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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Russische Briefe

nichts übrig bleiben, als ein Kadettenministerium bilden zu lassen. Daß aber
das Ministerium bleiben könnte oder gar wagen würde, die Duma aufzulösen,
daran dachten nur wenige. Während dieses heimlichen aber erbitterten Kampfes
Zwischen den Kadetten und dem Kabinett bereiteten sich die Revolutionäre in
der Duma für alle Möglichkeiten vor. Die "Arbeitsgruppe" machte sich zur
Zentrale für die Organisation der Landbevölkerung. In den Gouvernements
fuhren Agitatoren -- darunter viele Abgeordnete -- von Stadt zu Stadt und
l>on Dorf zu Dorf und belehrten das Volk über die Bedeutung des Agrar-
entwurfs. Sollte er abgelehnt werden, dann sollte der Aufstand losbrechen,
und Gutsbesitzer und Fabrikanten sollten davongejagt werden. Man rechnete
damit, Mitte September losschlagen zu können. Für den Fall der Annahme
des Gesetzentwurfs sollten sich die Bauern "mit friedlichen Mitteln der ihnen
zustehenden Gutsländereien bemächtigen. Eure Abgeordneten sind mit euch!"

Alles in allem ging eine ungestüme, Besorgnis erregende Arbeit vor sich,
^e schien Erfolg zu haben. Ans der Provinz liefen Hunderte von Adressen ein,
^e mit Hunderten und Tausenden von Namen bedeckt waren, und die hier in
Petersburg den Eindruck hervorrufen sollten, als warteten Millionen Bauern
uur auf das Zeichen der Dnma. Dann würden sie die Sensen gerade schmieden
und gegen die Gutshöfe zu marschieren! In und um Petersburg versuchten
dle Abgeordneten, sich vor allen Dingen Eingang bei den Garderegimentem
Zu verschaffen, während andre Agitatoren ans die Arbeiterschaft wirkten. An
Sonn- und Feiertagen fanden Dutzende von Meetings statt, die aber haupt¬
sachlich von harmlosen Sommergästen der Datschenorte, Weibern und Kindern
'esucht wurden und mehr den Charakter einer lustigen Schaustellung als den
politischer Agitation trugen.

Schlimm sah es freilich an der Wolga, im Südwcstgebiet, in Kronstäbe
und in Sweaborg aus.

Der Vizegouverueur vou Woronesh, Koch, telegraphierte am 27. Juni n.Se.
°" den Abgeordneten Kusmin-Karawajew:

Im Namen der Liebe zum vielgeprüften Volk flehen wir die Duma an,
wen Aufruf an das Volk zu erlassen. Fordert sie zur Geduld und zum festen
Dauben an die fruchtbringende Tätigkeit der Duma auf. Die sinkende Hoffnung
'U'd aussichtlose Not treiben sie in den Wahnsinn. Eben bin ich von Agrarunruhen
zurückgekehrt. Mein Herz zuckt zusammen vor dem Erlebten. Kaum kann ich Trn'nen
zurückhalten. Nur durch Freundlichkeit und Liebe kann man dem bevorstehenden
^uitvergießen vorbeuge", davon habe ich mich überzeugt. Ein andres Mittel gibt
nicht Vizegouverneur Koch . Eilen Sie. Erbarmen Sie sich der Heimat.

Wenn schon ein Vertreter der Regierungsgewalt so verzagt dreinschaut,
dann gewinnt ein Rundschreiben des "Hauptbureaus im südlichen Rayon des
Allrussischen Bauernbundes" doppelte Bedeutung. Es heißt darin:

. Laßt in jedem Dorf Versammlungen abhalten; wo das aber nicht möglich
l^u sollte, laßt die zielbewußter Bauern zu geheimen Zusammenkünften zusammen-


^renzboten IV 1900 46
Russische Briefe

nichts übrig bleiben, als ein Kadettenministerium bilden zu lassen. Daß aber
das Ministerium bleiben könnte oder gar wagen würde, die Duma aufzulösen,
daran dachten nur wenige. Während dieses heimlichen aber erbitterten Kampfes
Zwischen den Kadetten und dem Kabinett bereiteten sich die Revolutionäre in
der Duma für alle Möglichkeiten vor. Die „Arbeitsgruppe" machte sich zur
Zentrale für die Organisation der Landbevölkerung. In den Gouvernements
fuhren Agitatoren — darunter viele Abgeordnete — von Stadt zu Stadt und
l>on Dorf zu Dorf und belehrten das Volk über die Bedeutung des Agrar-
entwurfs. Sollte er abgelehnt werden, dann sollte der Aufstand losbrechen,
und Gutsbesitzer und Fabrikanten sollten davongejagt werden. Man rechnete
damit, Mitte September losschlagen zu können. Für den Fall der Annahme
des Gesetzentwurfs sollten sich die Bauern „mit friedlichen Mitteln der ihnen
zustehenden Gutsländereien bemächtigen. Eure Abgeordneten sind mit euch!"

Alles in allem ging eine ungestüme, Besorgnis erregende Arbeit vor sich,
^e schien Erfolg zu haben. Ans der Provinz liefen Hunderte von Adressen ein,
^e mit Hunderten und Tausenden von Namen bedeckt waren, und die hier in
Petersburg den Eindruck hervorrufen sollten, als warteten Millionen Bauern
uur auf das Zeichen der Dnma. Dann würden sie die Sensen gerade schmieden
und gegen die Gutshöfe zu marschieren! In und um Petersburg versuchten
dle Abgeordneten, sich vor allen Dingen Eingang bei den Garderegimentem
Zu verschaffen, während andre Agitatoren ans die Arbeiterschaft wirkten. An
Sonn- und Feiertagen fanden Dutzende von Meetings statt, die aber haupt¬
sachlich von harmlosen Sommergästen der Datschenorte, Weibern und Kindern
'esucht wurden und mehr den Charakter einer lustigen Schaustellung als den
politischer Agitation trugen.

