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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Heimatsehnsucht

Die Mutter strich ihm über den kurzgeschornen, peinlich sauber gehaltnen dunkeln
Kopf und fragte zwischen Lächeln und Bitternis: Was denn zum Beispiel, Toni?

Na -- so am Hafen rumlungern und rauchen und ausspucken --- und die
Bücklinge aus der Hand fres.. .

Ein Klaps auf den Mund ließ den Herzenserguß des neunjährigen nicht zu
Ende kommen. i

Aber pfui, Buhl! ,

Na ja doch, Mulli -- wenn wir nu doch mal Butjers sein sollen, denn auch
gleich ordentlich! sagte der kleine Kerl ernsthaft bei seiner Meinung beharrend.

Mit seiner Zwillingsschwester Anneliese ging es nicht viel anders. Sie brachte
zuweilen eine kleine Schulkameradin mit, die Tochter eines Schaffners, ein be¬
scheidnes artiges Kind, mit der die Mutter sie gern spielen ließ. Als der Ge¬
burtstag der kleinen Freundin kam, gab Anneliese nicht Ruh mit Bitten und
Betteln, bis die Mutter ihr erlaubte, der Einladung zu Schokolade und Kuchen
zu folgen. Strahlend, mit einem Blumensträußchen und einem prächtigen Märchen¬
buch bewaffnet, zog sie ab -- und kam sehr zeitig und in niedergeschlagner
Stimmung heim.

Na, hast dich gut amüsiert? fragten die Brüder neugierig, und auch die Mutter
erkundigte sich, ob das Buch Frida gefallen hätte.

M -- ja --. Erst bei der Abendmilch wurde Anneliese gesprächiger. Fridas
Mama hatte das Buch gleich weggelegt und gemeint, das wär ja doch alles Un¬
sinn, was in den Büchern stund, und vom Lesen würd ihre Frida bloß drühnig
im Kopf. -- Und denk mal, Mutter, kein Tischtuch hatten sie, und alle Tassen
waren kaputt. Und die Schokolade schmeckte so komisch -- Frida meinte, das käm
wohl, weil ihre Mama Mittags Speck und Erbsen in dem Topf gekocht hatte. Und
die kleinen Kinder hatten schmutzige Nasen und leckten am Kuchen und legten ihn
wieder auf den Teller. Ecks -- da mag ich nicht wieder hin.

Mit der Freundschaft für Frida war es fortan trotz allen mütterlichen Zu¬
redens vorbei. Anneliese, sonst so gutherzig und verträglich, war ein mehr als
sauberes kleines Persönchen und konnte über den gewissen physischen Ekel vor Leuten,
die weniger peinlich gewöhnt waren, nicht hinweg. Und seitdem ihr Blick einmal
für dergleichen fatale kleine Schwächen geschärft war, litt sie körperlich und seelisch
unter manchen Angewohnheiten ihrer Mitschülerinnen. Das verdarb ihr die Lust
an der Schule, und das sonst so lernfrohe Kind ging nur noch mit äußerstem
Widerstreben hin, weil es instinktiv den gewaltigen Unterschied zwischen Schule und
Haus herausfühlte.

Angesichts dieser Erfahrungen wollte Frau Maria oft die Geduld verlieren,
aber wieder war es Hans Recklinghaus, der sie tröstete: Einmal müsse das Schul¬
jahr ja doch zu Ende gehn, und sobald die Kinder wieder in bessere Umgebung
kämen, würden sich die kleinen Ungezogenheiten der Freischule ganz von selbst
verlieren.

(Fortsetzung folgt)




Heimatsehnsucht

Die Mutter strich ihm über den kurzgeschornen, peinlich sauber gehaltnen dunkeln
Kopf und fragte zwischen Lächeln und Bitternis: Was denn zum Beispiel, Toni?

Na — so am Hafen rumlungern und rauchen und ausspucken -— und die
Bücklinge aus der Hand fres.. .

Ein Klaps auf den Mund ließ den Herzenserguß des neunjährigen nicht zu
Ende kommen. i

Aber pfui, Buhl! ,

Na ja doch, Mulli — wenn wir nu doch mal Butjers sein sollen, denn auch
gleich ordentlich! sagte der kleine Kerl ernsthaft bei seiner Meinung beharrend.

Mit seiner Zwillingsschwester Anneliese ging es nicht viel anders. Sie brachte
zuweilen eine kleine Schulkameradin mit, die Tochter eines Schaffners, ein be¬
scheidnes artiges Kind, mit der die Mutter sie gern spielen ließ. Als der Ge¬
burtstag der kleinen Freundin kam, gab Anneliese nicht Ruh mit Bitten und
Betteln, bis die Mutter ihr erlaubte, der Einladung zu Schokolade und Kuchen
zu folgen. Strahlend, mit einem Blumensträußchen und einem prächtigen Märchen¬
buch bewaffnet, zog sie ab — und kam sehr zeitig und in niedergeschlagner
Stimmung heim.

Na, hast dich gut amüsiert? fragten die Brüder neugierig, und auch die Mutter
erkundigte sich, ob das Buch Frida gefallen hätte.

