Mädchen die wahre Sachlage, und schließlich läßt ihr
Tremor keinen Zweifel mehr, welchen Dank er für seine Freigebigkeit erwartet.

In einem Kreise, der sich über die elementarsten ethischen Begriffe erhaben
dünkt, können solche Konflikte kaum überraschen. Die Anklage, daß Mitglieder
der tonangebenden Gesellschaft zu jeder Gefälligkeit bereit seien, sofern die ge-
botne Geldentschädigung ihren Erwartungen entspricht, ist von sensationslüsternen
Schriftstellern in Amerika wie auch in England oft erhoben worden. Mrs. Wharton
schildert diese ungesunden Verhältnisse mit leidenschaftsloser Ruhe. Der ganze
Ton des Buches ist ernst gehalten, jeder aufdringliche Effekt ist vermieden. Diese
Art der Darstellung aber drückt der Erzählung den Stempel der Wahrheit auf.
Der Leser fühlt, daß sein Urteil nicht durch tendenziös übertriebne Hirngespinste
gefangen genommen werden soll, sondern daß hier Tatsachen zugrunde liegen
müssen.

Die erwähnte Käuflichkeit einzelner Personen aus den höhern Gesellschafts¬
schichten ist ja nur ein Glied in der Kette vieler ähnlicher Zeichen, die auf das


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[0318] Materialistische Strömungen in der amerikanischen Literatur eignes Herz, das nunmehr erwacht ist und eine deutliche Sprache redet. So zerreißt sie mutwillig die feinen Fäden, mit denen sie einen reichen, doch geistig unter ihr stehenden Freier gefesselt hielt, und läßt sich von ihren, Gefühl treiben. Dies ist in dem Kreise ihrer sogenannten Freunde das Schlimmste, was sie tun kann. Denn diese sind in so hohem Grade kultiviert, daß sie für der¬ gleichen kein Verständnis mehr haben. Die Männer finden die Würze des Lebens in den Aufregungen des Börsenspiels und verbringen ihre Mußestunden in grob sinnlichem Genießen, wobei jede edlere Regung in ihnen abstumpft. Gus Tremor, den Mrs. Wharton als Repräsentanten dieser Klasse besonders in den Vordergrund gerückt hat, zeigt auch in seinem Äußern die deutlichen Merk¬ male der innern Roheit, die die Folge eines nur nach materiellem Wohlleben gierigen Daseins ist. Seine Frau scheint, wie die Verfasserin treffend bemerkt, nur als Wirtin zu existieren. Das einzige Gefühl, dessen sie noch fähig ist, ist eine gelegentliche Regung des Hasses, wenn eine ihrer Freundinnen ein glänzenderes Diner gegeben hat als sie selbst. Die Pflichten gegen ihren Gatten glaubt sie hinreichend zu erfüllen, wenn sie Damen einladet, die ihn amüsieren. Dies ist keine allzuleichte Aufgabe, denn es gehört viel Selbst¬ verleugnung dazu, seine zum Überdruß oft wiederholten Anekdoten immer wieder komisch zu finden. Mrs. Tremor wundert sich darum nicht weiter, daß die be¬ treffenden Damen für ihre Mühe auch einen klingenden Lohn erwarten, und ist mit diesem Arrangement ganz einverstanden, solange sich ihres Mannes Er¬ kenntlichkeit in angemessenen Grenzen hält und die mit seiner Gunst Beglückte eine verheiratete Frau und darum ungefährlich ist. - Als aber Lily Bart, die dauernd in Geldverlegenheiten ist und Gus Tremor gebeten hat, für sie zu spe¬ kulieren, unter diesem Vorwand einen Tausenddollarschein nach dem andern empfängt, wittert Mrs. Tremor doch Gefahr und ladet Lily nicht wieder ein. Erst allmählich durchschaut das Mädchen die wahre Sachlage, und schließlich läßt ihr Tremor keinen Zweifel mehr, welchen Dank er für seine Freigebigkeit erwartet. In einem Kreise, der sich über die elementarsten ethischen Begriffe erhaben dünkt, können solche Konflikte kaum überraschen. Die Anklage, daß Mitglieder der tonangebenden Gesellschaft zu jeder Gefälligkeit bereit seien, sofern die ge- botne Geldentschädigung ihren Erwartungen entspricht, ist von sensationslüsternen Schriftstellern in Amerika wie auch in England oft erhoben worden. Mrs. Wharton schildert diese ungesunden Verhältnisse mit leidenschaftsloser Ruhe. Der ganze Ton des Buches ist ernst gehalten, jeder aufdringliche Effekt ist vermieden. Diese Art der Darstellung aber drückt der Erzählung den Stempel der Wahrheit auf. Der Leser fühlt, daß sein Urteil nicht durch tendenziös übertriebne Hirngespinste gefangen genommen werden soll, sondern daß hier Tatsachen zugrunde liegen müssen. Die erwähnte Käuflichkeit einzelner Personen aus den höhern Gesellschafts¬ schichten ist ja nur ein Glied in der Kette vieler ähnlicher Zeichen, die auf das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/318>, abgerufen am 05.06.2024.