Schlimm sah es freilich an der Wolga, im Südwcstgebiet, in Kronstäbe
und in Sweaborg aus.

Der Vizegouverueur vou Woronesh, Koch, telegraphierte am 27. Juni n.Se.
°" den Abgeordneten Kusmin-Karawajew:

Im Namen der Liebe zum vielgeprüften Volk flehen wir die Duma an,
wen Aufruf an das Volk zu erlassen. Fordert sie zur Geduld und zum festen
Dauben an die fruchtbringende Tätigkeit der Duma auf. Die sinkende Hoffnung
'U'd aussichtlose Not treiben sie in den Wahnsinn. Eben bin ich von Agrarunruhen
zurückgekehrt. Mein Herz zuckt zusammen vor dem Erlebten. Kaum kann ich Trn'nen
zurückhalten. Nur durch Freundlichkeit und Liebe kann man dem bevorstehenden
^uitvergießen vorbeuge», davon habe ich mich überzeugt. Ein andres Mittel gibt
nicht Vizegouverneur Koch . Eilen Sie. Erbarmen Sie sich der Heimat.

Wenn schon ein Vertreter der Regierungsgewalt so verzagt dreinschaut,
dann gewinnt ein Rundschreiben des „Hauptbureaus im südlichen Rayon des
Allrussischen Bauernbundes" doppelte Bedeutung. Es heißt darin:

. Laßt in jedem Dorf Versammlungen abhalten; wo das aber nicht möglich
l^u sollte, laßt die zielbewußter Bauern zu geheimen Zusammenkünften zusammen-


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[0357] Russische Briefe nichts übrig bleiben, als ein Kadettenministerium bilden zu lassen. Daß aber das Ministerium bleiben könnte oder gar wagen würde, die Duma aufzulösen, daran dachten nur wenige. Während dieses heimlichen aber erbitterten Kampfes Zwischen den Kadetten und dem Kabinett bereiteten sich die Revolutionäre in der Duma für alle Möglichkeiten vor. Die „Arbeitsgruppe" machte sich zur Zentrale für die Organisation der Landbevölkerung. In den Gouvernements fuhren Agitatoren — darunter viele Abgeordnete — von Stadt zu Stadt und l>on Dorf zu Dorf und belehrten das Volk über die Bedeutung des Agrar- entwurfs. Sollte er abgelehnt werden, dann sollte der Aufstand losbrechen, und Gutsbesitzer und Fabrikanten sollten davongejagt werden. Man rechnete damit, Mitte September losschlagen zu können. Für den Fall der Annahme des Gesetzentwurfs sollten sich die Bauern „mit friedlichen Mitteln der ihnen zustehenden Gutsländereien bemächtigen. Eure Abgeordneten sind mit euch!" Alles in allem ging eine ungestüme, Besorgnis erregende Arbeit vor sich, ^e schien Erfolg zu haben. Ans der Provinz liefen Hunderte von Adressen ein, ^e mit Hunderten und Tausenden von Namen bedeckt waren, und die hier in Petersburg den Eindruck hervorrufen sollten, als warteten Millionen Bauern uur auf das Zeichen der Dnma. Dann würden sie die Sensen gerade schmieden und gegen die Gutshöfe zu marschieren! In und um Petersburg versuchten dle Abgeordneten, sich vor allen Dingen Eingang bei den Garderegimentem Zu verschaffen, während andre Agitatoren ans die Arbeiterschaft wirkten. An Sonn- und Feiertagen fanden Dutzende von Meetings statt, die aber haupt¬ sachlich von harmlosen Sommergästen der Datschenorte, Weibern und Kindern 'esucht wurden und mehr den Charakter einer lustigen Schaustellung als den politischer Agitation trugen. Schlimm sah es freilich an der Wolga, im Südwcstgebiet, in Kronstäbe und in Sweaborg aus. Der Vizegouverueur vou Woronesh, Koch, telegraphierte am 27. Juni n.Se. °" den Abgeordneten Kusmin-Karawajew: Im Namen der Liebe zum vielgeprüften Volk flehen wir die Duma an, wen Aufruf an das Volk zu erlassen. Fordert sie zur Geduld und zum festen Dauben an die fruchtbringende Tätigkeit der Duma auf. Die sinkende Hoffnung 'U'd aussichtlose Not treiben sie in den Wahnsinn. Eben bin ich von Agrarunruhen zurückgekehrt. Mein Herz zuckt zusammen vor dem Erlebten. Kaum kann ich Trn'nen zurückhalten. Nur durch Freundlichkeit und Liebe kann man dem bevorstehenden ^uitvergießen vorbeuge», davon habe ich mich überzeugt. Ein andres Mittel gibt nicht Vizegouverneur Koch . Eilen Sie. Erbarmen Sie sich der Heimat. Wenn schon ein Vertreter der Regierungsgewalt so verzagt dreinschaut, dann gewinnt ein Rundschreiben des „Hauptbureaus im südlichen Rayon des Allrussischen Bauernbundes" doppelte Bedeutung. Es heißt darin: . Laßt in jedem Dorf Versammlungen abhalten; wo das aber nicht möglich l^u sollte, laßt die zielbewußter Bauern zu geheimen Zusammenkünften zusammen- ^renzboten IV 1900 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/357>, abgerufen am 31.05.2024.