M — ja —. Erst bei der Abendmilch wurde Anneliese gesprächiger. Fridas
Mama hatte das Buch gleich weggelegt und gemeint, das wär ja doch alles Un¬
sinn, was in den Büchern stund, und vom Lesen würd ihre Frida bloß drühnig
im Kopf. — Und denk mal, Mutter, kein Tischtuch hatten sie, und alle Tassen
waren kaputt. Und die Schokolade schmeckte so komisch — Frida meinte, das käm
wohl, weil ihre Mama Mittags Speck und Erbsen in dem Topf gekocht hatte. Und
die kleinen Kinder hatten schmutzige Nasen und leckten am Kuchen und legten ihn
wieder auf den Teller. Ecks — da mag ich nicht wieder hin.

Mit der Freundschaft für Frida war es fortan trotz allen mütterlichen Zu¬
redens vorbei. Anneliese, sonst so gutherzig und verträglich, war ein mehr als
sauberes kleines Persönchen und konnte über den gewissen physischen Ekel vor Leuten,
die weniger peinlich gewöhnt waren, nicht hinweg. Und seitdem ihr Blick einmal
für dergleichen fatale kleine Schwächen geschärft war, litt sie körperlich und seelisch
unter manchen Angewohnheiten ihrer Mitschülerinnen. Das verdarb ihr die Lust
an der Schule, und das sonst so lernfrohe Kind ging nur noch mit äußerstem
Widerstreben hin, weil es instinktiv den gewaltigen Unterschied zwischen Schule und
Haus herausfühlte.

Angesichts dieser Erfahrungen wollte Frau Maria oft die Geduld verlieren,
aber wieder war es Hans Recklinghaus, der sie tröstete: Einmal müsse das Schul¬
jahr ja doch zu Ende gehn, und sobald die Kinder wieder in bessere Umgebung
kämen, würden sich die kleinen Ungezogenheiten der Freischule ganz von selbst
verlieren.

(Fortsetzung folgt)




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[0334] Heimatsehnsucht Die Mutter strich ihm über den kurzgeschornen, peinlich sauber gehaltnen dunkeln Kopf und fragte zwischen Lächeln und Bitternis: Was denn zum Beispiel, Toni? Na — so am Hafen rumlungern und rauchen und ausspucken -— und die Bücklinge aus der Hand fres.. . Ein Klaps auf den Mund ließ den Herzenserguß des neunjährigen nicht zu Ende kommen. i Aber pfui, Buhl! , Na ja doch, Mulli — wenn wir nu doch mal Butjers sein sollen, denn auch gleich ordentlich! sagte der kleine Kerl ernsthaft bei seiner Meinung beharrend. Mit seiner Zwillingsschwester Anneliese ging es nicht viel anders. Sie brachte zuweilen eine kleine Schulkameradin mit, die Tochter eines Schaffners, ein be¬ scheidnes artiges Kind, mit der die Mutter sie gern spielen ließ. Als der Ge¬ burtstag der kleinen Freundin kam, gab Anneliese nicht Ruh mit Bitten und Betteln, bis die Mutter ihr erlaubte, der Einladung zu Schokolade und Kuchen zu folgen. Strahlend, mit einem Blumensträußchen und einem prächtigen Märchen¬ buch bewaffnet, zog sie ab — und kam sehr zeitig und in niedergeschlagner Stimmung heim. Na, hast dich gut amüsiert? fragten die Brüder neugierig, und auch die Mutter erkundigte sich, ob das Buch Frida gefallen hätte. M — ja —. Erst bei der Abendmilch wurde Anneliese gesprächiger. Fridas Mama hatte das Buch gleich weggelegt und gemeint, das wär ja doch alles Un¬ sinn, was in den Büchern stund, und vom Lesen würd ihre Frida bloß drühnig im Kopf. — Und denk mal, Mutter, kein Tischtuch hatten sie, und alle Tassen waren kaputt. Und die Schokolade schmeckte so komisch — Frida meinte, das käm wohl, weil ihre Mama Mittags Speck und Erbsen in dem Topf gekocht hatte. Und die kleinen Kinder hatten schmutzige Nasen und leckten am Kuchen und legten ihn wieder auf den Teller. Ecks — da mag ich nicht wieder hin. Mit der Freundschaft für Frida war es fortan trotz allen mütterlichen Zu¬ redens vorbei. Anneliese, sonst so gutherzig und verträglich, war ein mehr als sauberes kleines Persönchen und konnte über den gewissen physischen Ekel vor Leuten, die weniger peinlich gewöhnt waren, nicht hinweg. Und seitdem ihr Blick einmal für dergleichen fatale kleine Schwächen geschärft war, litt sie körperlich und seelisch unter manchen Angewohnheiten ihrer Mitschülerinnen. Das verdarb ihr die Lust an der Schule, und das sonst so lernfrohe Kind ging nur noch mit äußerstem Widerstreben hin, weil es instinktiv den gewaltigen Unterschied zwischen Schule und Haus herausfühlte. Angesichts dieser Erfahrungen wollte Frau Maria oft die Geduld verlieren, aber wieder war es Hans Recklinghaus, der sie tröstete: Einmal müsse das Schul¬ jahr ja doch zu Ende gehn, und sobald die Kinder wieder in bessere Umgebung kämen, würden sich die kleinen Ungezogenheiten der Freischule ganz von selbst verlieren. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/334>, abgerufen am 15.05.2024.